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Ausgabe:

1910 Nr. 15

Spalte:

471-472

Autor/Hrsg.:

Sohm, Rudolph

Titel/Untertitel:

Wesen und Ursprung des Katholizismus 1910

Rezensent:

Bruckner, Albert

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Seite 1

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47i

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 15.

472

Sohm, Rudolph, Wefen und Urfprung des Katholizismus.

Des XXVII.Bandes der Abhandlungen der philologifch-
hiftorifchen Klaffe der Königl. Sächfifchen Gefellfchaft
der Wiffenfchaften Nr. X. Leipzig, B. G. Teubner 1909.
(58 S.) gr. Lex.-8° M. 2.40

In gründlicher Auseinanderfetzung mit Harnack, namentlich
deffen zufammenfaffendem Artikel über die
kirchliche Verfaffung und das kirchliche Recht im erffen
und zweiten Jahrhundert (RE3 XX S. 508—546. 1908)
entwickelt hier der bekannte Kirchenrechtslehrer die
Refultate feiner langjährigen, eindringenden Studien über
das Wefen und den Urfprung des Katholizismus, Ob-
fchon feine Anflehten unter den Gelehrten wohl bekannt
und bereits viel diskutiert worden find, fo will es mir
doch richtig fcheinen, fie hier etwas eingehender zu
f kizzieren, loweit als möglich mit feinen eigenen Worten.
Und dies umfomehr, als gerade in diefer Schrift der
Harke Vorzug feines Erklärungsverfuchs, der der überaus
großen Einfachheit, zu überrafchender Geltung kommt.

Im erffen Abfchnitt ,Stand der Forfchung' S. 3—9
weift Sohm darauf hin, daß trotz der großen Arbeit,
die namentlich von Harnack und feiner Schule auf die
Erforfchung des Urchriftentums gewendet worden fei,
doch die Grundfrage, wie fich aus demfelben der Katholizismus
entwickelt habe, noch nicht gelöft fei. Man habe
wohl die wichtigften Beffandteile in der Hellenifierung
des Evangeliums und in dem göttlichen Kirchenrecht
(dies letztere in feinen Spuren) entdeckt, aber den letzten
Grund, warum es namentlich zu dem zweiten gekommen
fei, noch nicht aufzudecken vermocht.

Im zweiten Abfchnitt S.9—22 findet Sohm ,das Wefen
des Katholizismus' in der Gleichfetzung des religiöfen Begriffs
von der Kirche mit der Kirche im Rechtsfinn. Erft
Luther hat die Gegenfätzlichkeit der Kirche im religiöfen
und im rechtlichen Sinne erkannt und damit der autoritären
Kirche für alle Zeiten ein Ende gemacht. Damit
ift [von felbft gefagt: der Mangel der Unterfcheidung
bedeutet das katholifche Prinzip. Aus der Annahme,
daß die Kirche Chriffi eine rechtlich verfaßte Organi-
fation fei, folgte die Regelung des Lebens der Chriften-
heit mit Gott durch das katholifche Kirchenrecht. Aus
der Vorausfetzung, daß die Kirche Chriffi rechtlich or-
ganifiert fei, folgte ferner, daß es nur eine legitime
Rechtskirche geben könne, diejenige, die die apoftolifche
Verfaffung habe. Daraus folgte dann im weiteren ihre
Sichtbarkeit und Einheit, ihre Seelforgegewalt als Schlüffel-
und geiftliche Zwangsgewalt. Alle Herrfchaftsanfprüche
der katholifchen Kirche, ihrer Organe und ihrer Rechtsordnungen
find logifch notwendige Folgerungen aus der
Gleichfetzung ihres Rechtskörpers mit der Kirche Chriffi
im religiöfen Sinn. Und aus derfelben Tatfache ent-
fpringt auch die Macht, die ihr zur Durchführung ihrer
Herrfchaftsanfprüche dient. Denn das Leben des natürlichen
Menfchen ift darauf gerichtet, das religiöfe zu
veräußerlichen, und das religiöfe Leben der Maffe will
autoritär regiert fein. Das katholifche Prinzip entfpricht
dem brennenden Verlangen der Menfchenfeele nach Sichtbarkeit
des Unfichtbaren, darum wurzelt die katholifche
Kirche fo tief in der breiten Volksmenge. Aber die
gleiche Verfchmelzung des Religiöfen mit dem Rechtlichen
, die ihre Stärke ift, ift auch zugleich ihre Schwäche.
Denn fie wird dadurch genötigt, fich für die unfehlbare
Trägerin der religiöfen Wahrheit zu erklären und eine
unbedingte Herrfchergewalt über den Glauben der
Chriftenheit aufzurichten. Damit aber vernichtet fie das
geiftliche Eigenleben aller Glieder, um bloß Einem einzelnen
ein unmittelbares Verhältnis zu Gott zuzufprechen,
und fetzt fich dadurch ebenfo in Widerfpruch mit der
Freiheit des religiöfen Lebens wie mit der Freiheit der
Wiffenfchaft. Sie verliert darum in dem Augenblicke ihre
Macht, wo die Unterfcheidung der Kirche im Rechtsfinn

und der Kirche im religiöfen Sinn fich im allgemeinen
Bewußtfein durchfetzt.

Der dritte Abfchnitt endlich ,der Urfprung des
Katholizismus' S. 22—58 bringt den Nachweis, daß diefe
Verwechslung tatfächlich im Urchriftentum ftattfand,
urfprünglich naiv und inftinktiv, fehr bald aber auch
bewußt und ausdrücklich. Die Urzeit hat den Begriff
einer rechtlich verfaßten Kirche nicht gehabt. Sie hatte
den Begriff der Chriftenheit als einer religiöfen Größe.
Was die Ekklefia, das Gottesvolk, zu einer Einheit
machte, war ausfchließlich religiöfer Natur, aber fie
wendete diefen religiöfen Kirchenbegriff unbedenklich
auf die körperlich fichtbare Chriftenheit an. Darum
kannte die Urkirche keine Gemeinden in unferem rechtlichen
Sinne. Die Chriftenheit in jeder einzelnen Stadt
ift im Grunde nicht Einzelgemeinde, fondern Erfcheinung
des Ganzen in feinem Teil. Ihr Urfprung liegt in dem
bekannten Wort Matth. 18,20. Die Organifation diefes
geiftlichen Körpers ift dementfprechend auch eine geiftliche
. Gott gliedert den Leib der Chriftenheit durch
Verteilung der Charismen. Die Wahl durch die Ekklefia
ift lediglich die Bezeugung und Anerkennung des
Charisma. Sie geht vor fich durch Infpiration. Die
charismatifche Organifation bedeutete den Ausfchluß jeder
I rechtlichen Ordnung, darum war fie aber auch ohne äußere
organifatorifche Kraft und mußte darum zu den größten
praktifchen Schwierigkeiten führen. Und dennoch ift aus
diefer anarchiftifchen charismatifchen Organifation der
mächtigfte Rechtskörper der Weltgefchichte, die katholifche
Kirche herausgewachfen. Weil das Urchriftentum das
Gefetz des religiöfen Lebens zum Gefetz des Gemeinlebens
machen wollte, kam es zurVergefetzlichung, d.h.
zur Katholifierung und Verbildung deffelben. Die Kirche
hatte als rein religiöfe Größe keinerlei Verhältnis zum
Staat. Nur das religiöfe Intereffe hat gegen Ende des
I. Jahrhunderts die Anfänge einer Rechtsordnung erzeugt
, indem die Ordnung der euchariftifchen Verfamm-
lung fchlechtweg zur gottesdienftlichen Ordnung, zur Ordnung
der Ekklefia wurde. Aber auch jetzt war fie noch
keine Rechtsordnung. Die Wahl galt nur als Klarftellung
des göttlichen Charisma, fie verlieh noch keine Rechte.
Das änderte fich erft durch den erffen Klemensbrief, in dem
die römifche Ekklefia die Lebenslänglichkeit des durch
Beftellung gegebenen Bifchofs- und Diakonenamtes erklärte
. Sie wollte damit den pneumatifchen Faktor nicht
ausfchalten, fondern im Gegenteil fchützen und ftärken,
aber indem fie ihn kicherte durch die feften ,militärifchen'
Formen der Einzelekklefia, vergefetzlichte fie ihn und
damit war der Katholizismus geboren. Fortan gehörte
das korrekte Kirchentum zum Chriftentum.

Ich muß geftehen, daß mir diefe Löfung durch ihre
Einfachheit und Gefchloffenheit einen tiefen Eindruck
gemacht hat, und daß namentlich der Gedanke, daß der
Katholizismus aus einer Verfchmelzung oder beffer gefagt
Verwechslung der Kirche im Rechtsfinne mit der
Kirche im religiöfen Sinn hervorgegangen fei, mir als
eine fehr glückliche Löfung diefes fchwierigen Problems
erfcheint. Dagegen kann ich mir die reine charismatifche
Organifation der Urkirche nicht ganz vorftellig
machen, und noch viel weniger, wie dann mit einem Male
die rein charismatifche Ordnung überall zu einer Rechtsordnung
wurde, obwohl ich andrerfeits der charismatifchen
Organifation gerne einen großen Spielraum im
Leben der Urkirche einräume.

Bremgarten. A. Bruckner.

Ferrandiz, Padre Don Jofe, Das heutige Spanien unter dem

Joch des Paplttums. Autorifierte Überfetzung von Don
Ibero. Frankfurt a. M., Neuer Frankfurter Verlag 1909.
(205 S.) 8° M. 2.50; geb. M. 3.50

Der neue Frankfurter Verlag hat fich mit der Pierausgabe
der trefflichen Überfetzung diefes temperament-