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Ausgabe:

1910 Nr. 11

Spalte:

343-345

Autor/Hrsg.:

Maier, Heinrich

Titel/Untertitel:

An der Grenze der Philosophie. Melanchthon - Lavater - David Friedrich Strauß 1910

Rezensent:

Hoffmann, Heinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 11.

344

Maier, Prof. Heinrich. An der Grenze der Philofophie. | bruch kam. Diefe ,Ausfichten in die Ewigkeit' werden

Melanchthon—Lavater—David Friedrich Strauß. Tübingen
, J. C. B. Mohr 1909. (VII, 405 S.) gr. 8°

M. 7.60; geb. M. 9 —
Der Verfaffer vereinigt in diefem Buche drei Auf-

entfprechend dem Thema nicht nach ihrer religiöfen,
fondern nach ihrer philofophifchen Seite hin analyfiert,
vor allem aber — hier liegt der Schwerpunkt der Arbeit
— die ,Phyfiognomitchen Fragmente'. Aus Lavaters
fpäterer Zeit wird fein Verhältnis zu Jacobi, Reinhold,

fätze, von denen zwei fchon früher erfchienen find, der j Leffing und Kant behandelt und auf feine .Gefpräche
erfte im Archiv für Gefchichte der Philofophie 1897/98, J über Wahrheit und Irrtum, Sein und Schein' als Quelle

der zweite in der Züricher Lavater-Denkfchrift 1902.
Der dritte erfcheint erftmalig. Die beiden erften find
überarbeitet und verfchiedentlich, aber nicht wefentlich

feiner Erkenntnistheorie in jenen Jahren eingegangen.
Neu gegenüber früher find kleinere Glättungen und
Verbefferungen, befonders in der Analyfe der Phyfio-

verändert. Gemeinfam ift ihnen nur, daß es fich um gnomifchen Fragmente, Partien, die den hiftorifchen

Männer handelt, deren Geiftesarbeit an der Grenze
der Philofophie und Theologie, des Glaubens und Wif-
fens, lag.

Der Auffatz über,Melanchthon alsPhilofoph' beginnt
mit einer Skizzierung der gefchichtlichen Voraus-

Rahmen erweitern (über die deutfche Aufklärung und
Rouffeau) und der Schluß, in dem fehr energifch die
große Wirkung betont wird, die Lavater als einer der
Bahnbrecher der Wirklichkeitsbetrachtung und Stimmung
gehabt hat, aus der die klaffifche Epoche und die Ro-

fetzungen des Melanchthonifchen Denkens: Der Spät- 1 mantik erwuchfen. M. E. hat Maier damit völlig recht,
fcholaftik und des Humanismus. Dabei wird in der jetzt j Auch für die religiöfe und theologifche Entwicklung, in
mehr und mehr üblichen Weife der Unterfchätzung der I der Schleiermacher allzulange als eine Art dem ex
Scholaftik entgegengetreten und die Schranke von Re- machina erfchien, lind Männer wie Hamann, Herder

naiffance und Humanismus, insbefondere die dilettantifche
und oberflächliche Art ihres Philofophierens hervorgehoben
, ohne daß es doch zu einer falfchen Geringfehätzung
derfelben käme. Dann wird der Entwicklungsgang
Melanchthons gefchildert, durch die Jahre hindurch,

und Lavater von hoher Bedeutung, und es ift gut, daß
neuerdings unfer Intereffe fo ftark auf fie hingelenkt wird.

Maiers Auffatz leidet etwas an der Art feiner Ent-
ftehung. Er hatte in der Lavater-Denkfchrift diefen
nur von einer Seite zu behandeln und mußte fich hüten,

in denen er unter Luthers Einfluß Philofophie und 1 mit anderen Bearbeitern zu kollidieren, und feine Aufgabe
Theologie fchroff voneinander trennte, bis zum neuen | war nicht die dankbarfte. Denn Lavater war doch nicht

Hervorbrechen feiner humaniftifch-philofophifchen Inter-
effen, von denen nachgewiefen wird, daß fie doch für
die Reformation felbft ein Bedürfnis waren. Es folgen
grundlegende Erörterungen über Melanchthons Syftem,
über feinen prinzipiellen Anfchluß an Ariftoteles und

nur ,kein Philofoph im Sinne der Schule' (fo Maier jetzt
S. 143), fondern überhaupt ,im Grunde kein Philofoph'
(fo Maier in der Denkfchrift). Das was an Lavater be-
deutfam war, ift außer feinem religiöfen Glauben feine
gefühlsmäßige Lebensauffaffung, fein intuitiver Senfua-

die trotzdem vorhandene ftarke tatfächliche Abhängigkeit j lismus. Treffend zeigt uns das kein anderer als der
von Cicero und Galen. Daran fchließt fich eine Analyfe i Verfaffer felbft. Aber durch fein Thema wird er doch
der Bearbeitungen, die die einzelnen Difziplinen bei daran gehindert, die Perfönlichkeit Lavaters im Kerne
Melanchthon gefunden haben, mit eingehendem Nach- ! ihres Wefens fo gefchloffen und plaftifch darzuftellen,
weis der hiftorifchen Herkunft der darin enthaltenen j als es bei anderer Faffung desfelben möglich gewefen
Anfchauungen. Den Abfchluß bildet die Behandlung j wäre. Auch fo bietet der Auffatz Wertvolles genug,
des Begriffes der lex als des inneren Bandes des Me- , Als für uns Theologen befonders intereffant fei auf die
lanchthonifchen Syftems. Darftellung der Anfchauungen Lavaters vom Wefen der

Maier entwickelt in diefer Arbeit, die fchon als I Religion, ihrer Selbfländigkeit gegenüber der Moral, der
Zeitfchriftenauffatz ihre Wirkung ausgeübt hat, im wefent- j Verfchiedenartigkeit ihrer Ausprägung in den verfchie-
lichen die Anfchauungen von Melanchthons Philofophie, denen Individuen und der darausfolgenden Toleranz-
die wir Dilthey und Troeltfch verdanken. Ihre Eigenart j pflicht (S. 234—37) hingewiefen. Sie erinnern frappant
liegt zunächft darin, daß fie abgerundeter und leichter 1 an Schleiermacher.

lesbar ift, als diefe grundlegenden Forfchungen. Wie
verftändlich ift z. B. der Gedanke von der Ariftotelifchen
Philofophie als der betten Ausprägung der lex naturae
S. 62 ff. gemacht! Außerdem aber gibt Maier, da auch

In feinem Strauß will Maier ,einen tieferen Einblick
in den inneren Zufammenhang und die genetifche Entwicklung
der Welt- und Lebensauffaffung des Mannes
gewinnen'. Damit ift in der Tat der Charakter diefer

er eingehend die Quellen gelefen hat, ein eigen gefärbtes Arbeit ausgedrückt. Sie zeichnet fich durch eindringende
Bild. Insbefondere hebt er ftark hervor, daß die neuen j Analyfe und ftraffe Auftinanderbeziehung der einzelnen

humaniftifchen Elemente in der Philofophie Melanchthons
nicht das Übergewicht haben, und bietet dementfprechend
zahlreiche Einzelhinweife auf die Übernahme fcholafti-
fcher Schultraditionen durch Melanchthon, z. B. für feine
Dialektik (S. 75), Pfychologie (S. 94), Ethik (S. 117 ff)
und Rechtsauffaffung (S. 116). Da Renaiffance und Humanismus
ein neues philofophifch.es Wiffen nicht ge-
fchaffen hatten, konnte das gar nicht anders fein (S. 136).

Dem Urteil, daß es für Melanchthon als den Theoretiker
des reformatorifchen Glaubens eine unabweisbare
Aufgabe war, die reformatorifchen Grundgedanken mit
dem vernünftigen Erkennen in Zufammenhang zu bringen,
kann Referent nur zuftimmen.

In dem Auffatz über ,Lavater als Philofoph und
Phyfiognomiker' wird nach einer Schilderung der deut-
fchen Aufklärung, von der Lavater ausging, gezeigt, wie
i n einem ungedruckten Manufkript über ,die unausdenk-
Teibarkeit des Raumes und der Zeit' feine phan-
tafievolle Art fchon hervortrat, und wie im vierten Teil
der ,Ausfichten in die Ewigkeit' feine der Aufklärung

Entwicklungsfladien aus. Den hifiorifch-kritifchen Leifiun-
gen Straußens wird nicht näher nachgegangen, fondern
fie werden nur in Betracht gezogen, infofern fie mit
feiner Welt- und Lebensanfchauung in Zufammenhang
flehen. In der Beurteilung befleißigt fich Maier
möglichfter Objektivität, ohne doch fein Urteil ganz
zurück zu halten. Er teilt Einwände nicht, die wir
Theologen Strauß gegenüber zu machen pflegen, aber
auch nicht die faft rückhaltlofe Zuftimmung Zieglers zu
Strauß. Befonders fein herausgearbeitet fcheint mir der
Nachweis, wie fehr fich Strauß in feinem Leben Jefu
von der genuinen Hegelfchen Auffaffung der Gefchichte
und des Mythus unterfcheidet: Im Gegenfatz zu den
Behauptungen der Schlußabhandlung unterdrückte er
in der Unterfuchung felbft den einen Beflandteil des
romantifchen Mythusbegriffes, nämlich den, daß die
fchaffende Kraft zur Entflehung des Mythus eine philo-
fophifche Idee fei. Darauf fußend, weift Maier den inneren
Zufammenhang zwifchen der Glaubenslehre und dem
Leben Jefu nach. Von dem dort vorliegenden Bruch

fchroff entgegengefetzte Gefühlsftimmung voll zum Durch- [ zwifchen Glauben und Wiffen wird gezeigt, daß er