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Ausgabe:

1909 Nr. 3

Spalte:

90-91

Autor/Hrsg.:

Eucken , Rudolf

Titel/Untertitel:

Einführung in eine Philosophie des Geisteslebens 1909

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 3.

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befördere ift überall der Ausfluß der Freiheit; die Notwendigkeit
aber, die ausgleichend und ergänzend, aus-
fcheidend und einbeziehend, die Produkte der Freiheit
immer wieder auf den Nenner der Alleinheit bringt, ift
keine blinde Macht, fondern, etwa im Sinne von Kants
Apriori, höchfte Vernunft felbft, höchfle Inftanz des Seins,
in der Wille und Intellekt in gleicher Weife ihren Höhepunkt
haben und alles Werdende erft den Stempel
wahren Seins erhält'. ,Der Wille zur höheren Fhnheit
ift feinem Wefen nach ftets Wille zu einer Notwendigkeit
höherer Art, Wille zu freier Bindung, das ift zu immer
vollkommenerer Organifation, in der das Ungefchiedene
fleh gliedert und die Gegenfätze in der Ergänzung ihre
Kräfte vervielfältigen' (S. 49).

Von der Freiheit, die auch in der Kaufalität des
phyfifchen Gefchehens überall vorhanden ift, unterfchei-
det fleh die befondere Art der Freiheit des Menfchen
infofern, als der Menfch den in feinem Wefen liegenden
Gegenfatz zwifchen dem Willen zur Befonderung und
dem Willen zur Einheit in und mit dem Ganzen mit
vollem Bewußtfein erfaffen und überwinden und dadurch
zu einer fteigenden Entwicklung gelangen kann. Der
Wille zur Befonderung ift in den finnlich-egoiflifchen
Trieben, den Sonderneigungen, des Menfchen gegeben.
Es gilt für den Menfchen nicht, diefe finnlichen Triebe
und Sonderneigungen, die doch notwendige Voraus-
fetzungen feiner Wefensentwicklung find, zu vernichten;
fondern e« gilt, fie mit dem Gefetz des Ganzen in Einklang
zu bringen und hierdurch das Ganze mit wach-
fendem Inhalt zu erfüllen. Die menfehliche Individualität
ift: etwas Urfprüngliches und Eigenftändiges. Indem der
Menfch fleh diefe Eigenftändigkeit bewahren foll, foll er
doch zugleich ,in immer reicheren Beziehungen die
mannigfaltigen Kräfte der Außenwelt in fleh einftrömen
laffen, in fleh vereinheitlichen und in individuellen Werten
an das Ganze wieder zurückgeben' (S. 108). Dies ift der
wefentliche Sinn des Gewiffens: in Gegenfatz zu übermäßigen
Anfprüchen der Befonderung uns die Richtung
auf das Ganze als Grundrichtung unferes eigenen Wefens
zur bewußten Pflicht zu machen. Mit eigener Willens-
entfeheidung muß der Menfch diefe Richtung auf das
Ganze wählen. Durch ftetige Übung in folcher Willens-
entfeheidung wird die flttliche Überwindung der Leiden-
fchaften immer leichter.

Aber die tiefflen Einheitsforderungen unferer Seele
finden eine Gewähr ihrer Erfüllung doch nur im religiöfen
Glauben, und zwar in dem chriftlichen Glauben, der auf
der Idee der Liebe Gottes beruht. Bei diefem Glauben
erfcheint jedes Individuum feiner Idee nach als ein Gedanke
göttlicher Liebe, das heißt der fchöpferifchen
Kraft in der Selbfthingabe, benimmt, in den lebendigen
Beziehungen zu anderen Wefen diefen Gedanken immer
reiner herauszuarbeiten, in vollem Eigenklang die Allharmonie
zu bereichern und fleh felbft, beglückend und
beglückt, mit ihr zu erfüllen' (S. 122). Gottes Liebe wird
am größten darin erkannt, daß die Abfolutheit Gottes
an der Welt des individuellen Geiftes fleh felbft be-
fchrankt. Das Individuum foll ,aus einem Werkzeug in
der Hand Gottes zu feinem freien Mitarbeiter an dem
Werke der Einheit, an dem Reiche des Geiftes' werden
(S. 123).

Diefe Grundgedanken des Verf.s find befonders
durch Fechner und Eucken beeinflußt. Aber der Verf.
ift bei ihrer Ausgeftaltung doch auch eigene Wege gegangen
, und zwar in fehr beachtenswerter Weife. Er ift
nicht zünftiger Philofoph, fondern — wenn ich recht
unterrichtet bin — Mediziner. Aber fein vorliegendes
Buch hat durchaus nicht den Charakter einer bloßen
Dilettanten-Philofophie. Die Sicherheit, mit welcher der
Verf. feine ethifch-idealiftifche Gefamtweltanfchauung der
mechaniftifchen gegenüber vertritt, und die Tiefe, mit der
er das Freiheitsproblem erfaßt, indem er es im Zu-
fammenhang diefer metaphyfifchen Gefamtanfchauung zu

löfen unternimmt, zeugen von einer großen Energie des
philofophifchen Denkens. Mir fcheint diefes Buch zu
dem beften zu gehören, was in neuerer Zeit über das
Freiheitsproblem gefchrieben ift. Ich möchte es der Beachtung
der Theologen fehr empfehlen. Es ift höchft
erfreulich, von nicht-theologifcher Seite eine philofophifche
Weltanfchauung vertreten zu fehen, die fo unmittelbar
zu den Grundideen des Chriftentums hinleitet, wie die in
diefem Buche entwickelte.

Jena. H. H. Wendt.

Eucken, Rudolf, Einführung in eine Philofophie des Geiftes-
lebens. Leipzig, Quelle & Meyer 1908. (VIII, 197 S.)
8° M. 3.80; geb. M. 4.60

Unter dem anfpruchslofen Titel einer Einleitung oder
Einführung in die Philofophie pflegt man wohl neuerdings
dem Lefer eine beftimmte Metaphyfik oder ein abge-
fchloffenes und abgerundetes Syftem der Philofophie
darzubieten. Der Verf. der vorliegenden Schrift faßt
feine Aufgabe etwas anders auf. Er betrachtet fie als
eine wefentlich hiftorifche. Er greift einzelne der wich-
tigften philofophifchen Probleme heraus, geht fie in ihrer
Gefchichte durch, befchreibt und erörtert die Löfungen,
die fie im Lauf der Jahrhunderte gefunden haben. Und
indem nun zur Anfchauung gebracht wird, einerfeits, wie
gewiffe Gedankenbewegungen über fich felbft hinausdrängen
, wollen fie nicht erftarren oder fich verflüchtigen,
anderfeits, wie aus der Fülle des Vergangenen und Vergehenden
eine Reihe bleibender und zeitüberlegener
Werte herausfpringt, foll gleichfam die hiftorifche Entwicklung
als folche Zeugnis ablegen zu Gunften einer
Welt- und Lebensanfchauung wie diejenige ift, die der
Autor vertritt und als Geiftesphilofophie bezeichnet, die
aber an diefer Stelle, weil fchon öfter dafelbft gekennzeichnet
, nicht ausführlicher charakteriflert zu werden
braucht.

Das Buch zerfällt, abgefehen von der orientierenden
Einleitung und einem Schlußwort, in fünf Kapitel.

Das erfte, das ,Einheit und Vielheit' zum Thema
hat, geht davon aus, daß überall, wo fich geiftiges Leben
regt, das Verlangen entlieht nach einer Überwindung
des Nebeneinanders der Dinge und Elemente und nach
Herftellung eines inneren Zufammenhangs. Es fchildert
teils ausführlicher, teils in bloßen Andeutungen, wie die
antike Philofophie in ihren Hauptrichtungen, wie das
Chriftentum, das Mittelalter, die neuere Zeit diefem Bedürfnis
nach Fhnheit entgegengekommen find, und fchließt
mit einem Hinweis auf die Schwierigkeiten der Gegenwart
und die Notwendigkeit und Möglichkeit ihrer Überwindung
.

Mit Veränderung und Beharren' oder ,Zeit und
Ewigkeit', das heißt, mit den vornehmften Verfuchen,
dem Strom der Zeit zu entrinnen und innerhalb des-
felben und jenfeits desfelben ein Ewiges zu erfaffen und
zu erftellen, befchäftigt fich das zweite Kapitel, in dem
Piatonismus und Ariftotelismus, kirchlicher Katholizismus
und Myftizismus, der moderne Entwicklungsgedanke und
namentlich der heutige Relativismus und Ouafifkeptizis-
mus eingehender berückfichtigt werden.

Am umfangreichften vielleicht ift der Abfchnitt über
das mit den Stichworten ,Außenwelt' und ,Innenwelt,
gekennzeichnete Problem ausgefallen. Es konkurrieren da
in theoretifcher Hinficht Monismus, Dualismus, Materialismus
und Spiritualismus; in praktifcher Beziehung Naturalismus
und Idealismus, welch letzterer fich wieder in einen
jmmanenten' (der Sinnenwelt freundlich gegenüberftehen-
den) und einen ,fupranaturalen' (die Sinnenwelt fchroff ablehnenden
) fpaltet. Die Stellungnahme der verfchiedenen
Zeiten zu diefer Auffaffung wird dahin beftimmt, daß die
antike als die ,rein künftlerifche', die chriftliche als die
fpezififch ,ethifch religiöfe', die der Neuzeit als die ,dy-
namifch-intellektuelle' markiert wird. Als die überlegene