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Ausgabe:

1910 Nr. 15

Spalte:

474

Autor/Hrsg.:

Aigner, Eduard

Titel/Untertitel:

Lourdes im Lichte deutscher medizinischer Wissenschaft 1910

Rezensent:

Ebstein, Wilhelm

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473

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 15.

474

und gehaltvollen Buches des ehemaligen katholifchen
GeifUichen Don Jofe" Ferrandiz in Madrid, der als Jour-
nalift einen guten Ruf genießt, ein großes Verdienft um
die Bereicherung unterer Kenntnis der neueften fpanifchen
Kirchen- und Kulturgefchichte erworben. Denn tatfäch-
lich ift untere Kenntnis der fpanifchen Zuftände, wie
Ferrandiz mit Recht bemerkt, eine fehr dürftige und
oberflächliche. Auch unter den Gebildeten weiß man
feiten viel mehr davon, als daß die Spanier ein altes,
infolge der katholifchen Mißwirtfchaft geiftig und materiell
ftark zurückgekommenes Volk feien, das nebft Italien
die meiden Analphabeten aufweife und in dem deshalb
der Anarchismus einen fehr günftigen Nährboden finde.
Da ift nun das vorliegende Buch lebhaft zu begrüßen,
das uns in lebendiger, anfchaulicher Darftellung und aus
gründlicher Kenntnis des fpanifchen Volkslebens und
Charakters heraus und in warmem, perfönlichem Stil mit
vielen typifchen Anekdoten eine Fülle von konkreten
Einzelbildern aus der trüben neueften fpanifchen Ge-
fchichte vor Augen führt. In ihrer Gefamtheit gewähren
uns diefelben einen reichlichen Einblick in die geheimen
Intriguen und Machinationen der römifchen Kirche und
die vielen traurigen Opfer, die ihre überhandnehmende
Herrfchaft von dem immermehr verarmenden Volkefordert.

Eine Reihe von Kapiteln (Die Entwicklung des
fpanifchen Volkscharakters; Wachfende Macht der Klerikalen
am Königshof; Eine düftere Zeit und dennoch
beffer als die heutige; Der Zufammenbruch der Monarchie
; Die kirchenpolitifchen Fehler der Revolution;
Harmonie zwifchen Vatikan und Monarchie; Vorübergehende
Mäßigung im Rückfehritt; Die Liberalen regieren
und der Klerikalismus gedeiht; Die Jahre der Regent-
fchaft; Weiterer Niedergang) beleuchten die fpanifche
Kirchengefchichte von den Tagen Napoleons I. bis in
unfere läge, während die andern (Das heutige Spanien;
Kirche und Gefchäft; Der Priefter; Moralifche und geiftige
Verelendung; Beredte Zahlen; Das Land der Widerfprüche)
einen Qucrfchnitt aus dem religiös-fittlichen und kulturellen
Leben diefes katholifchften aller Völker darbieten.
Die gefchichtlichen Kapitel fchildern das Werden und
Wachfen der unfeligen päpftlichen Herrfchaft und die
übrigen die traurigen Früchte, die diefelbe für das fpanifche
Volk gezeitigt hat. Der Verfaffer ift ein warmer Patriot,
der feinem Volke die Augen öffnen möchte über die
haffenswerte Quelle feiner ganzen beklagenswerten Verelendung
, und fo hält er denn nirgends zurück mit feinem
fcharfen antirömifchen Urteil. Befonders verhaßt find
ihm die Jefuiten, deren Charakteriftik auf S. 87—89 vielleicht
die fchärffte Verurteilung derfelben ift, die mir
bis jetzt zu Geficht gekommen ift, die fich aber merkwürdig
nahe mit dem berührt, was der Exjefuit Hoens-
broech über diefelben in feinen verfchiedenen Werken
gefagt hat. .Seine eigenften Eigenfchaften, fagt er u. a.
find fein Haß gegen das Vaterland, feine Sucht, die Familien
zur Auflöfung zu bringen und feine Mißachtung jeder
ftaatlichen Gewalt1 (S. 88). Aber die Tatfachen, die er
mitteilt und die das Refultat einer jahrzehntelangen ge-
wiffenhaften Beobachtung und Erfahrung find, reden auch
ohne fein Urteil eine gewaltige, ja vernichtende Sprache.

Zahlreiche Perfönlichkeiten der neueften fpanifchen
Gefchichte erhalten eine eingehende fcharfpointierte
Charakterifierung, fo Ferdinand VII., Isabella, Canovas,
Caftelar, Sagafta u. a., und ihr Wirken wird uns in kurzen,
prägnanten Zügen, meift begleitet von einigen typifchen
Anekdoten, lebensvoll gefchildert. Aber ebenfo kurz
und treffend beurteilt der Verfaffer auch die verfchiedenen
Perioden der fpanifchen Gefchichte. Die Revolution von
1868 mit der darauf folgenden Zeit der Republik nennt
er ,eine Revolution auf Socken' und zeigt, daß der Hauptfehler
der Revolution war, daß fie nur den Tempel und
den Klerus, aber nicht die Kirche felbft angriff. Mit der
Möglichkeit eines fpanifchen Schisma im Jahre 1869 eröffnet
er Perfpektiven, die für die ganze neuere Gefchichte

der römifchen Kirche von unermeßlichen Folgen gewefen
wären (S. 62). Er enthüllt die fchamlofen Praktiken der
römifchen Kirche, die Stumpfheit des fpanifchen Volkes
und die Feigheit der Liberalen und weiß alles mit
glänzenden Beifpielen zu beleuchten, die fchon für fich
allein ein grelles Licht auf die behandelten Zuftände
werfen. So wenn er aus einer Predigt des Don Damian
Ramirez zu San Jofe in Madrid das folgende Mufter erzählt
: ,Der Engel Gabriel trat weder durch die Türe
noch durch das Fünfter in die Behaufung Maria's, fondern
er filtrierte fich durch die Wand' (S. 138), oder mitteilt,
daß nach dem Skandal von Talavera die Jefuiten gleichwohl
von den Damen der Ariftokratie in Madrid in ihren
Equipagen am Bahnhof abgeholt und feftlich empfangen
worden feien (S. 197). Die Korruption in dem
höheren und niederen Klerus, die maßlofe Ausbeutung
des Volkes durch die Kirche und das immer mehr fich
häufende Elend in den breiten Maffen, die von ihren
Prieftern abfichtlich in der Dummheit erhalten werden,
während die höheren Stände durch den katholifchen
Boykott, verächtliches Strebertum und unbegreifliche
Angft vor dem Flinfluß der Kirche ihr gefügig erhalten
werden, finden in ihm einen fchonungslofen Richter und
man fühlt den Schmerz mit, der ihn darüber erfüllt, daß
fein Volk fich fo völlig von der römifchen Kirche ausbeuten
und dem völligen geiftigen, moralifchen und
materiellen Ruin zutreiben läßt.

Die Überfetzung lieft fich leicht und angenehm, und
es fteht zu erwarten, daß das interefiante Buch zahlreiche
aufmerkfame Lefer finden wird, um fo mehr als der Fall
Ferrer ein neues vielbeachtetes Schlaglicht auf die fpanifche
Mißwirtfchaft geworfen hat.

Bremgarten. Alb. Bruckner.

Aigner, Dr. Eduard, prakt. Arzt, Lourdes im Lichte deut-
Icher medizinilcher Willenlchaft. Bericht über den Münchener
Lourdes-Prozeß vom 20. und 22. Novemb. 1909
auf Grund der ftenographifchen Wiedergabe der ärztlichen
Sachverftändigen-Gutachten. München, J. F.
Lehmanns Verlag 1910. (62 S.) gr. 8° M. 1.20

Die vorliegende Brofchüre, welche über den Münchener
Lourdes-Prozeß vom 20. und 22. November 1909
auf Grund der ftenographifchen Wiedergabe der ärztlichen
Sachverftändigen-Gutachten, der feinerzeit berechtigtes
Auffehen erregte, berichtet, intereffiert nicht fo-
wohl wegen der Entfcheidung der Beleidigungsklage,
wenngleich die letztere den Ausgangspunkt des Pro-
zeffes bildet, fondern wegen der hier vorliegenden Kritik
der vielumftrittenen Wunderheilungen in Lourdes. Diefelbe
fchließt fich teils zuftimmend an die abfällige Beurteilung
feitens des Verfaffers an, teils aber ergibt fich
aus den Ausführungen einer Reihe von Sachverftändigen,
die für Echtheit diefer Wunderheilungen in Lourdes eintreten
, das Gegenteil. FL würde zu weit führen, in die
Einzelheiten diefer Gutachten hier näher einzugehen.
Auch das Gericht hat es nicht als feine Sache erachtet,
Feftftellungen darüber zu treffen, ob, wie angegeben
wurde, die Behauptungen des Verf.s richtig find oder
nicht. Es muß aber doch wenigftens hervorgehoben
werden, in welch anerkennenswerter Weife der Vorfitzende
des Gerichts die Verhandlung geleitet und insbefondere
den Sachverftändigen die von ihnen einzuhaltenden Wege
gewiefen hat, indem er betonte, daß die religiöfe Seite
der Frage hier vollkommen ausfeheide, und daß die Sache
nicht auf kirchliches Gebiet überzugreifen habe. Daß
dies aber feine Schwierigkeiten habe, verhehlt fich der
Vorfitzende nicht. Er verlangt jedoch von feinen Sachverftändigen
Objektivität und weift dabei auf den Eid
hin, den fic zur Bekräftigung der Wahrheit ihres Gutachtens
zu leiften haben.

Göttingen- W. Ebftein.