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Ausgabe:

1910 Nr. 12

Spalte:

358-360

Autor/Hrsg.:

Lang, Otto

Titel/Untertitel:

Die Catene des Vaticanus Gr. 762 zum ersten Korintherbrief, analysiert 1910

Rezensent:

Heinrici, Carl Friedrich Georg

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357

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 12.

358

herausfordert. In der Einleitung feines Werkes fcheidet j
der Verfaffer beftimmt die verfchiedenen in Betracht
kommenden Gebiete der Arbeit an den Evangelien von
einander: das der Textkritik, der fynoptifchen LIterar-
kritik, der Erklärung und der auf das Leben Jefu zurückdringenden
hiftorifchen Kritik. Sein Ideal wäre, daß j
jedes diefer Arbeitsgebiete möglichft felbftändig und ab-
fchheßend für fich in Angriff genommen würde. So J
hält er es auf der einen Seite für denkbar, daß einmal
durch fortgefetzte Arbeit der Text der Evangelien fo
ftabiliert werden könnte, daß der Erklärer des Evangeliums
diefen einfach übernehmen könnte. Andererfeits
möchte er fein Gefchäft, das der Erklärung des Matthäusevangeliums
, möglichft von aller höheren Kritik, von der
Frage nach dem Hiftorifch-Urfprünglichen mit Bezug
auf das Leben Jefu löfen. Er wolle eben nur das Matthäusevangelium
erklären, diefe individuelle Auffaffung,
die gerade der Evangelift vom Leben Jefu habe. — Ich
fürchte, diefe Art, eine Trennung der Arbeitsgebiete |
durchzuführen, wird fich nicht aufrecht erhalten laffen
und dem Kommentarbetrieb nicht förderlich fein. Die
Textkritik wird fich z. B. niemals aus dem Zufammen-
hang mit der Erklärung und der Literarkritik loslöfen
laffen; ja namentlich werden Textkritik und Literarkritik
viel mehr im Zufammenhang behandelt werden müffen,
als das bisher gefchehen ift, wie denn der Verfaffer felbft
an verfchiedenen Stellen feines Buches darauf hinweift,
wie literarkritifche Probleme in textkritifche einmünden.
M. E. wird der Zeitpunkt niemals kommen, daß der Erklärer
eines Evangeliums einfach einen anerkannten Text
zugrunde legen könnte. Er wird fich vielmehr diefen
auf Schritt und Tritt und in inniger Verbindung mit
feiner erklärenden Arbeit erkämpfen müffen. Andererfeits
wird man ein wirkliches Verfländnis des einzelnen Evan-
geliften niemals erzielen ohne jede höhere hiflorifche Kritik.
Will man die Eigentümlichkeiten des einzelnen Evange-
liften richtig erkennen und abfchätzen, fo muß man fich
notwendig ein möglichft klares Bild machen von der ur-
fprünglichen, oder befcheidener geredet, von der relativ
älteren Schicht der Überlieferung, die er vorausfetzt. Und
das geht ja gar nicht ohne ein mit innern Gründen
arbeitendes, kritifch hiftorifch.es Verfahren. Freilich bewegt
man fich bei diefer Arbeit in einem gewiffen Zirkel:
das Urteil über das hiftorifch zugrunde Liegende ift ab- I
hängig von unferm Urteil über die Eigenart der Quellen
und diefes wieder von unferem Bilde, das wir uns vom
hiftorifchen Tatbeftand machen. Aber wir müffen in
diefem Zirkel arbeiten und können die eine Arbeit gar
nicht von der andern löfen.

Sehr oft kann doch auch der Verfaffer eine kurze
Erörterung des hiftorifchen Wertes der evangelifchen
Überlieferung nicht vermeiden. Man vergleiche feine I
Erörterungen am Schluß der erften beiden Kapitel (mit 1
ihrer beinahe verblüffend konfervativen Haltung), ferner
die Ausführungen über den Eingang der Bergpredigt .
Mtth. 5,17 ff. (echte Worte Jefu, aber vielleicht Paradoxe [
des Augenblicks) oder über Petrus als den Eelfen der
Kirche Mtth. 16.16 ff. Sonft aber wird man hier überall
viel vermiffen, deffen Erörterung doch auch zum tieferen
Verfländnis des Evangeliums dienen würde. Wie viele [
Fragen knüpfen fich z. B. an das Gleichnis von den j
törichten und klugen Jungfrauen und an die Schilderung
des großen Endgerichts Mtth. 25, — freilich alles Fragen,
die nicht behandelt werden können, ohne daß man das j
Problem des Hiftorifch-Urfprünglichen berührt. Hier 1
und an vielen Oiten läßt der Kommentar völlig im Stich.

Aber um von dem abzufehen, was wir in dem Kommentar
vermiffen, fo ift das Gebotene überall zuverläffig
und brauchbar, und das exegetifch-hiftorifche Urteil, ab-
gefehen von einer Reihe überrafchender Konfervatismen,
ew gutes und wohlerwogenes.
Göttingen. Bouffet.

Lang, cand. min. Otto, Die Katene zum erften Korintherbrief

kritifch unterfucht. Lic.-Diff. Jena 1908. (Leipzig,
J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung.) (III, 38 S.) gr. 8°

M. I —

Lang, Lic. Otto, Die Catene des Vaticanus Gr. 762 zum
erften Korintherbrief, analyfiert. (Catenenftudien, herausgegeben
von H. Lietzmann. 1.) Leipzig, J. C. Hinrichs
'fche Buchhandlung 1909. (VII, 48 S.) Querfolio.

M. 7 —

In die Catenenforfchung ift lebhaftere Bewegung gekommen
, feitdem die berliner Akademie der Wiffen-
fchaften dafür eingetreten ift und Hans Lietzmann die
Leitung anvertraut hat. Sein Vorgehen ift fachgemäß.
Schritt vor Schritt eröffnet er die Bahn, die dazu führen
foll, die Wertftücke der patriftifchen Literatur, die in
den Catenen erhalten find, kritifch zu flehten und nach
ihrer Bedeutung in volles Licht zu ftellen. Da gilt es
zunächft, die fchwer zugänglichen Quellen leichter nutzbar
zu machen. Hierfür leiftet die Photographie der Händ-
fchriften die beften Dienfte, indem fie durch genaue
Wiedergabe der Handfchrift die leicht zugängliche zu-
verläffige Grundlage fchafft für alle weiteren Unter-
fuchungen. Die kritifche Ausnutzung der Catenen fordert
fodann als Vorarbeit eine Analyfe, die den verwickelten
Tatbeftand der dort gefammelten Fragmente überfichtlich
macht und auf feine Quellen prüft. Damit find die erforderlichen
Vorausfetzungen gegeben für alle weiteren
Unterfuchungen. Es fleht zu erwarten, daß durch die-
felben nicht nur die Kenntnis der Patriftik erweitert und
vertieft wird, fondern auch die ausfchlaggebende Macht
der Schriftauslegung für den Erweis der Glaubensfätze
und die Fertigung der Überzeugung in allen religiöfen
und theologifchen Fragen ftärker betont wird; denn
Schriftauslegung, Dogmenbildung und chriftliche Kultur
gehören, wie eben die Catenen am einleuchtendften be-
weifen, in der alten Kirche eng zufammen.

Die beiden Arbeiten Längs find die erften Früchte
der alfo in Angriff genommenen Catenenforfchung. Die
erfte unterfucht die von Cramer aus Cod. Paris. 227 im
Jahre 1844 (nicht, wie Händig gedruckt ift: 1841) herausgegebene
Catene zu 1. Kor.; die zweite liefert in einer
autographifchen tabellarifchen Überficht, für welche die
Vorlage des Cod. Paris., der Cod. Vat. Graec. 762 zugrunde
gelegt ift, die Probe auf die Richtigkeit der in
der erften Schrift gewonnenen Ergebniffe. Ziel der Arbeiten
ift, die Zuverläffigkeit der Überlieferung der in
der Catene gefammelten Fragmente zu prüfen. Be-
ftimmter gefagt: es foll ermittelt werden, ob der Catenen-
fchreiber für feine Sammlung die Originalfchriften benutzt
hat, oder ob auch er bereits Sammlungen von Exzerpten
zugrunde legt. Daß aber für die Eröffnung diefer Unterfuchungen
die Catene zum I. Kor. gewählt ift, entfpricht
ihrem Wert. Während die Catene zum 2. Kor. überwiegend
aus kurzen Scholien befteht, gibt die zum 1. Kor.
eine reiche Zahl bedeutender und inhaltreicher Stücke
aus der beften patriftifchen Literatur, die zum Teil nur
in ihr erhalten find.

Bei der Fülle des Materials mußte fich der Verfaffer,
um fefte Punkte für die Wertung zu gewinnen, beftimmte
Grenzen ziehen. Er unterfucht daher in der erften Schrift
das Verhältnis der Cramercatene zu dem Kommentar
des Theodoret und des Oecumenius, letzterer ein Mittelding
zwifchen Catene und eigener Auslegung, ferner zu
der Catene des Niketas, bei der hätte bemerkt werden
müffen, daß von Lami nur die Auslegungen zu 1. Kor.
1—8 abgedruckt und mit einer intereffanten Beigabe
von zwölf Erotapocrifeis bereichert find. Durch diefe
an gut ausgewählten Stücken vorfichtig durchgeführte
forgfältig abwägende Vergleichung liefert Lang den
Nachweis, daß Niketas und Oecumenius wohl eine Vorlage
benutzt haben, welche der letztere durch Zuziehung von