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Ausgabe:

1910 Nr. 11

Spalte:

341-342

Autor/Hrsg.:

Tyrrell, George

Titel/Untertitel:

Christianity at the Cross-Roads 1910

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 11.

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gefchildert ift. Dadurch erfchwert der Verf. dem Lefer,
ein richtiges Bild von dem organifchen Aufbau der Ge-
fchichte zu erhalten, es wird dem Lefer nicht mit genügender
Deutlichkeit zum Bewußtfein gebracht, daß der
Hauptherd des modernen Ultramontanismus Frankreich
und Belgien gewefen ift. Für glücklich halte ich es
dagegen, daß St. mit Hafe, Weingarten und anderen als
Einfchnitt nicht das Jahr 1789 oder 1806, fondern 1814
gewählt hat. Ebenfo ift mir fympathifch, daß das Handbuch
nach dem Vorgange von Karl Müller und Loofs
zum Anfangstermin der letzten Periode der KG. das
Jahr 1689 (ftatt des früher üblichen 1648) gewählt hat.
Diefe letzte Periode ift überfchrieben: ,Vierter Teil: Die
Neuzeit'; doch bemerkt St. dazu, die Scheidelinie zwifchen
dem III. und dem IV. Teil fei ,von weit geringerer hiftori-
fcher Bedeutung als die durch Renaiffance und Reformation
gegebene Grenze' (S. 3).

Der Druck ift forgfältig, die verwandte Typengattung
(die fog. .Offenbacher Schwabacher') recht gefällig; an
die Eigentümlichkeit, daß auch lateinifche Wörter in
Fraktur gefetzt find, was die Typengattung erlaubt, gewöhnt
fich der Lefer rafch. Unfchön finde ich dagegen

Endrefultat der ganzen Religionsgefchichte, den Inbegriff
aller denkbaren Werte bildete; der ebenfo auch die
Sakramente entbehren mußte, in welchen doch vorzugs-
weife der die Kirche myfteriös durchwaltende Chriftus
als göttlicher Geift die Seinen erfaffen und aus den Niederungen
des Weltlebens erheben will. Aber alle von
feiten des gegenwärtigen römifchen Syßtems erfahrenen
Schnödigkeiten können und dürfen ihn nicht irre machen
in der Gewißheit, daß der ganze von dem hiftorifchen
Chriftus der Kirche hinterlaffene Schatz allein im Katholizismus
in feiner Integrität erhalten geblieben ift, und
daß auch der Katholizismus allein am letzten Ende fähig
fein wird, die Univerfalreligion der Menfchheit aus fich
herauszubilden. Wo die Wirklichkeit jetzt noch verfagt,
da liegt eben nur prophetifche Antizipation, apokalyp-
tifche Wahrheit vor. Nur die keinerlei immanente Entwicklung
zu lichterem Dafein kennende Intervention des
Übernatürlichen trottet für die Dunkelheiten des Erden-
dafeins. Den Organismus aller Übernatürlichkeiten befitzen
wir in der Kirche. Ein jeglicher gefchichtlichen
Erkenntnis bares, aber tapfer durchgeführtes Syftem von
Selbfttäufchungen befähigt den Verf., alle leitenden Ge-

das Abkürzungsverfahren bei den Verfaffernamen in den i danken des Katholizismus in den Evangelien aufzufinden
Literaturangaben: die abgekürzten, aber ohne Schluß- j (was haltbar daran ift, fteht S. 36 unten), ja den gefamten

punkt gelaffenen Vornamen und der Vatersname werden
zu einem Worte zufammengezogen, was recht häßliche
Wortbilder ergibt. Häufig ift die Lektüre dadurch recht
erfchwert, daß kleinere Stücke des Textes zwifchen Literaturangaben
verfprengt find und umgekehrt. Für ftuden-
tifche Lehrbücher empfiehlt es fich, Papier zu verwenden,
auf das man mit Tinte fchreiben kann, ohne daß die
Schrift zerfließt.

Zum Schluß ein paar Geringfügigkeiten: § 1013:
Semlers Abhandlung von freier Unterfuchung des Kanon

Befitzftand der Kirche, alfo z. B. auch .Sakrament, Tempel,
Priefter und Altar' (S. 217), ganz infonderheit die heilige
Kommunion (S. 276), direkt auf Chriftus zurückzuführen
und gegenüber dem liberalen Proteftantismus' als dem, hier
überall bekämpften, letzten Feind zu verteidigen. Freilich
muß man alle diefe Schätze nicht nach irdifchem Zahlenwert
berechnen, fondern vom Standpunkt der abfoluten
Tranfzendenz aus werten, welcher allein dem Standpunkt
der chriftlichen Religion entfpricht. Dabei kann und will
fich der Verf. der Erkenntnis nicht erwehren, daß gerade

erfchien 1771—75, bez. 76. S. 119 frappiert die Kapitel- j die tranfzendenten Ausfagen der Evangelien überall den
überfchrift ,Kataftrophe und Peripetie', weil man diefe Stempel der Zeitbildung an fich tragen und daher ihrer
beiden Ausdrücke in umgekehrter Reihenfolge gewöhnt | .Form' nach Umbildung in andere Ausdrucksweifen ver-
ift. § 285: Nietzfche war 1869—79 Profeffor in Bafel. | tragen. Was bleibt dann aber von diefen höchften
§ 343: Das Konkordat mit Portugal wurde 1857 vereinbart, i Wahrheiten, auf die alles ankommt, noch faßbares, über
§413: Die fpanifche Verfaffung datiert vom Jahre 1876. das .Symbol' hinausliegendes übrig? Der Verf. kann
§421: Die Iglesia EspaTwla befteht feit 1880 (vgl. Loofs, j davon nur in überfchwenglichen Worten reden. Aber dazu
Symbolik 1, S. 417 Anm. 1). § 524: Die Korporations- i und überhaupt zu dem Wagnis, fich auf folchen höheren
und Testakte in England wurde 1829 befeitigt. § 5317: j Standpunkt hinauf zu fchwingen, befähigt ihn — und das
Die Generalfynode der amerikanifchen Lutheraner wurde j ift der Kern des Neuen, was uns geboten wird — fein Ver-
1820 begründet. S. 295: Der Rufname der Klettenberg ftändnis der neuteftamentlichen Apokalyptik, überhaupt

war nach dem Goethe-Jahrbuch (z. B. Bd. XXX, 1909,
S. 253) Sufanne, nicht Katherina.

Leipzig. Karl Heuffi.

Tyrrell, George, Christianity at the Cross-Roads. London,
Longmans, Green and Co. 1909. (XIII, 282 p.) 8° s. 5 —
Schon mehrfach ift in diefer Zeitfchrift (zuletzt Jahrgang
1907, Sp. 20f. 695 f.) die kirchenpolitifche und theologifche
, überhaupt die religiöfe Bedeutung des Mannes j weife gern mit ethifchen Werten, die doch in feiner

der eschatologifche Schlüffel, den er mittlerweile zu handhaben
gelernt hat. Am deutlichften färbt unfere deutfche
.konfequente Eschatologie' in der S. 54f. befchriebenen
Periode und Tendenz des meffianifchen Auftretens Jefu
ab; auch die Interimsethik kommt S. 51. 78 zum Vor-
fchein. Abgefehen von diefer neueften Entdeckung bietet
freilich die deutfche Kritik nur den Anblick endlofer
Widerfprüche und refultatlofen Treibens (S. 35). Sie
operiert bei der Betrachtung der Leiftung Jefu vorzugshervorgehoben
worden, deffen letzte, kurz vor feinem am
12. Juli&ig09 erfolgten Tode veröffentlichte, Kundgebung
hier vorliegt. Sie läßt feine Theologie noch als im Fluß
begriffen und gerade noch auf einem Punkt angekommen
erfcheinen, au f welchem fie trotz refolutefter Flucht in
die Ewigkeit und Übernatürlichkeit fchwerlich zur Ruhe
gekommen wäre. Aber wie die früheren Werke, Lex

Verkündigung eine durchaus untergeordnete Stellung einnehmen
follen im Vergleich mit allem, was Tranfzendenz,
Eschatologie, Apokalyptik, Übernatürlichkeit heißt.
Allein nach dem Ünausfprechlichen geht der ewige Dürft
der Religion und volles Genüge findet er nur in der
katholifchen Weltanfchauung als dem .Mikrokosmus' aller
Relig ion (S. 279). Der ganze Abfchnitt über den .Chriftus

credendi u. a., fo fordert diefes letzte Intereffe und Teil- des Katholizismus' (S. 62—90) dient dazu, dem Miß-
nahme heraus durch die ganz ungewöhnliche Energie verftändnis zu begegnen, als bedeute der Modernismus
der religiöfen Natur, die fich hier ausfpricht; man wäre eine Bewegung in der Richtung nach der ethifchen Ver-
verfucht, von unbedingtefter Einfeitigkeit zu fprechen, : dünnung der Religion im Proteftantismus (vgl. S. 220).
wenn für folche Naturen neben der Religion überhaupt j Wir unfererfeits unterfchreiben diefe Scheidungsakte
noch irgend ein andere Seite in Betracht kommen, denk- gerne, nachdem fogar in der moderniftifchen Wochenfchrift
bar werden könnte. Aber das gibt es eben nicht für ,das neue Jahrhundert' 1910, Nr. 14—16 der bekannte

diefen Führer des englifchen Modernismus, in welchem
uns der intereffante Anblick eines Katholiken geboten
wird, der außerhalb der Kirche leben mußte, die doch
für ihn das einzig dauerhafte und göttlich garantierte

Münchener Profeffor Schnitzer das Tyrrell'fche Buch
fchlechtweg abgelehnt hat.

Baden- H. Holtzmann.