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Ausgabe:

1910 Nr. 15

Spalte:

476-477

Autor/Hrsg.:

Bonwetsch, N. (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Briefe an Johann Heinrich Kurtz, zu dessen 100. Geburtstag hrsg 1910

Rezensent:

Hans, Julius

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475

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 15.

476

Sakmann, Paul, Voltaires Geittesart und Gedankenwelt.

Stuttgart, F. Frommann 1910. (VIII, 383 S.) gr. 8°

M. 6.80; geb. M. 8 —

Der Verfaffer, der fich fchon durch eine große
Anzahl von Einzeldudien als Voltaireforfcher bekannt
gemacht hat, faßt in diefer großzügigen Monographie
feine Arbeiten fyftematifch zufammen und gibt ein
Charakterbild Voltaires, das in manchem von der gewöhnlichen
Beurteilung abweicht. Der erde Teil von
IOO S. ift der Pfychologie Voltaires gewidmet, dem
Verfuch einer Biographie aus dem Milieu und der
pfychologifchen Anlage heraus. Unter ftarkem Zurücktreten
aller hiflorifchen Einzelheiten werden nur die
großen Einflüffe auf Voltaire und die Hauptwandlungen
leines Geiftes hervorgehoben und dabei mit feinem hiflorifchen
Gefühl ihre zureichenden Gründe und ihr Ver-
ftändnis aufgefucht. Bemerkenswert in diefem hidorifch-
pfychologifchen Aufriß erfcheint mir befonders die ab-
gefchwächte Wertung der englifchen Einflüffe auf Voltaire.
Sakmann faßt Voltaire fo auf, daß er fchon als vollendeter
Freidenker nacli England gegangen fei, daß England j
ihm nur die Maffe deiftifchen Aufklärungsmaterials geliefert
habe. Der aufklärerifche Geifl Voltaires aber fei
franzöfifcher Art (S. 32 f.) Wenn ich nun auch nicht
fo ftark wie Sakmann die englifchen Einwirkungen auf
Voltaire einfchränken möchte, fo fcheint mir doch die
Frageftellung nach dem franzöfifchen Charakter Voltaires
fehr wichtig zu fein. Nur finde ich, daß Sakmann
gerade da nun abbricht, wo er nach dem Urfprung
von Voltaires franzöfifcher Aufklärungsgefinnung fragen
müßte. Kurz es fehlt mir in Sakmanns Analyfe die
Behandlung von Pierre Bayles Einfluß auf Voltaire. Ich
bedauere dies um fo mehr, als Sakmann umfaffende Kenntnis
der Voltaire zeitgenöffifchen Literatur zeigt und es
darum auffällt, daß er Voltaire fo wenig mit der franzöfifch-
philofophifchen Vergangenheit in Verbindung fetzt. Das
Problem des franzöfifchen Aufklärungsgeiftes fcheint mir
aber erft deutlich zu werden in dem Verhältnis Voltaires
zu Bayle. Warum fetzt Voltaire die erkenntnistheore-
tifchen Anfätze in Bayle's Skepfis nicht fort? Warum
läßt er fich bei feinem fcharfen Denken in den negativen
Aufklärungsfchwindel hineinreißen? Tatfächlich hatte
doch Bayle pofitive Anfätze gegeben; warum fetzt
Voltaire nur in kritifcher Hinficht (z. B. Bibelkritik) feine
Arbeit fort? Wäre Voltaire fo genuin franzöfifch-auf-
klärerifch, diefes unhiftorifche Verhalten gegen Bayle
wäre fchwer zu begreifen. In diefer Abweichung von
der gefchichtlichen Linie des franzöfifchen Aufklärungsgeiftes
fehe ich bei Voltaire den Einfluß von England,
den ich daher höher als Sakmann bewerten muß. P. Bayle
wird von Sakmann nur ganz nebenfächlich erwähnt und
zitiert; das ilt aber nicht angängig, da Voltaire den großen
Kritiker felbft fo gefchätzt hat. Hätte Sakmann nicht
Voltaires Werden mehr in der Auseinanderfetzung mit
der franzöfifchen Kulturphilofophie der Vergangenheit
erfaffen können? Wir trauen ihm dies um fo mehr zu,
als er uns Voltaires Gedankenwelt innerhalb feines Zeitalters
ausführlich darzuftellen weiß.

Diefe Schilderung unternimmt Sakmann in dem
zweiten Hauptteil feines Buches, der uns Voltaire den
Äfthetiker, den Denker, Prediger und Religionskämpfer,
den Hiftoriker, den Naturforfcher und den Politiker vorfuhrt
. Ein überaus reiches Material ift unter diefen Über-
fchriften gefammelt und neuartig verwertet: als Hiftoriker
und Politiker erfcheint Voltaire fehr bedeutfam, als Äfthetiker
und Naturforfcher tritt er (tark zurück; den breiteften
Raum nimmt der Kritiker der Religion und des Chriften-
tums in Anfpruch, ohne daß er gerade damit unfer behenderes
Intereffe erregen könnte. Diefe Auffaffungen ftützt
Sakmann durch ausgiebige Zitate Voltaires; nur fcliade ,daß !
er dabei aus älthetifchen Gründen jeden Quellennachweis
unterdrückt; die wiffenfehaftliche Brauchbarkeit feines

Buches wird dadurch gefchädigt und an feine zerftreuten
Einzelarbeiten fich zu halten ift doch fehr unbequem.
Seine gute Darftellungsgabe hätte die Trockenheit der
literarifchen Anmerkung leicht überwunden.

Der befondere Vorzug von Sakmann's Monographie
ift, daß er Voltaire von modern-pfychologifcher Seite
her zu faffen weiß: Voltaire erfcheint in lebhaftem Kontakt
mit heutigen geiftesgefchichtlichen Problemen:
Bibelkritik, moderne Gefchichtsphilofophie, politifcher
Liberalismus und Konfervativismus, das Problem der
Maffenpfychologie und ähnliche Fragen der Gegenwart
werden bei Voltaire hervorgehoben und zeigen, welche
Bedeutung diefer eigentümliche Geift in der Kultur-
gefchichte der Menfchheit befitzt. Nur ift ihm fchwer
beizukommen: er ift ausgefprochener Egoift und Indivi-
dualift, der in feinem Willen, nur den eigenen Gedanken
zu leben, dem Hiftoriker eine fchwere aber fehr reizvolle
Aufgabe ftellr. Das allfeitige Eingehen auf einen folchen
Geift, ein Sichhineindenken in ihn ift das einzige Mittel,
ihn verftändlich zu machen, und man muß Sakmann
zugeftehen, daß er diefe Methode ausgezeichnet zu handhaben
verlieht. Nur fehe ich nicht ein, warum diefes
große Feingefühl für den franzöfifchen Aufklärungsgeift
eine fpottende Herabfetzung der deutfehen Aufklärung
nach fich ziehen mußte. Selbdverdändlich weiß der
zierliche esprit des Franzofen leichter mit der nüchternen
Vernünftelei umzufpringen als die gründliche Breite des
Deutfehen. Aber die deutfehe Aufklärung hat dafür
andere große Werte in fich, pofitiver philofophifcher
und religiöfer Art. Warum daher diefe Animofität
gegen Leffing? Warum vor allem das harte Urteil über
Leffing den Theologen? Mit der Roheit eines Voltaire
behandelt Leffing die Religion nicht, und hinter feinem
,gelehrtenhaften Hinausfpielen des fachlichen Problems
auf die hiftorifche Quisquilienfrage einer regula /iita1
(S. 380) verdeckt fich deutfehe Frömmigkeit.

Doch wir wollen es Sakmann nicht verargen, wenn
fein Temperament ihn einmal über das Ziel hinausfehießen
läßt. Gerade das warme Verftändnis für feinen Gegen-
ftand ift ja das Schöne an feinem Buch, deffen Lektüre
den Freund pfychologifcher Charakteriftik überaus anzieht
. Voltaire's Bedeutung verdient eine folche deutfehe
Monographie, und das geiftvolle Buch verdient fehr, ge-
lefen zu werden.

Marburg a/L. Karl Bornhaufen.

Briefe an Jon. Heinr. Kurtz, weil. Profeffor der Theol. in
Dorpat, von G. H. v. Schubert, K. v. Raumer, Tholuck,
A. v. Harleß, Th. Harnack, Philippi, Reuß, Umbreit,
Oehler, Auberlen, Cafpari, Fr. Delitzfch, zu deffen
hundertdem Geburtstag herausgegeben von N. Bon-
wetfeh. Leipzig, A.Neumanns Verl. 1910. (IV, 102S.)
gr. 8° M. 2 —

Bonwetfch hat aus Anlaß der 100. Wiederkehr des
Geburtstages von Joh. Heinr. Kurtz — 13. Dez. 1909 —
eine Anzahl von Briefen herausgegeben, die von den
im Titel genannten Gelehrten bei verfchiedenen Gelegenheiten
an diefen gerichtet wurden. Es find im ganzen
45 Briefe, die aus der Zeit von 1842—1863 dämmen.
Delitzfch id mit 13, Schubert mit 8, die andern zum
Teil nur mit einem oder zweien vertreten. Es find meid
Antwortfehreiben auf literarifche Zufendungen; manche
enthalten denn auch nicht viel mehr, als die in folchen
Fällen übliche Dankeserdattung und find inhaltlich ziemlich
bedeutungslos. Andere gehen tiefer in die Sache ein
undlaffen uns zum Teil in den Fntwicklungsgang der theo-
logifchen Wiffenfchaft jener Zeit, zum Teil in das eigene
Denken und Fühlen ihrer Schreiber manchen intereffanten
Einblick tun. Kurtz befchäftigte fich bekanntlich, außer
mit feinen kirchengefchichtlichen Studien und Arbeiten,
befonders mit der Frage des Verhältniffes zwifchen Natur-