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Ausgabe:

1910 Nr. 10

Spalte:

299-303

Autor/Hrsg.:

Schlatter, Adolf

Titel/Untertitel:

Die Theologie des Neuen Testaments. 2 Teile 1910

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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299 Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 10. 300

Befonders bezeichnend für die Richtung des Ganzen ift
die Behandlung der johanneifchen Literatur im dritten
Teil. Man wird dem Verfaffer im Unterfchied von andern
bekannten Apologeten das Zeugnis nicht vertagen,
daß er feinen Lefern die Bekanntfchaft mit keiner der
zahllofen Schwierigkeiten, welchen die traditionelle Annahme
unterliegt, erläßt. Beifpielsweife wird felbft die
den Apologeten fo anftößige, eben noch von Schlatter
(II, S. 162 f.) rundweg abgeleugnete Anknüpfung der
johanneifchen Logoslehre an philonifche und gnoftifche
Zeitvorftellungen ausdrücklich behauptet, zugleich aber
auch möglichft unfchädlich gemacht durch die beliebte
Auskunft, daß dort philofophifch, makrokosmifch, ver-
ftandesmäßig gemeint fei, was im Evangelium vielmehr
,religiös fundamentiert' erfcheint (S. 663). Faft alles,
was über die johanneifche Theologie in ihrem Verhältnis
zur fynoptifchen, paulinifchen und helleniftifchen gefagt
wird, umfchließt keinerlei Widerfpruch mit der kritifchen
Auffaffung, fcheint derfelben vielmehr freundlich näher
zu rücken, bis man am letzten Schluß von der zuvor
nur ganz feiten einmal zwifchen den Zeilen zu lefenden
Vorausfetzung überrafcht wird, daß Johannes ,als Greis'
diefe, fpätere Glaubenserfahrungen in einem Bilde von
Jefu Reden und Taten vorwegnehmende, Darftellung verfaßt
habe, und daß, was ja immer das letzte Verlegen-
heitsgeftändnis zu fein pflegt, die mit einer folchen Annahme
verbundenen Schwierigkeiten viel geringer feien,
als jeder andere Erklärungsverfuch (S. 713 f.).

Baden. H. Holtzmann.

Schlatter, Prof. D. A., Die Theologie des Neuen Teltaments.

Zwei Teile. Calw und Stuttgart, Verlag der Vereinsbuchhandlung
, gr. 8°. Je M. 8 —

Erfter Teil: Das Wort Jefu. (592 S.) 1909. — Zweiter Teil:
Die Lehre der Apoftel. (592 S.) 1910.

Werkwürdig berührt wird man, nach gewonnener
Kenntnisnahme vom Inhalt des Buches, von dem Bilde,
welches der Verf. felbd davon entwirft in den Vorworten
fowohl zum erden wie zum zweiten Band. ,Ich fchreibe
— fo lefen wir hier — nicht als Rezenfent Jefu und
feiner Boten, weder als ihr Bewunderer, fie haben keine
Ruhmeskränze begehrt, noch als ihr Gegner und Kritiker,
fondern fehe den Beruf des Hidorikers darin, daß er
wahrnimmt, was gefchah'. Alfo ,einfache Darlegung des
Tatbedandes' gilt es hier; vollkommen sine ira et studio,
und als Vorbedingung dazu wird gefordert ,der Durchbruch
durch den Schwärm von erklärenden Kondruk-
tionen und Konjekturen' der es uns wieder ermöglicht,
das Auge zu echter Wahrnehmung an die Vorgänge
heran zu bringen, deren Zeugen die neutedamentlichen
Dokumente find'. Damit weiß fleh der Verf. feltfamer
Weife ,im Gegenfatz zum größten und wirkfamden Teil
der zeitgenöffichen Literatur, die die hiflorifche Darlegung
unmittelbar mit der Polemik gegen das neu-
tedamentliche Chridentum zu verbinden pflegt'. Das
aber nennt er Vermengung des hidorifchen und dog-
matifchen Denkens — ein Fehler, dem er um fo ficherer
zu entgehen glaubt, wenn er, was nach Abfchluß der
hier vorliegenden hidorifchen Arbeit darüber hinaus zu
sagen wäre, unter dem Titel ,Das chridliche Dogma' ge-
fondert dardellen wird: ein Bekenntnis, welches wenig-
dens für mich um fo überrafchender gekommen id, als
ich über der Lektüre des Buches je länger je mehr der
Meinung geworden war, nicht fowohl eine neutedament-
liche Theologie, als vielmehr eine chridliche Glaubenslehre
vor mir zu haben und demgemäß weniger zu erfahren
, was eind im Gedankenkreis der apodolifchen
Schriftdeller Wirklichkeit war, als was innerhalb des
heutigen Betriebes der Theologie Möglichkeit id.

Zwar kann man nur mit dem beden Vertrauen an
eine Dardellung herantreten, die von vornherein apolo-

getifche wie negative Tendenzen mit gleicher Schärfe
abweid und nur auf Lefer rechnet, die, was es hier zu
fehen gibt, auch fehen wollen und können (I, S. 9f.).
Ob oder inwieweit der Verf. felbd zu diefen gehört,
wird freilich manchem Kenner der neutedamentlichen
Probleme fraglich fein, fchon angefichts der knappen
Auskunft über die Quellen, nach welchen das im erden
Bande gefchilderte Werk Jefu gefaßt und beurteilt wird
(S. 12). ,Die heutige Stimmung an den Fakultäten' verlange
getrennte Behandlung der fynoptifchen Evangelien
und des dahinter zurückgeflellten Johannes, Bevorzugung
des kurzen Markus vor dem ausführlicheren Matthäus, tue
übrigens fo keineswegs auf Grund von Beobachtungen,
die fleh auf Sprache, örtliche und zeitgefchichtliche Ver-
hältniffe oder Bezeugung der Dokumente beziehen. Vielmehr
habe man dabei einen Vorteil für den eigenen
Gefchäftsbetrieb im Auge. Denn ,je weniger die noch
zugelaffenen Zeugen ausfagen, um fo breiter und kühner
entwickelt fleh die Konjektur, und die Phantafie der
Hidoriker ergänzt das Schweigen der Zeugen'. Demnach
bilden hier Matthäus und Johannes die fleh gegen-
feitig bedätigenden und erläuternden Hauptträger der
Überlieferung. Kann man fleh darein noch einigermaßen
finden, fofern doch im zweiten, der apodolifchen Lehre
gewidmeten Teil fowohl dem Matthäus (II, S. 16 f.), als
auch namentlich dem Johannes (S. 98 f., 179 f.) eine be-
fondere, das Eigentümliche ihrer Botfchaft von Jefus beleuchtende
Darftellung gewidmet id und außerdem auch
Markus (S. 408 f.) und Lukas (S. 413 f., 422 f.) Beachtung
finden, fo werden uns doch hier um fo unerfchwing-
lichere Zumutungen gemacht, fofern die erden Briefe
des Petrus und des Johannes, fowie der Jakobusbrief als
unter fleh durch gemeinfame Vertretung wefentlich ähnlicher
Gedankenkreife verbundene Stimmen aus urchrid-
lichen Kreifen gewertet und fo auf die gleiche Stufe des
Zeugenwertes mit Matthäus gedellt werden (S. 191),
während fie dafür in eine gewiffe Entfernung zu Paulus
treten (S. 196). Dies gilt im Widerfpruch mit einem
fond fad allgemein gültigen Urteile felbd vom erden
Brief des Petrus, während der zweite allerdings nur im
Namen des Petrus gefchrieben id (S. 457 f.).

Abgefehen von diefer notgedrungenen Konzefflon
erfährt die kritifche Betrachtung der neutedamentlichen
Literatur nur kümmerliche Wertung. Höchdens wird
gedattet, neben dem ,Neuen', was die Lehre des Paulus
überhaupt, befonders aber mit Bezug auf den Geid
bringt (S. 318 f.), auch innerhalb ihres Bezirkes wieder
Stufen der Ausbildung wahrzunehmen (S. 381 f.), darauf
frühere Ausfagen ,in neuer Gedaltung mit originaler
Kraft' erfcheinen (S. 393). Andererfeits verlieren wegen
ihrer Beziehungen zu der Lebensarbeit des Apodels die
Padoralbriefe ,auch dann ihre Wichtigkeit nicht ganz,
wenn fie wegen der Schwierigkeiten, die an ihrer Form
und an ihrem Inhalt haften, von Paulus getrennt werden'
(S. 394). Apokalypfe und viertes Evangelium gewährleiden
lieh ihre gemeinfame Abkunft von Johannes
gegenfeitig. ,Weil die Gefchichte Jefu fo verlief, wie fie
j das Evangelium darfiellt, darum id die Zukunft der
Welt und der Chridenheit fo, wie fie die Apokalypfe
befchreibt' (S. 139): eine denkwürdige Leidung der
Kombinationsgabe des Verf.s. In Beurteilung der evan-
gelifchen Gefchichte wagt fich gelegentlich das Urteil
heraus, daß das glaubwürdige Wunder keinen Dualismus
und keine Unnatur erzeuge (S. 472), wohl aber Steigerungen
' und ,Verdichtungen' des wunderbaren Herganges
,in einzelnen Fällen möglich und wahrfcheinlich' feien
(I, S. 275). ,In manchen Fällen werden wir die Grenze
nicht mehr abmeffen, an der die Erinnerung zur Dichtung
ward und die pladifche Gedaltung der Erzählung vom
wirklichen Hergang fich entfernt' (II, S. 532). Eine über
eine folche befcheidene Grenze hinausgehende Einbuße
von Leidungskraft des Glaubens wird man dem Verf.
kaum nachfagen können. Eher verdient es Mißbilligung