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Ausgabe:

1910 Nr. 15

Spalte:

455-457

Autor/Hrsg.:

Torrey, Charles C.

Titel/Untertitel:

Ezra Studies 1910

Rezensent:

Volz, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 15.

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Metrik, und die Vorrede fagt, die dritte Auflage erfcheine
eben deswegen in neuem Gewand, um die neugewonnenen
Ergebniffe zu verwerten und an der Löfung der fchwe-
benden Probleme mitzuarbeiten. Es ift nun freilich gut,
daß Kautzfeh und der fich um ihn fcharende Stab von
Gelehrten gerade in den beiden aktuellen Fragen von
ihrem feftgegründeten wiffenfehaftlichen Standpunkt aus
nüchtern fehen und gegenüber dem Panbabylonismus
und der Sievers'fchen Metrik fich zurückhalten. Aber im
übrigen hat man doch der Eindruck, daß das Kautzfch'-
fche Werk bei aller hervorragenden Wiffenfchaftlichkeit
und Gediegenheit die im letzten Jahrzehnt erfolgte Verjüngung
nicht mitgemacht hat. Nach wie vor bleibt das
Plauptintereffe die Literarkritik, die Quellenfcheidung, die
doch den Laien nicht intereffieren kann und dem Studierenden
nicht als das Wichtigfte vorgeführt werden
darf; das Buch, nicht der Inhalt des Buchs, die äußere
Befchaffenheit des Stoffs, nicht das im Stoff pulfierende
Leben, das einzelne Textwort, nicht die ganze Erzählung
in ihrer Stimmung, ihrer äfthetifchen Einheit oder reli-
giöfen Kraft erfcheint als Hauptfache. Manches liegt in
der Sonderart diefes Überfetzungswerkes begründet und
muß als Stück diefer Sonderart refpektiert werden; aber
manches Neue ließe fich wohl bei fortfehreitenden Auflagen
aufnehmen. Man möchte z. B. dringend wünfehen,
daß den Prophetenfchriften (wie es bei den Pfalmen der
Fall ift) eine allgemeine Einleitung vorausgefchickt würde,
die über den Propheten, fein prophetifches Bewußtfein
und feine einzigartige Stellung zu Gott und Welt, und
über analoge Erfcheinungen pfychologifch und religions-
gefchichtlich orientiert, während hier über die Propheten
im allgemeinen gar nichts gefagt ift und fofort mit Jefaia
und mit einem kurzen, überwiegend gefchichtlichen
Überblick über ihn begonnen wird. Oder die Einleitung
zu den Pfalmen; fie ift trefflich, voll Sorgfalt für die
Literarkritik, mit tiefem Verftändnis für die religiöfe
Herrlichkeit des Pfalters, zurückhaltend in der metrifchen
Frage, weife in der Behandlung des ,Ichs' der Pfalmen,
aber die literarkritifche Unterfuchung überwiegt ftark, die
literarifch-äfthetifche Seite ift nur geftreift, die religions-
gefchichtlichen Parallelen fehlen. Man möchte alfo
wünfehen, daß in ferneren Auflagen bei aller Wahrung
der Sonderart des trefflichen Werkes neben dem literar-
kritifchen und textkritifchen Stoff in den Überfichten
und Noten das Pfychologifche, Religionsgefchichthche
und Religiöfe mehr zur Geltung kämen.

Von den früheren Mitarbeitern find fchon mehr als
die Hälfte der Wiffenfchaft entriffen worden; und nun
wurde auch Kautzfeh nach vollendetem Lebenswerke abberufen
. Holzinger ift für Socin eingetreten, Budde hat
Jef. 40—66 Cant. Koh., Steuernagel Prov. Hi. Efth., Hölfcher
Es. Neh., Lohr Thren. übernommen; die übrige Arbeitsteilung
blieb fo ziemlich diefelbe. Die deutfehe Schreibung
hebräifcher Namen und die Tranfkription der hebräifchen
Wörter könnte vielleicht noch einheitlicher fein; die Notiz
über die Chiffern der Verfionen würde man wohl auf S. 1
unten leichter finden als auf S. 8. Die Ausgabe fchreitet
in großer Energie voran und ift bald abgefchloffen. Die
zwei Bände find ein Beweis der gewaltigen Arbeit, die
im A.T., befonders in der Einleitungswiffenfchaft geleiftet
wurde, und fie werden eine Zierde deutfeher Gelehrfam-
keit bilden.

Tübingen. Volz.

Torrey, Prof. Charles C, Ezra Studies. Chicago, The
University of Chicago Press 1910. (XV, 346 p.)
gr. 8° t 1-5°

Temperamentvoll, teilweife auch wegen der nicht
genügenden Beachtung feiner bisherigen Aufhellungen,
publiziert Torrey hier in zufammenhängender Form feine
radikalen, beachtenswerten Thefen. Das Chronikwerk
(Chron.-Esra-Nehem.) ift nach ihm ein freierfundenes

tendenziöfes Buch (c. 250 gefchrieben); abgefehen von
dem alten, aus den früheren Gefchichtsbüchern bekannten
Material und den .Worten Nehemias' (cap. 1—6) hatte
der Chronift lediglich keine Quelle, fondern er erfand
alles felbft; die Memoiren Esras find erdichtet, die in
Esra enthaltenen aramäifchen .Dokumente' find eine
Fiktion, verfaßt von Anhängern des Chroniften zu dem-
felben Zweck, aus dem das ganze Werk entftand. Lebhaft
wendet fich T. gegen Meyer, der die Echtheit der
.Dokumente' zu retten gefucht hatte; diefe Schriftftücke
können unmöglich echte Kopien urfprünglicher Originale
fein, fie find in einem aramäifchen Dialekt gefchrieben
, der einer fpäteren Zeit angehört, fie enthalten
nichts, was nicht zur griechifchen Zeit ftimmen würde
und fich nicht als Fiktion begreifen ließe, und nichts,
was an die perfifche Periode erinnert; fie haben zahlreiche
Parallelen in der griechifchen und außergriechi-
fchen Literatur, fo daß derartige Fiktionen amtlicher
Urkunden als fchriftftellerifche Gewohnheit erfcheinen.
Ausführlichfte Sorgfalt widmet T. vor allem dem Sprachbeweis
. Die Tendenz des Chroniften war, eine leviti-
fche Gefchichte zu fchreiben, zu erzählen, wie die Theo-
kratie durch die in Babylonien rein erhaltene, zurückkehrende
edle Gemeinde unter Esra in levitifcher
Korrektheit neugegründet wurde; er will die heiligen
Inftitutionen der jüdifchen Gemeinde befonders im Ge-
genfatz zur Samaritanergemeinde darftellen. In der Ab-
gefchloffenheit des babylonifchen Exils waren nach der
Meinung des Chroniften die echten Einrichtungen und
Traditionen Israels und das ,blaue Blut' der alten Gemeinde
rein erhalten geblieben, während die paläftini-
fche Bevölkerung heidnifch durchfetzt war; durch die
Rückkehr der babylonifchen Juden wird diefe heilige
Tradition fortgepflanzt. Die Tendenz der aramäifchen
.Dokumente' ift, zu erklären, warum der Tempelbau bis
auf die Zeit des Darius unbeforgt blieb. Dabei ift die
Meinung der chroniftifchen Schule, daß Darius Hyftaspes
unmittelbar dem Cyrus vorausging.

Diefes Chronikwerk erlitt im Lauf der Zeit mehrfache
Veränderungen. Die urfprüngliche Reihenfolge
war 1. 2. Chron. Es. 1. i.Esr. 4,47—56 4,62—5,6 Es. 2,
1—8,36 Neh. 7,70—8,18 Es. 9,1—10,44 Neh. 9,1—10,40
Neh. 1,1—7,69 11, 1—13,31. Dann wurden die Ab-
fchnitte Neh. 7,70—8,18 und Neh. 9,1 — 10,40 fälfehlich
von Esra zu Nehem. verfetzt; weiter wurde die Gefchichte
von den drei Jünglingen von einem Interpo-
lator eingefügt, wobei der Interpolator die Worte hinzu-
fchrieb, die uns in 1. Es. 4,43—473 57—61 enthalten
find; infolge diefes großen Einfchubs wurde das Stück
Es. 4,6—24 (= 1. Es. 2,15—26) transponiert. Mit aller
Gründlichkeit führt T. den fprachlichen Nachweis, daß
die Gefchichte der drei Jünglinge von Haus aus ara-
mäifch gefchrieben war. Beim Beginn der chriftlichen
Ära gibt es zwei Editionen des Chronik-Werkes, die
| beide die Gefchichte der drei Jünglinge enthielten; die
Edition A hatte Neh. 7, 73—10,40 hinter Neh. 7,72, die
Edition B hatte Neh. 7,73—10,40 hinter Es. 10,44. Die
griechifche Überfetzung der Edition B, c. 150 vor Chr.
gemacht, befitzen wir in unferem , griechifchen Esra'
(i. Esr.); diefe ift die ältere griechifche Überfetzung, und
es war ein lang fortgeführtes Mißverftändnis, den 1. Es.
als freie Überfetzung oder Überarbeitung des .kanoni-
fchen' zu betrachten. Die rabbinifche Schule hatte Bedenken
gegen das Werk des Chroniften, man fchnitt daher
den bedenklichften, offenkundig ungefchichtlichen
Teil, die Erzählung von den Jünglingen aus; ungefchickter-
weife fiel dabei auch ein Teil der Erzählung des Chroniften
mit heraus. Diefe fo verftümmelte Ausgabe be-
fitzen wir in unferem ,kanonifchen' Esra; die griechifche
Überfetzung des ,kanonifchen' Esra flammt von Theo-
dotion. Auch hier führt T. einen forgfältigen, auf fprach-
liche Vergleiche geflützten Beweis und befpricht den
Wert der einzelnen Handfchriften.