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Ausgabe:

1910 Nr. 1

Spalte:

17-22

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Otto

Titel/Untertitel:

Dogmengeschichte des Protestantismus. I. Bd. Prolegomena. Biblicismus und Traditionalismus in der altprotestantischen Theologie 1910

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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17

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 1.

iS

zeit nicht gewahrt bleiben, fo bald langwierige, heftige I haben faft allein das Intereffe in Anfpruch genommen
Streitigkeiten die Gemeinden aufregten, bis zuletzt die ; und zwar überwiegend folche der Reformationszeit oder
weltliche Obrigkeit dreingreifen mußte, wie z. B. in Krank- der eigentlichen Neuzeit. Es fehlt noch eine gleich-
furt, und in der Heimat wurde die reformierte Kirche, mäßig das Ganze der proteftantifchen Zeit mit Frag-
fobald die Republik generiert war, zur privilegierten Staats- Heilungen, wie fie gegenwärtig möglich und nötig find,
kirche unter dem Patronat der Obrigkeit. Der dritte beleuchtende Arbeit. Eine folche hat Otto Ritfehl nun-
Faktor, welchen die Flüchtlinge in die heimifche Kirche ! mehr in Angriff genommen, und er hat in den ,Prole-
zurückbrachten, ift der Ernft, mit dem das apofiolifche gomena', mit denen er fein Werk einleitet, gezeigt, daß
Ideal allfeitig, namentlich aber in der Kirchenzucht und er meint, in durchgreifender Weife neue Gefichts-
Liebestätigkeit verwirklicht, die Reformation gegenüber punkte an das Objekt heranbringen zu follen und zu können,
dem konfervativen Luthertum bis in die äuße'rften Aus- Es ift das erfte Mal, daß eine ,Dogmengefchichte

läufer des kirchlichen Lebens radikal durchgeführt und i des Proteftantismus' auf dem theologifchen Markte er-
mit allen päpftlichen Überlieferungen und Gebräuchen fcheint. Der Verfaffer will ausdrücklich, fowohl weniger,
(Hoftie, Kniebeugung beim Abendmahl, porrcetw in os, als mehr bringen wie das, was man unter dem Titel
Teilnahme an katholifchen Taufen, Hochzeiten, Begräb- ,Gefchichte der proteftantifchen Theologie' erwarten
niffen, Eidesformeln) gebrochen werden follte. Doch hatte dürfte. Er möchte den Titel ,Dogmengefchichte' auf
die Jülichfche Klaffe gegen die fowohl in Antwerpen als | die gefamte Lehrentwicklung im Proteftantismus mit
in Frankfurt und am Niederrhein in PTage gekommene ; angewandt fehen, indem er ihm dabei recht eigentlich
Trauung katholifcherPriefter durch evangelifche Prediger, einen proteftantifchen Sinn, eine für evangelifch ge-
nach dem die kaiferliche Declaratio, das fog. Interim, fchulte Dogmenauffaffung taugliche Bedeutung zu geben
die Priefterehe zugeftanden hatte, kein Bedenken, denn verfucht. Ich fympathifiere da durchaus mit ihm, wenn
es fei eine politifche Sache. ich auch meine, daß ihm bei diefem erften Anlauf noch

Es ift hier nicht der Raum, auf die weiteren Aus- nicht gelungen fei, den neuen, fruchtbaren Gedanken zu
fuhrungen Schelvens einzugehen. Aber wer fich in das i voller Reife herauszubilden. Ritfchi hat m. E. völlig
holländifch gefchriebene Buch mit feinem etwas fchwer- | recht, foweit er gegen Loofs und Seeberg polemifiert.
fälligen Stil und den häufigen Parenthefen (S. XXVII 3 Er geht ja auch nicht etwa in Harnacks Wegen,
in neun Zeilen!) hineinlieft, wird fich reichlich belohnt J Letzterer will im Proteftantismus nach einer Periode un-
finden. Es fei nur auf den Gewinn für die Gefchichte ficherer, noch nicht zu völligem Sachverftande durchge-
des Gottesdienftes und der kirchlichen Bücher, fowie der | drungener Haltung nur einen völligen Bruch mit dem
Verfaffung mit dem Wahlmodus der Amtsträger und der 1 ,Dogma' und feiner .Gefchichte' fehen. Loofs und
daraus erwachfenden Kämpfe, für die Frage der Not- ' Seeberg dagegen erkennen im Proteftantismus Anfätze
wendigkeit von Taufpaten, für die Heranbildung von 1 zu einer Fortfetzung der Dogmengefchichte, Anfätze,
.Dienern des Worts', die Entwicklung und verfchiedene < die auch zu einem Ziele geführt haben, jedoch nur zu
Geftaltung der ,Prophetie' hingewiefen. S. 132 ift Z. 19 j einem recht lange vor der Gegenwart erreichten, von
die Schrift von Knox gegen das Weiberregiment gemeint welchem ab bisher bloß allenfalls Strebungen zu er-
(RE. 10:!, 605, 47). S. 228 ift Z. 10 Grindall falfchlich | kennen feien, die zu einem weiteren Ziele führen
Erzbifchof von London genannt, wo er nur Bifchof , .können', aber kaum eine bewußte Tendenz haben,
war. S. 235 Z. 11 ift der Titel des Kurfürften Friedrich III. zu einem folchen zu kommen. Die Dogmengefchichte
von der Pfalz .Pfalzgraf bei Rhein' gemeint, alfo ftatt vyr ift nach diefen beiden Forfchern im Proteftantismus

ryn zu lefen. Z. 12 kann so gn nicht richtig gelefen fein,
wie S. 238 Z. 21 is ftatt fo.

Stuttgart. G. Boffert.

zu einem Stillftande gekommen beim Abfchluß der
evangelifchen .Bekenntnisbildung', alfo bei der Kon-
kordienformel lutherifcherfeits und der helvetifchen Kon-
fenfusformel reformierterfeits. Was feither im Pro-

Ritrchl, Otto, Doginengerchichte^des Proteftantismus. Grund- ^a"tismus, .1", bezuS. auf die chriftliche Lehre geleiftet
1 Ä r 1 j .u 1 v u r„a™Wn i worden. gehört nur in eine .Gefchichte der Theologie',

lagen und Grundzuge der theolog.fchen Gedanken- Harnack fowohl> ^ Loofs Seeberg ^ ^ ^

und Lehrbildung in den proteftantifchen Kirchen. ; griff des Dogmas nach dem katholifchen Maßftab. Aber

I. Band. Prolegomena. Biblicismus und Traditionalis- Harnack macht entfchloffen davon Gebrauch, daß wir

mus in der altproteftantifchen Theologie. Leipzig, Proteftanten doch diefen Maßftab ablehnen. Loofs und

J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung 1908. (X, 410 S.) fcTein;T mir in einer gewiffe" Unklarheit dem

8o M . M o;o Tü.ed-nken des Dogmas gegenüber befangen zu bleiben.

gr- • Ml 9-50, geb. M. iu0o Ift lhnen Dogma< daSj was fich a)s )0ffizielle kirchliche

Ganz befonders gern bringe ich diefes Werk hier j Lehrentfcheidung' darftellt, fo ift doch die Kirche,
zur Anzeige, denn es ift eine tüchtige Leiftung, in ein- j die auf dem Tridentinum der Reformation gegenüber zur
dringendem felbftändigem Quellenftudium gegründet und J Proklamierung neuer katholifcher Dogmen überging, und
ausgezeichnet durch frifche Behandlung und erwogenes | die Kirche, die in den evangelifchen Bekenntniffen
Urteil. Eine neue Darfteilung der Entwicklung der ,Dogmen' fchaffend (fymbolbildend) fich geltend machte,
proteftantifchen Lehrbildungen wird niemand überflüffig fehr verfchieden in ihrer Selbftbeurteilung gedacht. Nicht
finden. Von Gaß, J. A. Dorner, G. Frank befitzen wir nur wir heutigen Proteftanten urteilen über die Kirche
umfangreiche, in ihrer Weife treffliche Werke über die ; und die Bedeutung ihrer Dogmen anders als die Katho-
Gefchichte der proteftantifchen Theologie (bzw. Dog- liken, fondern auch die alten Proteftanten, die die ,Be-
matik), die in gutem Gedächtnis bewahrt werden follen. kenntniffe' fchufen, folgten doch nur unter mehr oder
Doch darf man ruhig fagen, daß fie unzulänglich ge- i weniger ftarken Vorbehalten katholifchen Ideen darüber,
worden find. Die hiftorifchen Urteilsmaßftäbe find I (Ich überfehe bei Loofs nicht etwa die .Schlußbemer-
mannlgfaltiger, fchärfer und feiner geworden. Seit, viel- , kungen', § 92, aber fie tun der Frage, um die es fich
mehr durch Albrecht Ritfehl ift die Fähigkeit der Ana- handelt, nicht genug; Loofs will keineswegs den Ge-
lyfe und Synthefe theologifcher Gedankenformen außer- danken erwecken, daß die Symbole der .klaffifche Ausordentlich
gefteigert worden. Was Harnack, Loofs, See- druck' des evangelifchen Glaubens feien und man kann
berg für die katholifche Dogmengefchichte geleiftet, hat ihm nur bezeugen, daß feine Art, die Reformatoren,
noch kein Gegenftück für die proteftantifche Periode vorab Luther, felbft zu fchildern und dann hinüber zu
chriftheher oder kirchlicher Lehrgcftaltung gefunden. Im , führen zu der Entftehung der Symbole, diefer Anfchau-
einzelnen ift ja nicht wenig gearbeitet worden. Aber ung auch nicht Vorfchub leifte, aber es ift eben fchief,
es ift dabei fehr ungleich hergegangen. Einzelne Männer ; wenn er auch in der proteftantifchen Zeit zuletzt die