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Ausgabe:

1910 Nr. 15

Spalte:

460-461

Autor/Hrsg.:

Kühl, Ernst

Titel/Untertitel:

Erläuterung der paulinischen Briefe unter Beibehaltung der Briefform. 2 Bde 1910

Rezensent:

Bauer, Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 15.

460

nicht weiter folgen kann. Ihm gilt als ausgemacht, daß
für den modernen Menfchen durch die Evolutionslehre
und die demokratifche politifche Überzeugung die alte
biblifche Anfchauung von Gott als dem transzendenten
Weltfchöpfer und monarchifchen Herrn der Menfchheit
ausgefchloffen ift. Gott müffe in der Gegenwart als
immanente Macht im Univerfum und in der Menfchheit
gedacht werden. Mit diefer modernen religiöfen Gefamt-
anfchauung fei jener ethifche Grundgedanke der biblifchen
Verföhnungslehre zu verbinden. Die Menfchen, die fich
ihrer fozialen Schuld gegen die Menfchheit bewußt find,
müffen wiffen, daß fie von dem Fluche der Menfchheit,
unter dem fie flehen, nur befreit werden, wenn fie ernft-
liche Reue haben und fich mit dem wahren Intereffe
der Menfchheit wieder identifizieren. Auch Jefus muß
auf der Bafis diefes Glaubens an die der Menfchheit
immanente Gottheit gewürdigt werden: er ift die Inkarnation
diefes immanenten Gottes, der vollkommenfte Ausdruck
des Ideals, nachdem die Menfchheit verlangt, weil er
die fittliche Aufgabe und Laft in unwandelbarer Treue bis
zum Kreuzestode auf fich genommen hat. Die Lehre
von der Verföhnung habe innerhalb diefer modernen
Gefamtanfchauung den Sinn, daß der immanente Gott
den Sünder befähigt, durch Reue und Selbftaufopferung
einer unzerftörbaren Gemeinfchaft mit Gott gewiß zu
. werden.

Charakteriftifch für diefe dogmatifche Bearbeitung
der Verföhnungslehre ift alfo, daß der Verf. nicht etwa
von der urfprünglichen Gottesanfchauung des Evangeliums
Jefu aus die auf dem Boden des Chriftentums
entftandenen Verföhnungstheorien kritifiert oder pofitiv
weiterzubilden fucht, fondern daß er die zur urchriftlichen
Gottesidee gehörige Verföhnungslehre auf eine panthe-
iftifche Gefamtanfchauung zu übertragen und nach diefer
umzudeuten unternimmt. Mir fcheint, daß er dabei die
Differenz zwifchen der transzendenten perfönlichen Gottesanfchauung
Jefu und der biblifchen Schriftfteller und
der pantheiilifchen Gottesanfchauung, die er für den
modernen Menfchen als notwendig betrachtet, wefentlich
unterfchätzt. Durch die Verfchiedenheit diefer Gottesanfchauung
bekommt tatfächlich doch die religiöfe Gefamtanfchauung
hier und dort einen derartig verfchiedenen
Charakter, daß es nicht möglich ift, die im Zufammen-
hang mit der einen Gottesanfchauung gewachfenen
Gedanken ohne Veränderung ihres wefentlichen Gehalts
in organifche Beziehung zu der anderen Gottesanfchauung
zu bringen. Freilich auch der transzendente Gott des
Chriftentums hat eine der Welt und der Menfchheit
immanente Wirkfamkeit. Wenn man an ihm diefe Seite
und andrerfeits an der pantheiftifch vorgeftellten immanenten
Gottheit die ethifche Tendenz betont, fo laffen
fich ohne Zweifel analoge Ideen, wie fie im Chriftentum
gelten, auch in Beziehung zur pantheiftifchen Gottesanfchauung
entwickeln. Aber diefe Analogie hat doch
ihre fehr bedeutfamen Schranken. Meines Erachtens
hätte der Verf., um Irrtümer und Zweideutigkeiten aus-
zufchließen, diefe Schranken viel ftärker hervorheben
müffen, als er getan hat.

Hier ift nicht der Ort, der Frage näher zu treten,
ob die transzendente perfönliche Gottesanfchauung des
alten Chriftentums wirklich für den modernen Menfchen
fo erledigt ift, wie G. B. Smith vorausfetzt. Aber auch
wer in diefer Beziehung anders denkt und deshalb den
Schlußabfchnitt des vorliegenden Werkes ablehnt, möge
fich hierdurch nicht davon abhalten laffen, dem ganzen
Werke die Beachtung zu fchenken, die es wegen feines
entfchieden hochftehenden wiffenfchaftlichen Charakters
verdient.

Jena. H. H. Wendt.

Kühl, Prof.D.Ernft, Erläuterung der paulinifchen Briefe unter
Beibehaltung der Briefform. Zwei Bände. Gr. Lichter-
felde-Berlin, E. Runge, gr. 8° M. 10—; geb. M. 13 —

I. Die älteren paulinifchen Briefe. 1907. (III, 448 S.) M. 6 —;
geb. M. 7.50. — II. Die jüngeren paulinifchen Briefe. 1909. (IV,
279 S.) M. 4—; geb. M. 5.50.

In dem vorliegenden Werk fucht E. Kühl den Menfchen
auf eine neue Weife die paulinifchen Briefe nahe
zu bringen und dadurch lieb zu machen, fo nämlich, daß
er die Briefform beibehält, den Inhalt aber nicht nur in
der Sprache unterer Zeit wiedergibt fondern fo um-
fchreibt, daß es dem Lefer möglich wird, ,dem Apoftel
Paulus auf den vielfach verfchlungenen und nicht immer
klar erkennbaren Pfaden, die er in den Gedankengängen
feiner Briefe einfchlägt, auch auf weitere Strecken hin zu
folgen'.

Diefes Programm fagt uns, daß Kühl fich der Form
gegenüber große Freiheit geftatten will. Zu Studien
über die paulinifche Rhetorik und Stiliftik würde fein
Buch ein wenig geeignetes Hilfsmittel fein. Zwar bemüht
er fich redlich, zu erhalten, was fich bei feiner Aufgabe-
ftellung konfervieren läßt. So hat er z. B. die Wortfpiele
I Cor. 3,17 (et xig xbv vabv xov dsov (p&xigst, cpO-tgsl xov-
xov 6 &£og = jeder Tempelfchänder wird von Gott zu
fchanden gemacht werden, I 116) oder Rm. 1,31 (dovvt-
xovg, aövvd-txovg — unverftändig, unbeftändig, I 296)
recht anfprechend verdeutfcht. Ünd wenn er Rm. 12,3
gegenüber verfagt, fo ift das wahrlich nicht zu tadeln.
Aber von des Apoftels Art zu reden und zu fchreiben,
von der oft fehr feinen fymmetrifchen Struktur, dem Para/-
lelismus mewibrorum, der leichten künftlerifchen Grazie
und wiederum der dunklen vieldeutigen und vielfagenden
Knappheit empfängt man naturgemäß keinen rechten
Eindruck. Und es ift in der Tat nur konfequent, wenn
der Verfaffer dann weiter geht und Paulus ruhig fo
zitieren läßt, wie wir zitieren (Gal. 3, IO: ,den Beweis
dafür liefert das altteftamentliche Schriftwort aus 5, Mofe
27,26', I 71. 72; ebenfo 84. 179), ja fogar den Reim beider
Wiedergabe altchriftlicher Hymnen nicht für unpaffend
hält (I Tim. 3,16, II 188; II Tim. 2, II. 12, II 231). Dafür
, daß fich bei niemandem die Empfindung einfchleicht,
den Apoftel nach Inhalt und Form zu hören, ift bis zu
einem gewiffen Grade dadurch geforgt, daß jedem Briefe,
aber auch jedem Teil und Abfchnitt eine kurzgefaßte
Inhaltsangabe vorausgefchickt wird, die den Fluß der
Rede unterbricht und den Lefer daran erinnert, daß er
eine ,Erläuterung' vor fich hat. Wirkfamer noch würde
die Gefahr befchworen fein, wenn Kühl feinem Buche
den Text der paulinifchen Briefe beigefügt hätte. Doch
fpürt er diefen Mangel felber und verheißt feine Abheilung
für eine eventuelle neue Auflage.

So frei Kühl mit der Form umgeht, fo fehr ift er
beftrebt, den Inhalt der paulinifchen Briefe feinen Lefern
korrekt zu vermitteln. Freilich, eben das, was es überhaupt
nötig macht, den Inhalt in eine andere Form umzugießen
, birgt auch eine Schwierigkeit. Wenn uns die
Gedankengänge des Apoftels im großen und ganzen
deutlich find, fo wiffen wir doch keineswegs immer genau,
was er im einzelnen meint. An zahlreichen Stellen ftehen
fich verfchiedene Deutungen mit gleichem oder doch
ziemlich demfelben Rechte gegenüber. Nur ganz vereinzelt
hat Kühl in folchen Fällen die Wahl zwifchen
verfchiedenen Möglichkeiten gelaffen, der einen im Text,
der anderen in einer FTßnote Worte geliehen (I 70. 76).
In der Regel trifft er eine Entfcheidung, ohne das Schwankende
derfelben zum Ausdruck bringen zu können. Seine
Begründung vermag fich der Kenner aus den gebrauchten
Wendungen oftmals mehr oder weniger vollftändig zu
rekonftruieren. Ebenfo oft ift das unmöglich. Und da
die Form der Paraphrafe jedenfalls einer faßbaren Entfaltung
der Gründe im Wege fteht, hat es wenig Wert,
die Umfchreibungen fachlich zu beanftanden und ab-