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Ausgabe:

1910 Nr. 9

Spalte:

278-279

Autor/Hrsg.:

Vorberg, Georg (Bearb.)

Titel/Untertitel:

Die Kirchenbücher der Mark Brandenburg. 2. Abt., 1. Heft: Die Kirchenbücher der vor 1874 augenommenen und konzessionierten Kirchengemeinschaften (Berlin, Lebus, Frankfurt a. O.) 1910

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 9. 278

felbft, und er wirkt die volle, wahre Sittlichkeit. Aber j ges 1906) verfucht werden, die von W. vertretene ftrenge
wenn dem fo ift, warum dann bei Luther die Händige Scheidung von philofophifcher und chnftlicher Ethik

Ermahnung zu .guten Werken'? Um deswillen, weil
in dem gläubigen Chriflen ein Widerfpruch (leckt, er
nicht fo ilt, wie er fein foll. Allen feinen Ausführungen
über die wahre Sittlichkeit, deren Quelle der Glaube ift,
muß ein ,quatenus' beigefügt werden, fie gelten nur, fo

(S. 45) ift in dem Maße gar nicht durchzuführen. Auch
W.'s Polemik gegen Kapp in punkto Religion und Moral
bei Luther trifft nicht immer das Richtige. So gewiß
Luther niemals Glaube und Sittlichkeit in einen aus-
fchließenden Gegenfatz gebracht haben würde, mit der

weit der Gläubige fchon gläubig iß. Ideal und Wirk- j einfachen Einheitsformel: gläubige Sittlichkeit oder: fitt-

lichkeit ßoßen fich im Räume fo gut wie wahre und licher Glaube (S. 13 ff.) iß es nicht getan. Gerade hier flößen

empirifche Kirche (S. 90). ,In jeder Beziehung gilt, daß wieder Supranaturalismus und Tatfächlichkeit aufeinander,

die empirifche Sittlichkeit des Chriflen nicht jene Per- und die Sittlichkeit kann oft genug — nicht immer —

manenz und damit jene majeftätifche Ruhe und Sicher- den Charakter des .Notftandes um der unvollkommenen

heit zeigt, die der wahren Sittlichkeit eignet. Vielmehr ungenügenden Organifation des Erdenlebens willen' (fo

ftellt fie einen fletigen Kampf dar' (S. 98). Fehlende Kapp) annehmen. Das ift am deutlichften in Luthers

Sittlichkeit aber beweift fehlenden Glauben, Rechtferti- .Freiheit eines Chriftenmenfchen' der Fall. Ich kann wirk-

gung kann nicht ohne Heiligung vorhanden fein; vor- j lieh nicht finden, daß der Grundton diefer Schrift ,der

handene fittliche Betätigung beweift umgekehrt Wirk- j Jubel der Seele, die nach Freiheit von dem nicht erfüll-

famkeit des h. Geiftes ift fein testimonium internum, fodaß j baren, drohenden Gefetz gefeufzt und in der Liebe zu

,man bei einem Rückfchluß aus feinen Werken fich über
das Vorhandenfein bzw. Fehlen des Glaubens vergewiffern
foll' (S. 112). Ein Unterfchied von der katholifchen An-
fchauung ift dabei infofern vorhanden, alsder Gläubige
fich weder auf feine Werke, noch auf feinen Glauben,
vielmehr auf Gottes Gnade in Chrifto verläßt. ,Nur in
der Weife fehen wir auf unfere Werke, wie ein Genefen-
der aus den bei ihm unverkennbaren Zeichen von GeGottes
Willen, die frei, fröhlich und umfonft tut, was
ihm wohlgefällt, das Erfehnte gefunden hat', fein foll.
Wenn irgend wo, fo ift hier der negative Charakter
der Ethik Luthers erkennbar, und das ift ein nicht unbedeutender
Teil feiner Gefamtethik; es ift fchade, daß die
wertvolle Schrift W.'s ihn ganz ausfeheiden zu können glaubt.
Zürich. Walther Köhler.

fundheit fich deffen vergewiffert, daß diefe zurückgekehrt Die Kirchenbücher der Mark Brandenburg. Zweite Abteilung

ift.' Wenn der Pietismus diefe Gedanken wieder aufnahm, „ ,, ,r. ...... „ g'

fo hat er fie zugleich entftellt, indem er als Erkennungs- erftes Heft: D,e Kirchenbucher der vor 1874 aufge-
zeichen das Gefühl befonderer Begnadignng bezw. Meidung nommenen und konzeffionierten Kirchengemeinfchaf-
alles /Weltlichen' aufftellte. ten im Bezirke der General-Superintendentur Berlin
Wie die übrigen Arbeiten Walthers zur Theologie j (Stadtkreife Berlin, Charlottenburg, Rixdorf, Schöne-
Luthers, fo zeichnet fich auch diefe aus durch eine völlige „„A -r_:i„ v -r xr j ,> n„ tt
D , rY j n i-i j- r,.. . r , , 7 öerg und leile der Kreife Nieder Barnim, Oft Ha-
Beherrfchung des Quellenmaterials; die Zitate find fehr 11 j j m 1 j • rr
reichlich, gut gewählt und auf alle Fälle für die Erkenntnis velland und leltow) und in den Kreifen Lebus und
des Problems fehr lehrreich. Daß aber W. diefes allent- Stadt Frankfurt a. O. (General-Superintendentur der
halben richtig gelöft habe, möchte ich bezweifeln. In Neumark), bearbeitet von Dr. Georg Vorberg. (Ver-
vielen Punkten hat er recht, in nicht wenigen insbefon- öffentlichungen des Vereins für Gefchichte der Mark
dere feinen Gegnern von der Ritfchlfchen Seite gegen- nr^~A~~u.,rrr r •„ 1-, 1 0 m , , .

.i- u r- ..r 1 • , , 1 .1 w , iirandenburg.) Leipzig, Duncker & Humblot 100:

über, namentlich Gottfchick durfte Luther zu (lark c°' F s' u,ulul 'Vo-

modernifieit haben; das gegen ihn und Otto (f. o.) (-Vi1' 272 b-) Sr- 8 M. 7 —

Ausgeführte wird richtig fein, ebenfo die Ausführungen Die vorliegende Veröffentlichung bildet das erfte Heft

über den Rückfchluß aus den Werken, namentlich wenn | der zweiten Abteilung der Herausgabe der Kirchenbücher
man die etwas limitierende Anmerkung S. 112 beachtet. der Mark Brandenburg; das in Ausficht geftellte zweite
Für wertvoll halte ich auch die Betonung des Unter- 1 Heft, das die Kirchenbücher der Generalfuperintendentur
fchiedes zwifchen der idealen und der tatfächlichen der Kurmark und damit den großen Reft des Regierungs-
Sittlichkeit und die Erläuterung am Kirchenbegriffe; es ; bezirks Potsdam behandeln follte, läßt noch immer auf
dürfte diefer Dualismus zwifchen Supranaturalismus und i fich warten. Deshalb zeige ich, in Erfüllung einer alten
Kompromißethik — denn darauf kommt es hinaus — Schuld, endlich diefes erfte Heft für fich an.
fich immer mehr als fundamental für Luther heraus- Sein Titel ift nicht zutreffend; er müßte ,Pfarramt-

ftellen. Aber fchon hier finde ich es einen Mangel der liehe Aufzeichnungen' heißen, da außer den Kirchen-
W.fchen Darfteilung, daß er kein Problem fpürt, zum min- büchern auch Chroniken, Pfarr-Matrikeln, Kirchenrech-
deften es nicht fcharf herausarbeitet. Die Anfchauung ; nungen und andere Urkunden behandelt werden. Den
Luthers erfcheint viel zu einheitlich und gefchloffen, es j breiteften Raum nehmen freilich die Kirchenbücher ein,
fehlt die Unruhe fich durchkreuzender Gedanken. Und j über die nicht nur hinfichtlich der vorhandenen Vergerade
bei jenem Problem hatten doch Wernle (der zeichniffe und des perfonenkundlichen Inhalts, fondern
Chrift und die Sünde bei Paulus) oder Troeltfch (Ver- 1 auch hinfichtlich anderer Aufzeichnungen — über Zeit-
nunft und Offenbarung ufw.) energifch die Frageftellun- : ereigniffe, aus der Ortsgefchichte, überWitterung, Ernten
gen angegeben. Die ganze Erörterung über Luthers | und Kornpreife, Sitten und Gebräuche u. dgl. — Nachstellung
zum Gefetz (S. epff.) hätte gewonnen, wenn W. rieht gegeben wird. Dabei ift es intereffant zu beobachten,
fie beruckfichtigt hätte. Oder S. 8ff. bei den Ausfüh- j in welchem Umfange die einzelnen Kirchenbücher an
Hingen über die Erlaubtheit des Eides, bei der Frage nach diefen Aufzeichnungen teilnehmen. Während ortsge-
dem dem Übel widerftehen' ift doch mit Händen zu fchichtliche Nachrichten, unter Hinzurechnung der Abgreifen
daß aus chriftlicher Ethik und Kultur- und Ge- teilung: .Einzelne Vorgänge' (S. 258 f.) fich in über
fellfchaftsethik ein Kompromiß zurechtgezimmert wird; 200 Kirchenbüchern finden, bringen zeitgefchichthche
mag I uther das auch nicht gemerkt haben, der moderne Aufzeichnungen höchftens einige 50, und dann vor allem
Ethiker macht fich die Sache zu leicht, wenn er einfach aus den Kriegszeiten; vereinzelt finden fich Nachrichten
auf den Lutherfchen Begriff der /Liebe' rekurriert und über Reformationsjubilaen, fo zu St. Nikolai in Berlin
nicht heraushebt, daß die Faffung diefes Begriffes durch fowohl 1639 wie 1839 über Wegeverbefferung und Polt,
den Zwang der Kultur bedingt ift. Denn Eidesleiftung, über Revolution und Verfaifung u. a Uber Brande beKriegführung
Notlüge find nun einmal nicht mit der j richten S6 Kirchenbücher, über die Witterung 14, über
Autorität Chrifti zu decken, mag das auch immer wieder Ernten und Kornpreife 8, über Krankheiten 10 und über
(vgl z B F Kattenbufch: das fittliche Recht des Krie- 1 Naturereign.ffe 5 Kirchenbucher.