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Ausgabe:

1910 Nr. 15

Spalte:

458-459

Autor/Hrsg.:

Burton, Ernest Dewitt

Titel/Untertitel:

Biblical Ideas of Atonement, their History and Significance 1910

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 15.

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Noch wichtiger und entfchieden beachtenswert find
die prinzipiellen Auffiellungen Torreys über Gefchichte
und Religion des Judentums in ,exilifch-nachexilifcher'
Zeit, aus deren allgemeinem Zufammenhang er feine
Thefe über den Chronifien entnimmt. Die bisherige
Auffaffung leide an zwei fchweren Mängeln, an der
Übertreibung des ,exilifchen' Einfchnitts und an der
Unterfchätzung des ,nachexilifchen' Judentums, beides
hauptfächlich durch den unheilvollen Einfluß des Chronifien
bewirkt. Ähnlich wie Koffers behauptet T., die
fiebzig Jahre feien eine nachträgliche Theorie, das Exil,
die Rückkehr in der Zeit des Cyrus, die Reflauration
durch die Zurückkehrenden feien ungefchichtlich, es
habe nie einen Schriftgelehrten Esra, nie ein aus Baby-
lonien gebrachtes Gefetz gegeben. Die Gefchichte habe
fich im Land Paläfiina felbft in einer kontinuierlichen
Entwicklung vollzogen, die gefamte Literatur (auch
Deut.jef.) fei in Paläfiina gefchrieben. Es fei mit dem
wirklichen Leben nicht vereinbar, daß die nach Baby-
lonien Verpflanzten fich gerade dort rein erhielten und
in idyllifcher Stille dem Gefetz und der Feftlegung des
Kultus obgelegen hätten; fie hätten ja auch als echte
Nachkömmlinge der Propheten gerade in der Fremde
erkennen müffen, daß man keinen Tempel und keine Kultuszeremonien
brauche; wie hätten alfo gerade die Exilierten
darauf kommen follen. das Ritualgefetz zu kodifizieren
? Quantitativ hatte die Zahl der Deportierten nicht
viel zu befagen und Jerufalem-Juda füllten fich (auch durch
die fofort zurückkehrenden Flüchtlinge) rafch wieder, fo
daß ein Bruch der Entwicklung in Paläfiina weder in poli-
tifcher noch in kultifcher Hinficht wahrfcheinlich fei. Eine
ernfie Gefahr drohte allerdings in den folgenden Jahrhunderten
aus der freiwilligen Auswanderung, der ,Zer-
ftreuung', zu entftehen; diefe, nicht das Exil, fei das
Hauptmoment der fpäteren Entwicklung. Erft der
Chronift mit dem oben befchriebenen Tendenzwerk
habe die Idee des Exils, der Reflauration, des Schriftgelehrten
Esra und des durch ihn gebrachten Ritual- {
kodex gefchaffen. Ferner muffe man Religion, Literatur
und Gemeinde des Judentums in der perfifchen und griechischen
Periode bedeutend höher einfchätzen, als es
bisher gefchah. Der Ritualismus und Legalismus, den
man als die Hauptftrömung anfah, fei nicht ins Volk
eingedrungen, Liberalismus vielmehr fei das Zeichen
dieler Periode; es habe dem damaligen jüdifchen Volk
z. B. durchaus ferngelegen, auswärtigen Gotteshäufern
(wie z. B. dem in Ägypten) das Exiftenzrecht abzu- |
Sprechen; das Gegenteil fei richtig.

T. fallt zuweilen fichtlich in den Fehler der Übertreibung
und ftellt das Judentum, insbcfondere das jüdi-
fche Volk diefer fpäteren Zeit in zu glänzendem Licht
dar. Auch bleibt bei feiner Konfiruktion noch manches j
unaufgeklärt und das Zeugnis des Deutojefaia laßt fich |
nicht fo leicht umbiegen, wie er es tut. Doch wird
fein Urteil über den Chronifien im großen ganzen richtig
fein, und viele feiner Beobachtungen find treffend, weil
er den Gang der Dinge am wirklichen Leben prüft; es
laßt fich ja" nicht leugnen, daß die Theorie des Exils
und der zurückkehrenden Exulanten vor dem nüchternen
Blick des Praktikers fchweren Stand hat. In der Annahme
, daß der Ritualismus nur ein Bruchteil des fpäteren
Judentums war und daneben ein großer Reichtum |
und eine lebendige Mannigfaltigkeit echter Religion fich
regte, flehe ich ganz auf feiner Seite. Das Buch ift
jedenfalls ernfter Auseinandersetzung wert und enthält
auch im einzelnen eine Fülle intereffanten und gediegenen
Materials.

Tübingen. Volz.

Burton, Erneft Dewitt, John Merlin Powis Smith, and
Gerald Birney Smith, Biblical Ideas of Atonement,

their Hifiory and Significance. Chicago, The Uni-
verfity of Chicago Press 1909. (VIII, 335 p.) 8° S 1 —

Drei Profefforen der Univerfität von Chicago haben
fich zu diefem Werke zufammengetan: John Merlin Powis
Smith hat den Abfchnitt über die Verföhnungsidee im
Alten Tefiament gearbeitet, Erneft Dewitt Burton die
beiden Abfchnitte über die Verföhnungslehre in der
nicht-kanonifchen jüdifchen Literatur und im Neuen
Tefiament und Gerald Birney Smith den Schlußabfchnitt
über die Bedeutung der biblifchen Lehren von der Verformung
. Es ift den drei Gelehrten gelungen, ein Werk
von durchaus einheitlichem Charakter zu fchaffen, das
durch wiffenfchaftliche Sorgfalt und Methode ausgezeich-
net ift. In den biblifch-theologifchen Abfchnitten werden
die verfchiedenen Richtungen und Stufen, in denen fich
die Entwicklung der Vorftellungen von der Sünde, Sühne
und Sündenvergebung vollzogen hat, vorfichtig auseinandergehalten
. Andrerfeits wird zugleich die fich im
Wefentlichen gleichbleibende dominierende Entwicklungstendenz
aufgewiefen, die dahin gegangen ift, die un-
ethifchen, ritualiftifchen, mechanifchen Vorftellungen von
der Sünde und den Sühnmitteln zurückzuftellen hinter
der ethifch-religiöfen Auffaffung, bei der die rituellen
Opfer und anderen Sühnmittel nur als Ausdruck des
inneren Gehorfams gegen das Gottesgefetz gewürdigt
werden und fittliche Sinnesänderung als Bedingung der
Sündenvergebung gefordert wird. Die neuteftamentliche
Lehre habe die durch diefe Tendenz charakterifierten
bellenIf-lemente der alttefiamentlichen Lehre aufgenommen
und die unethifchen Elemente des Alten Teftaments
vollends eliminiert.

Befonderes Intereffe, aber auch befondere Bedenken
weckt der dogmatifche Teil. Ein Übergang dogmen-
gefchichtlicher Art zu ihm fehlt. Aber bei der ganzen
Art, wie die dogmatifche Aufgabe aufgefaßt ift, vermißt
man ihn auch nicht. Der Verf. fragt, welchen Wert
das biblifche Material für die religiöfe Überzeugung von
Menfchen des 20. Jahrhunderts haben kann. Mit vollem
Recht führt er aus, daß es nicht auf eine äußere Konformierung
unterer Lehren mit den biblifchen Lehren
ankomme, fondern auf die Erfaffung des religiöfen Lebens
und der eigentlichen religiöfen Probleme in den biblifchen
Lehren. Das Wefentliche in der biblifchen Verföhnungslehre
fei nun eben die Überwindung unethifcher, ritua-
lifiifcher, mechanifcher Vorftellungen über Sünde und
Verföhnung durch den ethifch gerichteten Glauben.
Jede Lehre von der Verföhnung, die den Menfchen nicht
moralifch hebe, fei ihrem Geifte nach unbiblifch, auch
wenn fie fich auf biblifche Belegftellen berufe. Diefe
ethifche Grundidee der biblifchen Verföhnungslehre fei
der modernen Gefamtanfchauung zuzuführen. Dazu genüge
aber nicht eine Übertragung und hiftorifche Erklärung
der biblifchen Ausfagen. Denn die zeitgefchicht-
lich bedingten Begriffsformen, in denen die biblifchen
Männer ihre Überzeugung ausgedrückt hätten, z. B. die
Opfervorftellung, feien für die Menfchen der Gegenwart
etwas fremdes und bedeutungslofes. Aber doch würden
auch in der Gegenwart noch lebendige religiöfe Bedürf-
niffe und Probleme empfunden, welche denen analog
find, für welche die biblifche Verföhnungslehre eine
Löfung gab. Auch in der Gegenwart exiftiere ein lebendiges
Sündenbewußtfein, das durch das erwachte foziale
Gewiffcn gefchärft werde, ein lebendiges Bewußtfein
von dem verantwortlichen Beteiligtfein aller Einzelnen
an den fozialen Übelftänden. Zu diefem in der Gegenwart
lebendigen realen Sündenbewußtfein müffe die
biblifche Verföhnungslehre in Beziehung gefetzt werden.

Bis zu diefem Punkte kann ich den trefflichen, prak-
tifchen Ausführungen des Verf.'s zuftimmen. Aber hier
nimmt nun fein Gedankengang eine Wendung, der ich

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