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Ausgabe:

1910 Nr. 7

Spalte:

215-217

Autor/Hrsg.:

Spranger, Eduard

Titel/Untertitel:

Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee 1910

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 7.

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ausfchließt, die zweite, fofern er fein Wefen nach außen
hin in der Sphäre der objektiven Realität in einer Vielheit
von Attributen entfaltet. Je nachdem wir nun das
Wefen Gottes betrachten, find die Attribute als real oder
auch nicht als real anzufehen' (S. 91 ff.). Wenn aber —
ift man verfucht, hinzuzufügen — Spinoza unter Attribut
gerade das an der Subftanz verfteht, was der Verftand
als zu ihrem Wefen gehörig erkennt, wie reimt fich damit
die Wahl zwifchen zwei Möglichkeiten der Auf-
faffung, von denen die eine felbft die Entfaltung in Attributen
zu ihrem Gegenftande haben foll?

Die nach der Mitteilung des Verf.s erbt nachträglich
hinzugefügte Einleitung des Buches gibt einen auf um-
raffenden Studien beruhenden, zufammenhängenden Überblick
über die Schickfale des Spinozismus von feinen
Anfängen bis zur Gegenwart, dem im Anhang noch weitere
genauere Mitteilungen aus dem weiten Gebiete der
Spinozaliteratur hinzugefügt werden. Diefe hiftorifchen
Darftellungen enthalten manche intereffanten Auffchlüffe
über weniger Bekanntes. Sie tragen aber mit dazu bei,
daß das ganze Werk nach der Seite der Form einen
wenig einheitlichen Eindruck macht. Man möchte wün-
fchen, die ganze hiftorifche Seite des Werkes, befonders
die interpretierende Darfteilung des gefchloffenen Syfterns
Spinozas, das mit feinen Stärken und Schwächen als einheitliches
Ganzes allein Eindruck machen kann, für fich zu
haben und die Kritik etwa als Beftandteil fyftematifcher
Ausführungen, wie fie der Verf. in feiner Metaphyfik
(I.Teil 1894) und in feiner Schrift über ,die Wechfelwirkung
zwifchen Leib und Seele' (1897) gegeben hat, in fich aufzunehmen
. Die vorliegende Form einer kritifchen Zer-
faferung des einheitlichen Gewebes der Lehre Spinozas
wird vielleicht manchen Lefer die Fülle eindringenden
Fleißes überfehen laffen, die in dem Buch niedergelegt ift.

Dresden. Th. Elfenhans.

Spranger, Eduard, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee
. Berlin, Reuther & Reichard 1909. (X,
506 S.) gr. 8° M. 8.50; geb. M. 10 —

Das vorliegende, dem Gedächtnis Friedrich Paulfens
gewidmete Werk empfiehlt fich fchon durch die große
Klarheit, mit welcher das Verhältnis der umfaffenden ge-
fchichtlichen Darfteilung zu dem fyftematifchen Intereffe,
das den Vf. dabei bewegt, erfaßt ift. Die Bemerkung, mit
welcher er fein Werk eröffnet: es gebe keine Gefchicht-
fchreibung, die nicht durch irgend ein geheimes Band
auf die Gegenwart bezogen wäre, fo treu man auch
bemüht fein möge, das vergangene Leben in feiner
Reinheit und Wahrheit darzuftellen; der Quell, aus dem
diefe Wiederbelebung erfolge, fei doch irgend ein tiefempfundenes
Gegenwartsintereffe — trifft ja befonders
für eine gefchichtliche Darftellung der Humanitätsidee
zu. Er ift fich der Gefahr wohl bewußt, aus den hiftorifchen
Dokumenten nur die Antworten herauszuhören,
die wir uns felbft bereits auf fyftematifchem Wege gegeben
haben, und meint auch, was die Gefchichte für
uns fein kann, dürfen wir erft fragen, wenn wir erkannt
haben, wie fie ift. Aber gerade um bei diefer Arbeit
dem geheimen Einfluß diefer Gegenwartsintereffen um
fo weniger zu erliegen, werde der Hiftoriker gut tun,
fich derfelben gleich zu Anfang mit aller Deutlichkeit
bewußt zu werden. Das Problem, um das es fich für
den Verf. handelt, ift die Frage nach dem Bildungsideal
, um das in der Gegenwart fo lange und tiefgehende
Kämpfe geführt werden, daß es nahe liegt, einmal
zu fragen, in welchen Zeitumftänden und Zeitnotwendigkeiten
dasjenige Ideal feine eigentlichen Wurzeln
hatte, das uns bis vor kurzem noch mit zwingender
Gewalt beherrfcht hat, und ,zuletzt zu prüfen, welche
von diefen Faktoren noch fortbeftehen, welche anderen
nur der befonderen Bewußtfeinskonftitution jener Periode
angehören?' (S. 2).

In einer forgfältigen Vorunterfuchung über das Wefen
des Bildungsideals überhaupt und das humaniftifche Bildungsideal
im befonderen gelangt der Verf. fodann zur
Aufftellung dreier Momente in der Humanitätsidee Wilh.
von Humboldts, in dem ,alle Strahlen der Humanitätsbewegung
zufammentreffen': ,der In dividualität,' die
als Einfeitigkeit fogleich das zweite Moment fordert: die
Allfeitigkeit oder Univerfalität, die fich alles Sein
1 und Leben mit allen Seelenkräften und für alle Seelen-
| kräfte zu affimilieren ftrebt, und endlich der Totalität,
eines durchaus äfthetifchen Begriffes, durch welchen
j gleichfam das Maßverhältnis benimmt wird, nach wel-
1 chem das Individuelle und Univerfale in der Perfönlich-
I keit zur Einheit und Form gebunden werden follen. In
der daran fich anfchließenden Befprechung des Verhält-
niffes der Humanitätsphilofophie zur Ethik wird mit Ent-
fchiedenheit ausgefprochen, daß zum vollen Begriff der
I Humanität auch die foziale Ethik gehört, und daß nach
diefer Seite, in Humboldts ,unleugbarem individuellen
Ariftokratismus', die unverkennbare Grenze feiner Philo-
fophie liegt.

Die fodann im erften Abfchnitt gegebene Skizze der
geiftigen Entwicklung Humboldts rühmt Rudolf Hayms
i (Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteriftik.
i Berlin 1856) feinfinnige und künftlerifch geftaltende Biographie
, geht aber über fie nicht bloß mit der Abficht
hinaus, aus der Fülle der feit 1856 neu erfchloffenen
Dokumente feine philofophifche Gefamtanfchauung zu
rekonftruieren, fondern betont auch viel ftärker als Hayna
die geiftige Wandlung, die Humboldt in Paris und dann
befonders in Rom erfuhr. Im ganzen allerdings weift
I diefe Entwicklung eine feltene Kontinuität auf. ,Was er
| dachte und tat, fcheint wie eine bloße Variation über das
! eine Thema, die eine Idee: das Menfchentum in feiner
höchften und reichften Entfaltung' (S. 40). Immerhin
laffen fich innerhalb derfelben einzelne Wandlungen der
Grundftimmung aufweifen. In betreff der Humanitätsidee
; felbft unterfcheidet der Verf. zwei Hauptperioden, die
J Zeit von 1789—1798, und die Zeit von 1798—1820.
Wenn auch die Zeit der wiffenfchaftlichen Altersmuße
von 1820—1835 auch noch durch innere Wandlungen
| und neue Eindrücke belebt ift, fo ift doch mit dem
Jahre 1820 die Humanitätsidee zur vollen Ausbildung
gelangt, und für die zweite Periode ift charakteriftifch, daß
i an die Stelle der Selbftbildungstheorie ein regerer Trieb
nach tätigem Dafein tritt, daß die empirifche Individual-
pfychologie durch eine metaphyfifche Gefamtanfchauung
verdrängt wird, und daß mit einer allmählichen
Loslöfung von Kant eine Hinneigung zur fpekulativen
Philofophie fich verbindet. An der Grenze beider Lebensabschnitte
fleht zugleich die erfte inhaltlich ausgeführte
Darftellung der Humanitätsidee, ein von Leitz-
mann, dem fo vielfach verdienten Herausgeber der Werke
Humboldts, mit dem Titel ,Über den Geift der Menfch-
heit' verfehenes Fragment, das gleichfam die Summe der
Vergangenheit zieht und den Übertrag für die Zukunft
ergibt (S. 59).

Die Einzelausführung eröffnet der zweite Abfchnitt
des Buches mit der Beantwortung der Frage, welche meta-
phyfifchen Gefamtanfchauungen und welche erkenntnis-
theoretifchen Sätze die Grundlage der Humanitätsidee
bilden. Humboldt hat fchon 1790 entfchieden und vorbehaltlos
mit der Aufklärungsphilofophie gebrochen,
aber daß er in der Wolfifchen Philofophie ,großgefäugt
wurde', hat doch bleibende Wirkung für ihn: die formelle
logifche Schulung und das gefühlsmäßige Moment
der Monadenlehre', die jedoch beide in feiner
angeborenen Anlage ihre Wurzeln hatten. Maßgebende
Bedeutung hat jedoch für Humboldt in feiner
ganzen erften Periode die Philofophie Kants. Von
ihm flammt ,das ganze intellektuelle Gerüft, mit dem
er die Erfcheinungen des Geiftigen— Griechentum, Kunft,
Humanität und Sinnenwelt—konftruiert' (S. 121). Befon-