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Ausgabe:

1910 Nr. 11

Spalte:

348-349

Autor/Hrsg.:

Schiele, Friedrich Michael

Titel/Untertitel:

Geschichte der Erziehung. Vier Vorlesungen 1910

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. Ii.

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macherfche Thefe, daß es jeder evangelifchen Dogmatik
gebührt', ,Eigentümliches zu enthalten' keineswegs außer
Geltung gefetzt wird.

Der Unterzeichnete würde denn auch — das braucht
nicht erft getagt zu werden — trotz Übereinltimmung |
mit dem Grundgedanken doch manches anders formulieren
. Es erfcheinen ihm einzelne der Einwürfe Reifchles
nach wie vor erwägenswert. So ift ihm beifpielsweife
unabhängig von diefem gleichfalls die Frage aufgeftiegen,
ob es richtig fei, die Beurteilung des Todes Jefu der
gefchichtsphilofophifchen Betrachtung ftatt der Glaubenserkenntnis
als folcher zuzuweifen. Die hervorragende I
Bedeutung des Kaftanfchen Buchs rechtfertigt es, daß ;
er, davon und von einigen fonftigen Bedenken Reifchles
abgefehen, noch die eine oder andere Differenz an diefer
Stelle zum Ausdruck bringt.

Im Mittelpunkt des Werkes fteht der Gedanke, daß
der Glaube an die Gottheit Jefu das Heil bedeute. Wäre
es nun nicht möglich und erfprießlich gewefen, in noch 1
ftärkerem Maße als durch die verfchiedenen Fingerzeige, j
die der Autor gibt, zu veranfchaulichen, inwiefern und
dank welchen pfychifchen Eindrücken durch folchen I
Glauben das Heil vermittelt wird? Der gut reformatorifche
Begriff der fiducia erga Deum, der in Kaftans Dogmatik I
auffallend zurücktritt, wenn nicht ganz fehlt, hätte da
gute Dienfte leiften können. Läßt fich doch mittels |
einer pfychologifchen Analyfe zeigen, daß gerade der
Glaube an die Gottheit des Jefus, der gewiffe Hauptzüge
des hiftorifchen Jefus an fich trägt, imftande ift, das chrift-
liche Gottvertrauen trotz der in Sünde, Übel und Tod
liegenden Hinderniffe diefes Vertrauens zu begründen und
fo einerfeits (nach evangelifcher Auffaffung) zum Befitz ;
der Sündenvergebung und der Anwartfchaft auf ewiges
Leben, zum Frieden mit Gott und zur Gemeinfchaft
mit Gott, anderfeits zur Freiheit von der Welt und zur
fittlichen Erneuerung zu verhelfen. Ein folcher pfycho-
logifcher Nachweis hätte nicht nur das Verftändnis für
die Bedeutung des Glaubens an Jefus gefchärft; er wäre j
vielleicht auch den zentralen Paragraphen 55 (Erlöfung
oder Wiedergeburt) und 56 (Rechtfertigung oder Verformung
) zu ffatten gekommen. Denn er hätte zweifelsohne
die Erkenntnis gefördert, daß nur das Wort von
Tod und Auferftehung zufammengenommen etwas
wirkt, wie fich insbefondere bei Paulus zeigt. Dasfelbe,
in etwas weiterer Faffung ausgedrückt: er hätte verdeutlicht
, wie gerade die Verkündigung von dem niedrigen, j
den Sündern und Verlorenen nachgehenden, in Knechts- !
gefialt aufgetretenen und am Kreuze schimpflich geworbenen
Jefus als dem Herrn der Herrlichkeit, dem In- |
haber und Bringer des höchften Gutes, wo fie bloß I
Glauben findet, das Herz fchuldbewußter Menfchen, die
unter dem Druck der Sünde und des Todes feufzen,
für Gott und feine Gaben aufzufchließen und fie fo von
der ,Welff zu befreien und fittlich zu erneuern vermag. 1
Und es wäre die nicht einwandfreie Neigung weggefallen,
auch nur begrifflich zwifchen dem Tod Jefu als dem !
Hauptmittel der Verföhnung und der Auferftehung Jefu
als dem Hauptmittel der Erlöfung zu unterfcheiden. —
Nach § 58 (Das Heil als das Werk Jefu Chrifti [dreifaches
Amt]) kommt beim prophetifchen Amt das Heil als ein |
ganzes, beim hohepriefterlichen die Rechtfertigung und j
Verföhnung, beim königlichen die Wiedergeburt und
Erlöfung insbefondere in Betracht. Es liegt in der i
Natur der Ämterlehre als eines bloßen Rahmens für die j
Gruppierung eines beftimmten Inhalts, daß man fie auch j
anders ausfüllen kann. — Was die Lehre von der Kirche
anbetrifft, fo konkurrieren in ihr ja wohl zwei Probleme,
einerfeits die Frage, ,welches ift die Gemeinfchaft derer,
die Teil haben am Heil?' und anderfeits die Frage, Reiches
ift die Gemeinfchaft, die das Heil vermittelt?'
Beide Fragen berühren fich aufs innigfte, find jedoch
darum nicht identifch. Bei Kaftan liegt nun augenfchein-
lich das Schwergewicht durchaus auf der Beantwortung j

der erften Frage. Aber ift nicht die zweite, die prak-
tifch bedeutfamere, doch auch in der Dogmatik zu be-
rückfichtigen? Wenn das der Fall wäre, fo würde die
Definition der Kirche als der ,Gemeinfchaft aller derer,
die durch den Glauben mit Chriftus zur Einheit Eines
Geiftes und Lebens verbunden find, einerlei, in welchem
Lebensftand fie fich befinden, ob fie bereits abgefchieden
find oder noch auf Erden bleiben', nicht völlig genügen.
Auch beftände das Verhältnis der Kirche zu den Gnadenmitteln
nicht nur darin, daß fie deren ,Erzeugnis' ift,
und ebenfowenig ihr Verhältnis zum Reich Gottes nicht
bloß darin, daß fie ,das Gottesreich jm gegenwärtigen
Stadium feiner Verwirklichung' ift.

Noch zwei Bemerkungen zum Schluß, die fich jedoch
auf bloß Formales beziehen. Einmal: S. 86 heißt es:
,Das Heilsgut ift ein ewiges, transscendentes, nur in ihm,
in Gott liegt das Ziel des Menfchen, aber das fittliche
Leben in der Welt ift, nicht nach willkürlicher göttlicher
Beftimmung, fondern um des fachlichen Zufammenhangs
willen, der notwendige Weg zu diefem Ziel'. Letzteres
Bild gibt doch wohl die eigentliche Anficht des Autors
nicht völlig unmißverftändlich wieder. Denn diefe geht
dahin, daß die Sittlichkeit ,ein Moment' in dem ,ewigen
Leben' ift (S. 523), eine Auswirkung der bereits hienieden
erlangten und im Jenfeits zu vollendenden Gemeinfchaft
mit Gott. Und dann: durch die Form der Ausführungen
über das Penfum der Apologetik (§ 11) wird der Eindruck
erweckt, als ob fich deren Aufgabe, abgefehen
von der Bearbeitung der gefchichtsphilofophifchen Probleme
, darauf befchränkte, die Unantaftbarkeit der reli-
giöfen Erkenntnis durch die wiffenfchaftliche Erkenntnis
darzutun. Er würde indeffen der Meinung des Verfaffers
nicht widerfprechen, wohl aber entfprechen, wenn hinzu
gefügt würde: fie hat außerdem darauf hinzudeuten, daß
der chriftliche Glaube (und alfo auch die daraus hervorgehende
Erkenntnis) nicht willkürlich, fondern auf Grund
von Tatfachen entftanden ift, und daß er fich bereits
hienieden als gültig erweift, weil notwendig für weltüberlegenes
und wahrhaft fittliches Leben.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Schiele, Priv.-Doz. D. Friedrich Michael, Gefchichte der
Erziehung. Vier Vorlefungen, gehalten im erften Stuttgarter
Hochfchulkurfus für Lehrer und Lehrerinnen
1909. Leipzig, Dürr'fche Buchhandlung 1909. (166 S.)
8° M. 2.40

In vier Vorlefungen hat Sch. auf dem erften Stuttgarter
Hochfchulkurs für Lehrer und Lehrerinnen die
Gefchichte der Erziehung behandelt. Das bedeutete natürlich
eine fehr große geiftige Zucht in der Anordnung
des Stoffes. Die erfte Vorlefung behandelt die Erziehung
der Naturvölker, der Völker mit Sippenverfaffung, der
ftändifch gegliederten alten Kulturvölker und der Griechen
und Römer. Die zweite umfaßt die Pädagogik des
Mittelalters, die dritte Humanismus und Reformation,
fowie die Erziehung im Fürftenftaat, die vierte die
Grundlagen der neuen Zeit und Deutfchland im 19. Jahrh.
Aus dem Inhalt der erften Vorlefung geht fchon der
Standpunkt hervor, von dem aus die Erziehung — nicht
die Pädagogik! — hier erfaßt wird; es ift der foziolo-
gifche Standpunkt, der dem Verf. durch Auffätze von
Paul Barth nahegebracht worden ift. So führt Sch.
mit der Einfeitigkeit, wie fie immer folchen Umwandlungen
bisheriger Methoden eigen ift, diefen Gefichtspunkt
durch: neue hlrziehungsweifen find immer durch foziolo-
gifche Änderungen der Struktur des Volkskörpers bedingt,
wie auch folche ftets jene im Gefolge haben. Ich habe
mich von der Richtigkeit diefes Standpunktes nicht überzeugen
können, fo dankenswert es ift, daß Sch. überhaupt
einmal den Blick auf diefe mitbeftimmenden Umftände gelenkt
hat. Dabei kann er ihn doch felber nicht überall fo