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Ausgabe:

1910 Nr. 12

Spalte:

373

Autor/Hrsg.:

Jordan, Bruno

Titel/Untertitel:

Kants Stellung zur Metaphysik bis zum Ende der sechziger Jahre 1910

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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373

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 12.

374

Jordan, Dr. Bruno, Kants Stellung zur Metaphylik bis zum
Ende der fechziger Jahre. (Abhandlungen zur Philo-
fophie und ihrer Gefchichte, herausgegeben von
R. Falckenberg. Heft 7.) Leipzig, Quelle & Meyer
1909. (IV, 86 S.) gr. 8° M. 2.80

Die vorliegende Arbeit verfolgt auf Grund einer
forgfältigen Vergleichung der Schriften Kants, auch der
Briefe, die Entwicklung feiner Stellung zur Metaphyfik
von der Erftlingsfchrift: .Gedanken zur wahren Schätzung
der lebendigen Kräfte' des Jahres 1747 bis zu der
Inauguraldiffertation von 1770. Die Hauptabficht des
Verfaffers ift auf den Nachweis gerichtet, daß in
Kants vorkritifcher Periode nicht, wie es nach der herkömmlichen
Auffaffung erfcheine, ein Abwechfeln des
rationaliftifch-dogmatifchen und des empiriftifchen Standpunktes
, fondern ,ein Ringen zwifchen dem Rationalen
und Irrationalen' ftattfinde. Auch in Beziehung auf die
am meiften einem empiriftifchen Skeptizismus fichnähernde
Schrift, ,Träume eines Geifterfehers erläutert durch
Träume der Metaphyfik' von 1766 fucht dies der Verf. zu
zeigen. Das Irrationale breche in doppelter Geftalt durch:
die Erkenntnistheorie erhalte einen fcheinbar fkeptizifti-
fchen Einfchlag, und damit flehe die flärkere Betonung und
pofitive Ausprägung moralifcher Probleme und Anfchau-
ungen im Zufammenhang. Es fei aber für beide Gedankenbewegungen
feftzuhalten, daß die Herrfchaft der
allgemeinen Vernunft als eines dem einzelnen überlegenen
Erkenntnisprinzips und Wirklichkeitszufammen-
hanges nirgends gebrochen fei. Sowohl in der Erkenntnis
wie im fittlichen Handeln feien wir auch nach
dem Kant diefer ,Periode' von einer Art tranzendenter
Vernunfteinheit abhängig. Das Mißverftändnis, als fei
die Spottfchrift über die ,Träume eines Geifterfehers' die
Umhüllung einer fkeptifchen Theorie, fei durch die Einschränkung
unferer Erkenntniffe auf Erfahrungstatfachen
und die Betonung der Grenzen des Verftandes veranlaßt.
,Man hielt die erfte Gedankenreihe für die pofitive Ergänzung
der zweiten und glaubte fo eine Verwandtfchaft zu
Hume konftatieren zu können. In Wirklichkeit ift das erfte
Moment nur ein anderer Ausdruck für das zweite' (S. 60. 58.).
Es fehle in der Tat jeder Hinweis, daß die Einficht in
die Verftandesgrenzen auf eine empiriftifche Theorie
geführt habe, was unter Vorausfetzung jener Anficht
doch der Fall fein müßte. Erfahrung fei in diefer Schrift
weder als Erkenntnismittel noch als Erkenntnisquell ver-
verftanden, fondern ,im naiven Sinne als Inbegriff der
Erkenntnisobjekte d. i. als Ausgangspunkt oder Betätigungsfeld
der Erkenntnis'. Die Erkenntnis felber fei
durchaus rationaler Natur. (S. 60.)

Dabei kommt natürlich alles auf den Begriff der
.Erfahrung' an. DieUnterfcheidung zwifchen der Erfahrung
als .Inbegriff der Erkenntnisobjekte' und der .Erkenntnis
felber', die durchaus rationaler Natur fein foll, erfcheint
mir nicht überzeugend. Vielmehr zeigen gerade die von
dem Verf. (S. 61 f.) angeführten Stellen, daß Kant die Erfahrung
als .Erkenntnismittel' betrachtet wiffen will. Auch
fonft ift der Verf. in der Behandlung des Erfahrungsbegriffes
wenig glücklich (z. B. S. 50 unten). Der Gedanke, den
Inhalt der vorkritifchcn Denkarbeit Kants vom Problem
des Irrationalen aus zu beleuchten, verwertet aber mit
Gefchick eines der wichtigften Fermente in Kants Entwicklung
und läßt die fleißige Arbeit als einen beachtenswerten
Beitrag zur Kantforfchung erfcheinen.

Dresden. Th. Elfenhans.

Sawicki Prof. Dr. Franz, Das Problem der Perlönlichkeit
und des Übermenfchen. (Studien zur Philofophie und
Religion, herausgegeben von R. Stölzle. Viertes Heft.)
Paderborn, F. Schöningh 1909. (VIII, 446 S.) gr. 8°

M. 9 —

Reizt fchon der Titel .Perfönlichkeit' an dem Buch
eines katholifchen Theologen, fo wird durch das Studium
die Fcrwartung nicht enttäufcht, fondern reichlich befriedigt
. Wir haben ein Buch vor uns, das verdient,
gründlich durchftudiert zu werden. Lefen follte es nicht

I nur jeder, der für fleh felbft das Modewort .Perfönlichkeit
' aus dem Bereich des Schlagworts in den des
Begriffs erheben, fondern auch jeder andere, der fleh zu
einem gerechten Urteil über beffere katholifche Literatur
verhelfen will, damit endlich einmal die Ungerechtigkeit
des Satzes „katholica non legimtur" vor den bellen Er-
zeugniffen der anderen Theologie zum Schweigen kommt.
In klarer überfichtlicher Weife wird im erften hifto-
rifchen Teil eine Darftellung der Entwicklung des
Begriffs von Kant an bis zu ganz modernen Autoren
gegeben. Es hieße den Autor beleidigen, wenn man ihre
Sachlichkeit hervorheben wollte. Der Darftellung der
Lehre felbft folgt immer eine Kritik, die fie in größere
Zufammenhänge hineinftellt, befonders immer mit der
Gotteslehre in Beziehung fetzt, die organifch mit ihr
zufammenhängt. So wird trotz aller Anerkennung an
Kant getadelt, daß er nur einen formaliftifchen Begriff
von der Perfönlichkeit kennt und von ihrem höchften
Ideal, der gotterfüllten Perfönlichkeit, nichts weiß. Der
ältere Fichte wird ähnlich gewürdigt: fo viel wichtige
Beftandteile er zu dem richtigen Begriff beigebracht hat,
fo bedauerlich bleibt feine Verkennung der Bedeutung,
die die Autorität hat, und fein Pantheismus. Hegel
kommt viel beffer weg: er erkennt das Wefen der P. in
der Entfaltung des wahren Geifteswefens und ftrebt, dem
fchrankenlofen Individualismus der vorigen entgegen,
einer Verhöhnung des Individuellen mit dem Allgemeinen
zu: denn er verlangt, daß fleh der Menfch als
abftrakte Perfönlichkeit aufgebe, um fleh als erfüllte im
großen Ganzen der Gemeinfchaft wieder zu finden.

1 Diefen Ton der Wechfelwirkung zwifchen dem einzelnen
und der Gemeinfchaft fchlagen dann Schleiermacher,
Kraufe und der jüngere Fichte an, fo fehr bei ihnen
der pantheiftifche Gottesbegriff zu bedauern ift. Nach

I den Philofophen werden die klaffifchen Dichter durchgenommen
; die harmonifche Durchbildung der Perfönlichkeit
bildet ihr Ideal, wenn auch in manchen Färbungen
. — Die Gegenwirkung gegen die alles abplattenden
Einflüffe der neuzeitlichen Kultur, wie fie in dem ausgeprägten
Individualismus der letzten Jahrzehnte vorliegen,
werden im allgemeinen mit Freude begrüßt; wenn auch
natürlich die Verwechslung der P. mit dem Recht, feine
Triebnatur auszuleben, ftark zurückgewiefen wird. Man
hat feine Freude an der gerechten Würdigung von
Nietzfche, Ibfen, Ellen Key und Carlyle; am
nächften ift Emerfon dem Ideal gekommen, weil er

I den Menfchen durch Liebe und innige Religiofität zum
Ziel führen will. Nach den Peflimiften werden mit großer
Anerkennung, freilich unter Vorbehalten ihrer Gottesideale
wegen, Eucken, Wundt und Paulfen befprochen. Den

| Schluß machen Theologen, zuerft Pfennigsdorf und

Joh. Müller, dann die Katholiken Deutinger, Schell
und Mausbach. — Der Rückblick könnte die Hauptprobleme
beffer herausarbeiten; es handelt fich m. E. um
folgende Punkte, wenn man den Begriff beftimmen will:
um das Verhältnis von Geiftesleben zum Triebleben, von
Einzelwefen zur Gefellfchaft, von Freiheit zur Autorität
. Gefchichtliche Überfichten haben doch den Zweck,
uns den Stoff umfaffend herauszuftellen, um den es
fich bei dem Problem handelt. Wie fo häufü bei
fyftematifchen und praktifchen gefchichtlichen °Über-
fichten, habe ich auch hier die Längs- und Querfäden