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Ausgabe:

1910 Nr. 15

Spalte:

461-463

Autor/Hrsg.:

Müller, David Heinrich

Titel/Untertitel:

Das Johannes-Evangelium im Lichte der Strophentheorie 1910

Rezensent:

Heinrici, Carl Friedrich Georg

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 15.

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weichende Anfchauungen zur Geltung zu bringen, etwa
zu bertreiten, daß der Apoftel wegen Gal. 4,15 an einem
Augenübel litt (I 82), oder zu behaupten, daß der Vater
des ,Blutfchänders' (I Cor. 5) bereits geftorben gewefen
fein muffe (gegen I 121).

Der Umftand, daß die Fundamentieryng vielfach dem
Auge entzogen ift, daneben das Fehlen einer klaren und
deutlichen Auseinanderfetzung mit anderen Meinungen
find die zunächft in die Augen fallenden Unterfchiede
zwifchen dem Kühlfchen Werk und einem Kommentar.
Selbltverftändlich konnte der Verf. auch auf textkritifche
Fragen keine Rückficht nehmen. Nur zu Rom. 16,24
(I 417) und Eph. 1, I (II 48) macht er derartige Anmerkungen
. Bezüglich der Entflehungsgefchichte der pau-
linifchen Schreiben befchränkt er (ich auf einige Andeutungen
zu Rom. 16 (I 415. 417). Was man gegen die
Echtheit mancher Briefe vorgebracht hat, was es anderer-
(eits geftattet, fie trotzdem, wie Kühl tut, als Paulusgut
feilzuhalten, konnte im Rahmen diefer Arbeit nicht dargelegt
werden.

Kühl felbft lehnt es entfchieden ab, einen Kommentar
gefchrieben zu haben. Er will däs Studium der
Kommentare nicht entbehrlich machen, fondern im Gegenteil
dazu anregen. Diefem Zweck wird das Buch !5nd gemacht werden, da v. 64'"= wohl fpätere Zutat ift
licher in vollem Maße entfprechen. Es ift ohne Frage desgleichen find die vier Neunzeiler 10, 1—18 nicht

16, I—5. 17, 1—20. In den übrigen Stücken, die er
analyüert, kann die Theorie nicht ohne ftarke Mittel
fowie zugleich unter Anerkennung von Unregelmäßigkeiten
und Feftftellung von ,mehr oder weniger deutlichen
Kunftformen' durchgeführt werden. So ift es
fraglich, ob von ihr aus im Prolog 1, 6—8 und 15. 16
als Gloffe auszufcheiden find, liegt doch v. 16 auch eine
Concatenatio zwifchen jtXrjnijq und jtXrjncoiia vor. 3, 30
wird der Theorie zuliebe mit dem folgenden verbunden,
v. 34 aber von v. 31—33 abgetrennt, obwohl die Gedankenverbindung
dies nicht geftattet. Daß ferner 3, 31° Gloffe
fei, erfcheint zweifelhaft. Die Wiederholung entfpricht
einer Eigenart des johanneifchen Stils, für die I, 19. 20
(xal m/wXoyt]Oev xal ovx /'/Qv/jOaro xal oj/ioX6y>]OEV) das
Schema bietet. 4, 34—38 läßt fich nicht als ftrophifch
gegliedert faffen, ift vielmehr ein Beleg für die Art, in
der Johannes mit Wiederholung des Grundworts (hier
fregiCtiv) die Gedanken fortfpinnt, ganz in der Weife
der Spruchdichtung, und zwar nicht nur der altteftament-
lichen; auch Theognis gibt z. B. Belege dafür. Ebenfo
ift fowohl 5, 19—47 die Ausfonderung der Strophen nicht
glatt durchzuführen, als auch bei 6,44—58; 6,48 gehört
zum folgenden. Eher kann fie bei 6, 62—65 einleuch-

ohne Zwang erzielt; dazu kommt, daß 10, 25—30, ein
Abfchnitt, den Müller nicht berückfichtigt, mit dem
vorigen eng zufammengehört; hier aber beherrfcht

ein Produkt eindringenden Fleißes und großen Gefchicks
Nur ganz feiten kommt Kühl mit weniger Worten aus als
der Apoftel: z. B. I 309, wo er zu neun Verfen (Rom. ,

3,10—18) nur acht Zeilen braucht. In der Regel ift die der 1 arallehsmus der Glieder die Form. Bei 14, 1—14
Umfchreibung naturgemäß viel wortreicher als das üri- I flötet/he Gliederung in fechs Vierzeiler ein, aber die
ginal. Aber, wenn Kühl auch zur Paraphrafierung eines
Verfes mitunter mehr als eine Seite, gelegentlich faft
zwei aufwendet, wird man ihm doch nicht den Vorwurf zu
großer Wortfülle machen dürfen. Er fchreibt einen guten
Stil. Und wer an der Hand von Abfchnitten wie I Cor. 13
(I 173—176) oder Rom. 7,7—8 (I 343—362) den Verf. auf
feine Befähigung zur Lölung der Aufgabe, die er fich
geftcllt, geprüft hat, wird fie ihm gewiß nicht abfprechen
wollen und ihn in feinem Vorhaben, den Hebrherbrief

fonft üblichen inneren Verkettungen fehlen, jeder Abfchnitt
führt hier fein gedankliches Sonderdafein. In 14, 15—31
ift die Einteilung unficher, der zuliebe v. 24b als Glofle
ausgefchieden wird. Bei 16, 20—33 verfagt die Theorie,
namentlich bei v. 27—33, und die innige Verklammerung
von v. 17—19 mit dem Ganzen ift ebenfo wie die fo
häufig eingelchobenen Zwifchenbemerkungen ein Beleg
dafür, daß die ftrophenartigen Gliederungen nicht fowohl
durch Reflexion auf beftimmte Kunftform bewirkt find.

und die katholifchen Biiefe in ähnlicher Weife zu er- a,ls vT',elmer»r der allgemeinen Tendenz auf Abrundung

läutern, nur beftärken können.

Marburg i. Heffen. Walter Bauer.

Müller, Dav. Heinr., Das Johannes-Evangelium im Lichte
der Strophentheorie. (Sitzungsberichte der Kaiferlichen
Akademie der Wiffenfchaften in Wien. Philofophifch-

hiftorifche Klaffe. l6l. Band, Nr. VIII.) Wien, A. Hol- | J^JS2^^»,Ä:6S
der 1909. (60 S.) gr. 8° M. 1.40

der Form und Verknüpfung der Gedanken entfpringen.
Dies beftätigen die Stücke, die von Müller nicht analy-
fiert find. Die Anlage von c. 7, 12 f. 8, 12 f. z. B. ,wo
mit den Sclbftzeugniffen Jefu Schilderungen des Eindrucks
feiner Worte planmäßig wechfeln. Die Art überhaupt,
in der nach dem Satze: ex proximo thetnbro sumitur
gradus sequentis die Rede fich fortfpinnt, um nur dies

In meiner Anzeige von Müllers Schrift ,Die Bergpredigt
im Lichte der Strophentheorie' (Theol. Litztg.
1909 Nr. 2 Sp. 46—49) habe ich über den Umfang
feiner Arbeiten und über die Grundfätze, nach denen er
den Charakter der orientalifchen Dichtung und das Fort

e-

derungen nur eines der Momente geben, welche den
eigenartigen Stil des Evangeliums kennzeichnen. Der
Vergleich desfelben mit Ezechiel, auf den auch Müller
S. 38 hinweift, führt zur Beobachtung ähnlicher Mannigfaltigkeit
in der Anwendung von ,Entfprechungcn', wie
Blaß fagt, und Verknüpfungen durch Wiederholung der
Stichworte. Man vergleiche Joh. 15 mit Ezech. 15, auch

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wirken ihrer Formen ermitteln will, in Kürze Rechenfchaft j Ezech. 12, 2—6. 9—16. 13, 18—23. 14, 12—20. 18, 8—18
gegeben. Er fucht in der Strophe das Grundgefetz der- und fonft. Die Verwandtfchaft beider in den Ausdrucksielben
, das will fagen, diefe Dichtung bewegt fich in mittein fpringt ebenfo in die Augen, wie die verfchiedene

gleichgegliederten, in fich formell abgerundeten Gedankeneinheiten
. Die formelle Einheit wird hergeftellt durch
Wiederholung der Stichworte, gleiche Einrahmung, Verkettung
der einzelnen Glieder. Durch Analyfe werden
die Strophen ermittelt. Ift die Strophenbildung erkannt,
io ergibt fich damit zugleich ein Kriterium für die Aus-
fcheidung fpäterer Zutaten.

Diele Theorie hat Müller jetzt auch auf das Johannesevangelium
angewandt und ilt dabei zu dem Ergebniffe
gekommen, daß in der Tat in größeren Abfchnitten des-
lelben, wenn auch in claftifchen Formen, je nachdem
Sinn- oder Wortcntfprechungen die Gliederung her-
ftellen, ftrophenartige Gebilde nachweisbar find. Am ein-
lcuchtcndften ift der Nachweis gelungen bei 4, 21—24.
5,'9—47. bei 6,26—40, 9,3—5- 'L9- 10. 12,44—50.

Orientierung der Gedanken, desgleichen aber auch, daß
für die Erfaffung der Mittel der Gedankenführung die
Strophentheorie für fich nicht ausreicht. Ein Vergleich
des johanneifchen Stils mit dem des Deuteronomiums
und des Deuterojefaias beftätigt dies.

Die Einfeitigkeit der Ermittelungen Müllers hebt
ihren Wert nicht auf. Sie geben einen gewichtigen Beleg
dafür, daß das Johannesevangelium nicht verftanden
werden kann, wenn es allein nach logifchen Maßfläben
zerftückelt und zerfafert wird. Vgl. dazu Müllers Bemerkungen
S. 57 im Nachtrage. Und noch eines. Die
charakteriftifchen Züge der Reden und Ausfprüchc Jefu,
die in dem mafchenartigen P"ortführen der Grundgedanken,
in der fugenartigen Wiederaufnahme der Leitworte, in
dem Wiederholen der Einleitungswendungcn, in dem