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Ausgabe:

1910 Nr. 12

Spalte:

376-378

Autor/Hrsg.:

Ziller, F.

Titel/Untertitel:

Die moderne Bibelwissenschaft und die Krisis der evangelischen Kirche 1910

Rezensent:

Lobstein, Paul

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375 Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 12. 376

vermißt, die die gefchichtliche Entwicklung des Problems immer einmal wieder die Hoffnung aufkommen, daß man

auf feine fyftematifche Löfung in der Gegenwart hinauslaufen
laffen.

Diefe fyftematifche Hälfte weckt nun die größte
Spannung: wie wird der katholifche Theologe dies Ideal
der Perfönlichkeit faffen und begründen? Zuerft wird
die P. in ontologifchem Sinn behandelt, wobei ohne
Schärfe die traditionelle Philofophie mit ihrer Subftanz-
theorie der modernen Aktualitätstheorie entgegengeftellt
wird. Ift die ontologifche Perfönlichkeit benimmt durch
die Merkmale der Geiftigkeit, des Fürfichfeins und der

ftch einmal hüben und drüben verftehen lerne; vielleicht
ift dazu gerade das ethifche Gebiet am erften geeignet. —
Am Perfönlichkeitsbegriff felbft: müffen wir noch tüchtig
weiterarbeiten. Nur einige Aufgaben will ich nennen:
der enge Zufammenhang zwifchen dem Perfönlichkeits-
ideal und dem Begriff der Perfönlichkeit Gottes muß
noch fchärfer, als es S. tut, herausgearbeitet werden;
ferner kann man mit den Mitteln der Pfychologie, etwa
der Wundt'fchen dreidimenfionalen Gefühlspfychologie,
das Wefen der Perfönlichkeit noch näher zu erfaffen

Individualität, fo hat die Perfönlichkeit als fittliches Ideal, fuchen; endlich ift es von Wert, dem nachzudenken, wie
das Kntfaltungsprodukt jener, das in ihr angelegt ift, unfere Durchfchnittsmoral und auch unfere Alltagshöffolgende
Kennzeichen: geiftige Selbftmacht, nicht leere j lichkeit auf der Wertfehätzung der Perfönlichkeit auf-
Selbftmacht, zeichnet fie zuerft aus, was fich gegen den gebaut find — für jene denke ich an das Schamgefühl,

Formalismus Kants und gegen die Wertung des Trieb-
lebens richtet. Diefe geiftige Selbftmacht befteht in der
Entfaltung einer felbftherrlichen Innenwelt, die zunächft
auf die Erringung von wahrer Geiftesfreiheit begründet
ift: diefe muß der innern und äußern Natur und der
Gefellfchaft abgerungen werden. Zu ihr hat die Selbft-
beftimmung als Ergänzung hinzuzutreten, deren Wefen
nicht in der Schrankenlofigkeit, fondern in dem Recht
befteht, daß jeder fich nur durch fein Gewiffen beftimmen
laffen darf. — Nun aber kommt die Wendung. Ift das
Recht der idealen Perfönlichkeit abfolut, fo bedarf die

empirifch-gefchöpfliche in ihrer Schwachheit der über- j Wiffenfchaft gänzlich veränderten Stellung, auch heute
natürlichen Gnadenhilfe, die aber ihre Selbfttätigkeit noch für die einft auf fie gegründete Kirche zugefprochen

für diefe etwa an das Gebot, keinen Menfchen fo anzufeilen
und zu behandeln, als ob er ein Produkt der
Natur oder Umwelt fei.

Heidelberg. Niebergall.

Zill er, Prof. Dr. F., Die moderne Bibelwillenlchaft und die
Krilis der evangelilchen Kirche. Tübingen, J. C. B. Mohr
1910. (VII, 123 S.) gr. 8° M. 2.50

,Ein möglichft klares Urteil darüber zu gewinnen,
welche Bedeutung der Bibel, bei ihrer durch die moderne

nicht überflüffig machen darf. So wird auch die Askefe
als Mittel für die Herrfchaft des Geiftes, eines weitern
Merkmals der Perfönlichkeit, gewürdigt. Obgleich es
einem jeden überlaffen bleibt, die Geiftesherrfchaft in der
Naturverklärung oder in der Naturverneinung zu fehen,
fo ift doch unter den gegenwärtigen Verhältniffen die Verneinung
das relativ höhere Ideal, freilich gibt es auch im

werden kann: aus diefem Bedürfnis heraus ift. das Schriftchen
entftanden' (V). Der Verf. will zunächft zeigen,
,wie die moderne Bibelwiffenfchaft den kirchlichen Begriff
des Wortes Gottes allmählich zerfetzt und dadurch eine
jetzt akut und offenbar gewordene Krifis für unfere
Kirche herbeigeführt hat' (2). Schon die Ergebniffe der
Textkritik untergraben die biblifchen Grundlagen der

Weltleben Heilige. So werden noch die Merkmale der Ge- 1 Lehren von der Trinität, der Himmelfahrt und der Jung-
fchloffenheit, der geiftigenlndividualität und derGliedfchaft | frauengeburt (4—11). Hierauf erfchwerte die literarifche
an fozialen Gebilden befprochen. Bei diefem letzten Kenn- Kritik das Vertrauen zu den biblifchen Schriftftellern:
zeichen kommt S. auf die Kirche und ihre Autorität zu j indem fie einer Reihe von neuteftamentlichen Schriften

fprechen, die um der empirifchen Schwäche des Menfchen
willen ebenfo nötig ift, wie fie dem Begriff und Ideal felbft
widerftreitet. Es ift nicht möglich, den wertvollen
Inhalt diefer Abfchnitte kurz zu zeichnen; ein Verftänd-
nis ift für uns möglich, aber keine Verftändigung, weil
die göttliche Autorität der Kirche die Vorausfetzung
bildet. An deren Stelle tritt bei uns die geiftigere
Größe der Offenbarung Gottes, wie fie in dem höchften
Gehalt des N. T. an uns herantritt, um unfer Gewiffen
zu gewinnen und zu fchärfen. — Die Perfönlichkeit als
Lebenszweck bildet den folgenden Abfchnitt; hier ftellt
fich S. entfchloffen gegenüber den meinen katholifchen
Ethikern, die das Glückfeligkeitsideal betonen, auf die

die apoftolifche Autorität endgültig abfprach, zerftörte
fie die Vorausfetzung, unter der die Kirche diefen Schriften
Aufnahme in den Kanon gewährt hatte, fo daß fich
unfere Theologie gezwungen fah, die Berechtigung dazu
auf andrer Grundlage zu erweifen (12—14). Noch verhängnisvoller
geftaltete fich die Lage, wo die hiftorifche
Kritik zur Sachkritik wurde: fo find z. B. die Berichte
über die Auferftehung Jefu mit ihren Widerfprüchen und
ihrer Unzuverläffigkeit nicht dazu angetan, den Glauben
zu ftärken und zu fördern (14—29). Eine letzte Wendung
ift durch die Verbindung der biblifchen Schriften mit
der vergleichenden Religionskunde eingetreten: die
ftattgefundene Änderung betrifft nicht nur die auf den
Seite des energiftifchen Vollkommenheits- und Perfön- j Inhalt der h. Schrift anzuwendenden kritifchen Grund-
lichkeitsideals, das für ihn auch das Wefen des Jenfeits fätze, fondern diefen Inhalt felbft, der prinzipiell auf eine
ausmacht. Gerade deswegen darf es nur unter Ein- Linie mit den andern literarifchen Denkmälern der Re-
fchränkungen im Diesfeits zum Lebensideal gemacht ligionsgefchichte geftellt wird. Im Anfchluß an die
werden, wenngleich feine Pflege die belle Vorbereitung j Forfchungen Reitzenfteins erblickt Z. in der paulinifchen
auf das Jenfeits ift. Nach guten Ausführungen über die j Chriftologie eine im chriftlichen Sinne umgebildete her-
Würde der Perfönlichkeit, die nicht aufgegeben werden ; metifche Anthroposlehre (33—43); auch der johanneifche
darf, auch nicht im ,Opfer des Geiftes', wird an ent- j Logos foll in direkter Beziehung zur fynkretiftifchen Myfte-
fcheidender Stelle ausgeführt, daß fie nicht abfoluter ! rienreligion flehen (43—48). In noch höherem Maße
Selbftzweck fein darf, weil diefer, außer dem Nächften, [ werden Urfprung und Bedeutung der Sakramente aus
in der Welt des Wahren, Guten und Schönen und in ; den Myfterienkuiten jener Zeit erklärt: bei den Tauro-
Gott liegt, dem höchften Ziel der Ethik. — Die dreißig j bolien, den Ifis- und Mitrasweihen treffen wir auf den
letzten Seiten behandeln den Übermenfchen, indem ! Gedanken der Wiedergeburt, beim Attiskult auf den der
fie das Wort chnftlich umdeuten: Ubermenfch ift der j myftifchen Vereinigung mit der Gottheit, bei allen auf

Menfch der Zukunft, der zu einer wefentlichen Erhöhung
feiner kulturellen und feiner fittlich-religiöfen Kräfte fort-
refchritten ift. — Das ift in großen Zügen der Inhalt des

den Glauben an die Wirkung des Gottesnamens (50—65).
,Alfo das hätte die Bibel- und Religionswiffenfchaft aus
dem ,allerheiligften Sakrament' gemacht: im rohften

intereffanten Buches. Bis auf die beiden echt katholifchen I Aberglauben hat es feinen Urfprung und in den aber-
Punkte, die Bedeutung der kirchlichen Autorität und der ', gläubifchen Winkelkulten einer abfterbenden Kulturepoche
wenn auch etwas zurückgeftellten Weltverneinung, wüßte i feine nächften Verwandten. Nicht von Chriftus ift es
ich wenig, dem wir nicht zuftimmen könnten. Das läßt j eingefetzt, fondern von Paulus, der des ,Myfteriendunftes'