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Ausgabe:

1910 Nr. 9

Spalte:

275-278

Autor/Hrsg.:

Walther, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Erbe der Reformation im Kampfe der Gegenwart. Drittes Heft: Die christliche Sittlichkeit nach Luther 1910

Rezensent:

Köhler, Walther

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 9.

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entgangen in. Ich wiederhole darum hier daraus das
Wefentlichfte. Aus einer Bemerkung Stahrs in feinen
,Aristolelia' (Halle 1830. I, 204), wonach, Cafiri zufolge
[Catal. Biblioth. Arab. Hispan. 1760), ,ein gewiffer Aretas
eine geordnete Sammlung der in den hinterlaffenen Hand- j
fchriiten des Stagiriten in großer Anzahl vorgefundenen
Briefe' veranftaltet habe, fchloß ich, daß diefer Hinweis,
foviel ich wenigftens gefehen, von den zuftändigen For- i
fchern bisher nicht beachtet worden fei. Daß Stahr von
Arethas feiner Zeit noch nichts wußte, ja, daß er deffen
Vorhandenfein überhaupt bezweifelte und deshalb lieber
an eine Verfchreibung des Namens aus Artemon zu
denken geneigt war, — das dürfte dem Ariftoteles-For-
fcher kaum befonders anzurechnen fein. Hat man ja j
doch fiebere Nachrichten über den großen Philologen |
und Theologen Arethas erft fo erheblich viel fpäter j
durch Auffindung handfehriftlicher Angaben und Überlieferungen
, befonders in der von de Boor 1888 heraus-
gegebenen , Vita Euthymü' (Kap. 12. 15. 16. 18. 20), ermittelt
. Aber der Gedanke fcheint mir doch nahezuliegen,
es möchte der in dem von Stahr angeführten und, wie
mich dünkt, einer erneuten, eingehenden Prüfung dringend
bedürftigen Werke genannte Aretas eben der gelehrte |
Erzbifchof Arethas von Cäfarea fein, der, was man im
Falle der Richtigkeit diefer Annahme bisher noch nicht
gewußt hat, und was unfere Bewunderung vor dem hoch- |
verdienten Pfleger und Hüter der wiffenfehaftlichen
Schätze des Altertums nur noch erhöhen müßte, auch |
den Briefen des Ariftoteles feine ordnende und erhaltende
Fürforge widmete.

Wandsbeck. Johannes Dräfeke.

Walther, Prof. Dr. Wilh., Die chriltliche Sitttlichkeit nach

Luther. Das Erbe der Reformation im Kampfe der
Gegenwart. Drittes Heft. Leipzig, A. Deichert'fche
Verlagsbuchh. Nachf. 1909. (VIII, 137 S.) gr. 8°

M. 2 80; kart. M. 3 —

Diefe ethifche Unterfuchung des Roflocker Kirchen-
hifiorikers fleht als drittes Heft innerhalb der Sammlung:
das Erbe der Reformation im Kampfe der Gegenwart,
doch ift an der Darftellungsform infofern geändert, als
nicht, wie bisher, von den Aufftellungen der Gegner
ausgegangen, vielmehr die Anfchauung Luthers pofitiv
dargestellt und nur gelegentlich eine abweichende Auf-
faffung zurückgewiefen wird (f. Vorwort). M. M. n.
hat dadurch das Ganze nur gewonnen; mißlich bleibt
freilich, daß W. bei den gelegentlichen Bekämpfungen
von Gegnern nicht immer fagt, wen er meint. Damit
wird die Beurteilung unnütz erfchwert. In der Regel
find Ritfehl, Gottfchick und W. Kapp bekämpft, vermutlich
auch an den Stellen, wo fie nicht genannt find.
Den Fortfall der Auseinanderfetzung mit den Gegnern
motiviert W. durch die in der religionsgefchichtlichen
Schule immer deutlicher werdende Einficht, nicht mehr
auf dem Boden Luthers zu flehen (f. das Vorwort);
ferner mit der ,Unluft', fich mit ,modernen Theologen'
auseinanderzufetzen, nachdem ihm Gottfchick unrichtige
Wiedergabe feiner Anflehten vorgeworfen habe. (Vgl.
Gottfchicks Erklärung in der Zeitfchr. f. Theologie und
Kirche 1904, S. 462ff; man wird W.'s Erläuterung be-
rückfichtigen müffen; hier über diefen unerquicklichen
Streitfall mich auszulaffen, halte ich, zumal Gottfchick
inzwifchen verdorben ift, nicht für angebracht.)

W. geht aus von der grundfätzlichen Unterfcheidung
bei Luther zwifchen einer natürlich-menfehlichen und
übernatürlich-chrifthchen Sittlichkeit; nur diefe kommt
pofitiv für Luther in Frage, die andere nur als himmelweit
verfchiedenes Gegenftück, von der chriftlichen
Sittlichkeit handelt daher W. allein. Da fie aber auf
das engfte mit der Religion verknüpft ilt, fo wird auch
das Verhalten des Menfchen zu Gott herangezogen werden
müffen. Das Wefen der chriftlichen Sittlichkeit ift
für Luther die Liebe, alfo etwas pofitives, nicht etwas
negatives wie Unterlaffung der Einzelfünden, Verleugnung
der fündlichen Triebe oder der Welt. Jedes Einzelgebot
muß nach dem Gebot der Liebe verftanden, erklärt
, eventuell begrenzt werden; an einer Reihe gut gewählter
Beifpiele wird das demonftriert. Die Liebe erweift
fich dabei aber auch als Korrektor einer buchftäb-
lichen Befolgung göttlicher Gebote (z. B. in der Eidfrage,
des Rechtfuchens, der Notlüge), immer aber kommt
Luther auf ,die Liebesgefinnung als den eigentlichen Inhalt
aller ethifchen Forderungen Gottes' zurück. Auch
die Freiheit von allem Zwang refultiert aus der Liebe,
mit Vorliebe verwendet Luther das Gleichnis vom fruchttragenden
Baume. Alles ethifche Tun aber, wodurch
der Menfch nur das Seine fucht, ift Sünde. Dem wider-
fpricht nicht, daß nach Luther die wahre Buße mit der
Furcht vor Gott und dem Gericht anfängt, denn innerhalb
der Bußempfindung gibt es Stufen, eine wirklich
Gott wohlgefallende Buße ift nur die ex atnore iustitiae.
Auch der biblifche Lohngedanke ift nicht Motiv der
Sittlichkeit, vielmehr darf man nur gewiß fein, daß Lohn
folgen wird, wir bedürfen Belehrungen über die Folgen
des Guten und Böfen. Sachlich aber ift die Sittlichkeit
,völlig unabhängig von allem, was außerhalb des handelnden
Subjektes liegt', fie beruht nur auf der Liebe, die
als folche Gerinnung und Handeln zugleich ift, einerlei
ob es fich um Liebe zu Gott oder zum Nächften handelt
. Beides darf man überhaupt nicht voneinander
trennen, ,es ift eine Liebe, die uns treiben foll, die Gott
und damit auch den Nächften meinende Liebe'; doch fetzt
die Nächftenliebe ftets Gottesliebe voraus. — Aber woher
kann ich nun wiffen, in welcher Weife ich die Liebe
auszufuhren habe? Eine gefetzliche Norm, die die Mannigfaltigkeit
ethifcher Betätigungen regelte, gibt es nicht.
,So hat keiner erft lange zu fuchen nach einem Felde
für feine Sittlichkeit, fondern chriftlich foll er tun, was
ihm vor die Hand kommt.' Dazu gehört vor allem die
Treue im Berufe, die Gottes Wille ift. Aber, fo bemerkt
J W. gegen Ritfehl und feine Schule, der Berufsgedanke
fleht bei Luther .keineswegs im Vordergrund'. ,Diefen
nimmt vielmehr einzig die Lehre von der Rechtfertigung
des Sünders durch den Glauben an Chriftum ein. Im
Verhältnis hierzu ift die Frage nach der Bedeutung des
irdifchen Berufes .... als nur auf der Peripherie liegend
zu bezeichnen, infofern fie nur das Feld für die Betätigung
deffen, worauf alles ankommt, für die Betätigung
des Glaubens und der Liebe richtig finden lehren will.'
(S. 42). Die Quelle der Sittlichkeit ift dementfprechend
der Glaube, der von Luther nicht als ptychologifch-na-
türliches Tun des Menfchen gewertet wird, vielmehr als
göttliches Gnadengefchenk. Jedenfalls will Luther, wenn
er fo oft den h. Geift als die Quelle der chriftlichen
I Sittlichkeit behauptet, beftimmt hervorheben, daß es
fich hierbei nicht um rein natürlich verurfachte pfycho-
! logifche Vorgänge handelt' (S. 47), heißt es gegen Gottfchick
und Rudolf Otto (vgl. gegen diefen fpeziell die
Anmerkung auf S. 49). Sofern Gott feinen Willen im
I Gefetz kund getan hat, darf gefagt werden: der Glaube
fucht vermöge der ihm innewohnenden Liebe zu Gott
| das Gefetz Gottes zu erfüllen, aber diefes .Halten des
I Gefetzes' ift nicht fo zu verliehen, als wenn nun der
| Gläubige fich das Gefetz zur Richtfchnur feines
Handelns erwähle, vielmehr nur fo, daß tatfächlich
i fein Tun eine Erfüllung des Gefetzes ift. Als Freiheit
von der Motivationskraft des Gesetzes gehört die Ge-
I fetzesfreiheit auch zur Freiheit eines Chriltenmenfchen
(S. 55). Motivationskraft des Glaubens ift die Liebe, die
j Selbftverleugnung, Selbftbeherrfchung, Selbftüberwindung
aus fich hervortreibt, nicht minder die Liebe zum Nächften
, an dem man ,ein Chriftus werden' foll. Von Zwang
ilt dabei nirgends die Rede, der Glaube braucht nicht
aus dem Gefetz zu lernen, was er tun foll, er wirkt von