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Ausgabe:

1910 Nr. 8

Spalte:

232-233

Autor/Hrsg.:

Bonkamp, Bernhard

Titel/Untertitel:

Zur Evangelienfrage 1910

Rezensent:

Bauer, Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 8.

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in einander über. Philos Vorfehungslehre verdiente eine
befondere Rubrik, ebenfo feine Gefetzesauslegung. Die
Darfteilung ift durchweg klar und lebendig und von
Sympathie für Philo getragen. Förderlich ift die Unter-
fuchung über das Suchen Gottes und das Finden ohne
Suchen (S. 34k), ebenfo über die Abftufungen der
PTömmigkeit (S. 52k). Die Widerfprüche im Denken
Philos aber hätten als folche fchärfer hervorgehoben
werden können. Er ift eben Synkretift. Die Ausführungen
zu dem Satze: Erkenntnis ohne Handeln fei leer
und nutzlos (S. 73f.), zeigen z. B., daß die Behauptung
einzufchränken ift, er fei durch die einfeitige Gottbezogen-
heit feiner Anfchauungsweife verhindert worden, den
einfachen fittlichen Aufgaben des Lebens Gerechtigkeit
widerfahren zu laffen (S. 65 k). In der Gefamtwer-
tung ferner ift der Einfluß des Alten Teftaments trotz
der richtigen Beobachtung S. 92 zu gering angefchlagen.
Die Formel, ,helleniftifcher Geift und hebräifcher Buch-
ftabe' beftimme feine Gedankenwelt, ift fchief, ebenfo
der Satz: ,üie Bibel hat ihm Worte gegeben, aber die
Gedanken und Erfahrungen felbft hat er nicht aus ihr
genommen' (S. 130). Wie entfchieden beherrfcht doch
der altteftamentliche Grundfatz: ,Wie der Menfch, fo fein
Gott' (Pf. 18, 26.27; 2. Sam. 22, 26) feine Gedankenwelt; j
überhaupt, feinen Monotheismus hat er nicht aus Plato
gefchöpft, auch wenn er meift platonifche Formeln gebraucht
, um ihn zu begründen. Auch was der Glaube
bedeutet, hat er nicht von den Griechen gelernt, obwohl
er den Glauben als höchfte Tugend bezeichnet und auf
das erkenntnismäßige Aneignen der Gottesoffenbarung,
deffen Krönung die Ekftafe ift, zufpitzt. Was er zum
Preife des Gefetzes fagt (z. B. De monarch. II § 3) und
über die einzigen Bevorzugungen des Herrenvolkes der
Israeliten (z. B. De Abrah. § 98), find doch grundfätzliche j
Anfchauungen. Auch feine Logoslehre fleht in innigfter 1
Beziehung zur Hypoftafierung der Weisheit Gottes in
den Spruchbüchern. Wichtig ift andrerfeits, daß Philo
mit dem paläflinenfifchen Judentum geringe Berührungen
aufweift. Er felbft aber will die kultifche Loyalität ftreng
wahren. Wie fich dies mit feiner helleniftifchen Ideenwelt
verträgt, ift weiter zu unterfuchen. Wie konnte der
gefetzesfromme Jude fo frei das Gefetz ausdeuten?

In der ,religionsgefchichtlichen Betrachtung' der
Frömmigkeit Philos geht W. in meift aphoriflifchen Bemerkungen
den Beziehungen desfelben zum Chriftentum
nach. Richtig wird erkannt, daß ein literarifcher Einfluß
feiner Schriften auf die Synoptiker und Paulus nicht
nachweisbar ift. Daß der Hebräerbrief an die philo-
nifche Logoslehre anknüpfe, ift mir nicht einleuchtend.
Johannes bietet reiche Vergleichungspunkte, aber eine
direkte Einwirkung Philos auf Johannes ift nicht nach-
gewiefen. Im allgemeinen kommt bei diefen Vergleichen
Philo beffer weg, wie das Urchriftentum. Wenn z. B. 1
Philos Ausfagen über den Glauben höher gewertet
werden, als des Paulus Befchreibung des Glaubens j
Rom. 4 (S. nof.J, fo trifft das nicht zu. Die unvergleichliche
Plaftik der Antithefen des Paulus haben Philos |
wortreiche Darlegungen nicht erreicht (vgl. Q. r. div.
haer. § 20—22. De praem. et poen. § 28—30, § 49). j
Dem Paulus ift der Glaube nicht bloß der Siegespreis,
der von der Lehre feine Vollendung erhält {ex öiöaßxaUag
xeXeiojd-eiq), fondern die Kraft der Heilsgewißheit auf j
Grund der Erfahrung von der Sündenvergebung und der |
entfcheidende Antrieb zum fittlichen Handeln. Wie flach
faßt ferner Philo die peravoia. Wie wenig weiß er die
religiöfen Erfahrungen vom Leidtragen und von der Macht
des Gebetes zu würdigen. Wie weit entfernt ift fein
ariftokratifches, von der Menge der Suchenden fich ab-
fonderndes Gottfuchen von der Menfchenliebe des Chri-
ftentums, das zu dem Vater aller Menfchenkinder betend
auffchaut und in tätiger Liebe ihm dient.

Direkt und nachhaltig beeinflußt hat Philo zuerft die
chriftlichen Alexandriner, insbefondere hat Clemens viel

von ihm übernommen, wobei fich übrigens zeigt, daß er
den Gedanken Philos meift eine fchärfere und eindringlichere
Faffung gibt. Aber auch hier ift der Einfluß Philos
nicht zu überfchätzen. Der Anfatz S. 123 ift fchwer faßbar:
,Das kirchliche Dogma lehrt die Menfchwerdung der
philonifchen Gottheit zu dem Zwecke, die Bedürfniffe der
philonifchen Seelen (?) zu ftillen'. Für die Entwicklung des
Dogmas kommt doch wohl an erfter Stelle die helleniftifche
Popularphilofophie in Betracht, die auch für Philo eine
der wichtigften Quellen ift.

Leipzig. G. Heinrici.

Bonkamp, geiftl. Oberlehr. D. Bernh., Zur Evangelienfrage.

Unterfuchungen. Münfter i. W., Afchendorff 1909.
(VIII, 82 S.) gr. 8° M. 2.30

Der unbeftimmte Titel deckt Unterfuchungen, die auf
eine gänzlich neue Löfung des fynoptifchen Problems hinauslaufen
. Diefe baut fich nun aber keineswegs auf den Er-
gebniffen der bisherigen Forfchung auf oder erkämpft fich
ihren Platz in gründlicher Auseinanderfetzung mit ihr.
Vielmehr verrät der Verfaffer fo gut wie keinerlei Kenntnis
der einfchlägigen Literatur. Nur um ein Beifpiel zu
geben fei gefagt, daß in diefen Erörterungen der Evangelienfrage
weder Harnack noch Wellhaufen der Erwähnung
gewürdigt werden.

Nach B.sAnficht ift es bei der Entftehung der drei erften
Evangelien folgendermaßen zugegangen. An den Anfang
gehört ein aramäifches (S. 53 f.) Urevangelium, das fich
,im großen und ganzen' mit dem Matthäusevangelium
deckt (S. 48). Es ift in der Zeit verfaßt worden, als ,die
Apoftel noch fämtlich in Paläftina tätig waren' (S. 53).
,Mindeftens einige Jahre' fpäter (52) ift die Lukasquelle
anzufetzen, eine Umgeftaltung jener Grundfchrift, die fich
allmählich vollzogen hatte (48). Sie (teilt eine ,füdpa-
läftinenfifche Weiterbildung' (53) dar, gleichfalls in einem
femitifchen Dialektgefchrieben (51), und ift älter als der
fie vorausfetzende erfte der erhaltenen Paulusbriefe,
d. h. als I. Theff. S. 46—48 gibt B. eine auf den vorausgegangenen
Unterfuchungen ruhende gedrängte In-
haltsüberficht der Lukasquelle: fie hat die lukanifche
Vorgefchichte und weiter einen das ganze öffentliche
Leben Jefu umfaffenden Bericht (vgl. S. 43) enthalten.
Aus dem Matthäusevangelium ift unter einiger Mitwirkung
der Lukasquelle (S. 66. 68) das Markusevangelium
geworden. Aus diefem und der Lukasquelle unfer
Lukasevangelium.

Die Baus, auf welcher diefe Konftruktion fich erhebt,
ift die Auffaffung, daß Matthäus älter als Markus fei, diefer
von jenem abhängig. Kehrt fich das Verhältnis um, fo
bricht alles in fich zufammen. Dann fordert Matthäus
für das, was er über den Markusftoff hinaus mit Lukas teilt,
eine andere Quelle, zu der fich B.s Lukasquelle fchlechter-
dings nicht eignet. Und es braucht nicht weiter ausgeführt
zu werden, wie man dann fchließlich wieder bei
der Zweiquellentheorie landet. Man follte meinen, B.
hätte alles aufgeboten, um eine fo eminent wichtige
Vorausfetzung ficher zu ftellen. Dem ift jedoch ganz
und gar nicht fo. Die angeftrengte Arbeit von Jahrzehnten
, die dem Beweis der Priorität des Markusevangeliums
gewidmet war, gibt uns, dünkt mich, ein Recht
zu der Forderung, daß man eine gegenteilige Meinung
gründlicher ftütze, als das auf 13 Seiten möglich ift, und
daß man fich nicht einbilde, fo leichten Kaufs zu entkommen
, wie B. will. Er führt im Grunde gar nicht den
Nachweis, daß Matthäus der ältere ift, fondern er fetzt
das voraus und erwägt lediglich, aus welchen Veran-
laffungen wohl Markus an gewiffen Stellen feine Vorlage
preisgegeben haben möchte. Da feiner regen Phantafie
hierbei alles mögliche einfällt, glaubt er fich berechtigt,
das Fazit zu ziehen: ,Aus dem Ganzen geht unwiderleglich
hervor, daß wir das Markusevangelium als die