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Ausgabe:

1909 Nr. 3

Spalte:

75-76

Autor/Hrsg.:

Neubert, E.

Titel/Untertitel:

Marie dans L‘Église anténicéenne 1909

Rezensent:

Dobschütz, Ernst

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75

Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 3.

76

Neubert, Dr. E., Marie dans l'Eglise anteniceenne. Paris, V.
Lecoffre 1908. (XV, 283 p.) 8° fr. 3.50

Lehners bekanntes Werk über die Marienverehrung
erfchien 1881, in 2. Aufl. 1886; da war es wohl an der
Zeit, den Gegenftand von neuem in Angriff zu nehmen,
und Neubert hat fich diefer Aufgabe mit großem apolo-
getifchen Gefchick entledigt.

Das Büchlein hat 2 Teile: Maria im Dogma und
Maria in der Frömmigkeit: jener redet von maternite
humaine, conception virginale und maternite divinc, d. h.
von der Bedeutung, die es den Doketen gegenüber hatte,
daß Jefus von einer menfchlichen Mutter flammte, von
dem Wert, den die Väter dem Wunder der Jungfrauengeburt
beilegten, und davon, daß Maria fchon in vor-
nicänifcher Zeit als Gottes-Gebärerin bezeichnet wurde:
den Schluß macht eine kurze Erörterung des natus ex
virgine im Symbol. Der 2. Teil behandelt (nicht als
Dogma, fondern als Frömmigkeit!) den Glauben an die
dauernde Jungfräulichkeit in partu und post partum, die
perfönliche Heiligkeit, die Mitwirkung am Heilswerk und
fchließlich Verehrung und Anrufung. Dabei werden jedesmal
in chronologifcher Ordnung die fämtlichen kirchlichen
Schriftfleller der erften 3 Jahrhunderte abgehört. Diefe
Anordnung ermöglicht es, zunächft fcheinbar den Ver-
hältniffen diefer Frühzeit völlig gerecht zu werden; wobei
freilich fehr vieles breit erörtert wird, was zum Thema
nur in lofefter Beziehung fleht: die Beflreitung des Do-
ketismus von Ignatius bis Adamantius, die innere Entwicklung
des Judenchriftentums (um zu zeigen, daß die
Leugnung der jungfrauengeburt nicht deffen alte Tradition
repräfentiert, fondern erfl fpäter unter dem Einfluß der
Verhöhnung durch das ungläubige Judentum eingedrungen
fei), die Einheit beider Naturen in Chriftus. Im 2. Teil
kommt das ganze Protevangelium Jacobi, die Frage der
Brüder Jefu (in langer Auseinanderfetzung mit Zahns
Deutung der Hegefippftelle) u. a. zur Sprache. Dabei aber
werden unmerklich die Anfchauungen der fpäteren Zeit
eingetragen, wenn es z. B. S. 123 heißt: ce qui etait a
cette cpoque läquivalent du mot d-eoröxoQ, detait la formule
yi vvrjd eiq ix naovdvov, qui exprimait ä la jois l'liumanite
de celui qui etait ne, la diviniie de celui qui etait ne d'une
vierge, et Funion de la divinite et de l'liumanite dans celui
qui, tout en etant d'une vierge, s'etait soumis a la naissance.
Wenn N. mit Recht darauf hinweift, daß frühzeitig 1)
jzaodivoqfaft. als Eigenname flatt Maria erfcheint, fo denkt
er doch nicht daran zu fragen, welche religionsgefchicht-
liche Vorausfetzungen dies erklärbar machen. Dem Ausdruck
Jungfrau-Mutter für die Kirche gewinnt er einen
Beweis für die Verehrung der Maria ab. Diefe fleht ihm
von vornherein feft auf Grund des Syllogismus, daß fie
(außer bei dem Gegner des Papftes Calhfl, dem Advokaten
Tertullian) als Instrument nicht materiel, fondern
moral der Inkarnation in Betracht komme, alfo perfön-
liches Objekt der Verehrung fein müffe, wie fie perfönlich
an dem Erlöfungswerk mitgewirkt hat. So beginnt fchon
im Lukasevang., nach deffen Darfteilung Maria erfl in
Gottes Ratfchluß einwilligte, nachdem fie diefen ganz
vernommen, die Mariolatrie, wie die Proteftanten es nennen.
Sie i(l dann evident in der Rekapitulations-Theorie des
Irenäus. Daß der Kult der Maria in den drei erften Jahrhunderten
nicht fo klar ift, liegt nur daran, daß die Mutter
immer mit dem Sohne zugleich verehrt wurde; im übrigen
bezeugen ihn die Marienbilder der Katakomben — nach
Wilpert, wobei natürlich Harnacks anerkennendes Votum
über dies Werk nicht fehlt! Enfin le meilleur temoignagc
de la veneration des fideles de ces temps pour la Vierge,
c'esl leurpreoccupation de conserver et de defendre le Souvenir
de sa perpetuelle virginite, d'affirmer sa saintete eminente
et de mettre en lumiere le rang a part quelle oecupe a cote
du Redempteur. C'etait la un culte spontane, qu'aucun cidie
officiel n'eüt egale (p. 262). Hiernach wird niemand fich
wundern, die folide Arbeit proteftantifcher Forfcher wie

Benrath und Lucius kurzweg der Oberflächlichkeit und
Voreingenommenheit geziehen zu fehen.

Straßburg. von Dobfchütz.

Pichon. Prof. Dr. Rene, Les dernieres Ecrivains profanes.

Les Panegyristes. — Ausone. — Le Querolus. —
Rutilius Namatianus. (Etudes sur l'Histoire de la
Litterature latine dans les Gaules.) Paris, E. Leroux
1906. (VII, 322 p.) gr. 8° fr. 7.50

Diefes elegant gefchriebene und ausgeflattete Buch
gibt mehr, als der Titel verfpricht; es enthält eine vortreffliche
Charakteriftik der guten gallo-römifchen Gefellfchaft
des vierten Jahrhunderts, foweit fie nicht chrifllich oder
doch nicht ausgefprochen chrifllich war. Von befonderem
Intereffe für die Kirchengefchichte find die Partien, in
denen über die Religion diefer Kreife gehandelt wird.

Wir haben es alfo nicht mit einer Literaturgefchichte
zu tun; was man fonfl über die in Betracht kommenden
Autoren oder Werke in Literaturgefchichten findet, ift
zum größten Teile hier weggelaffen oder nur mehr beiläufig
gegeben; infofern wird man an fie erinnert, als das Prinzip
der Anordnung die fchriftftellerifche Art oder Individualität
ift. Die Hauptfache für den Autor ift, in
die Seele der Schriftfleller fehen und fie als Spiegelbilder
ihrer Zeitgenoffen erfcheinen zu laffen.

Der Verfaffer arbeitet freilich noch von einem anderen
Gefichtspunkte aus; er meint, daß bei den ver-
fchiedenen gallifchen Schriftftellern des 4. Jahrhunderts
fchon alle die Elemente wenigftens im Keime vorhanden
waren, welche für den franzöfifchen Geift maßgebend find;
in jedem Kapitel wird wieder darauf aufmerkfam gemacht,
fo daß diefer Gedanke wie ein das Ganze zufammen-
haltendes Band erfcheint. Er ift der Anlaß gewefen,
daß auch überall auf verwandte Erfcheinungen der franzöfifchen
Literatur hingewiefen wird, — eine für den
Lefer ficher willkommene Beigabe.

Im Zufammenhang mit diefem Gedanken legt die
Einleitung dar, daß die profane Literatur des vierten
Jahrhunderts nicht bloß ein Ende, fondern auch einen
Anfang bedeutet. In jedem Falle ift es mit Freude zu
begrüßen, daß diefe Zeit nicht nur als eine Zeit des
Verfalls angefehen wird; es gilt auch da, die lebenskräftigen
und auf die Zukunft weifenden Elemente herauszuheben
, und ficherlich werden wir darüber noch mehr
in dem von dem Verfaffer verfprochenen Werke über
die erften chrifllichen Schriftfleller Galliens erfahren.

Erfl im 4. Jahrhundert konnte Gallien eine eigenartige
und doch lateinifche Literatur hervorbringen; denn erfl
damals war die römifche Kultur in ganz Gallien durchgedrungen
; obgleich die Autoren ein flarkes Bewußtfein
davon haben, daß fie dem Imperium Romanum angehören,
fo fühlen fie fich doch ebenfo ftark als Gallier. Dem
gallo-römifchen Staat entfpricht die gallo-römifche Literatur
.

Die beiden erften Kapitel haben es mit den Pane-
gyriken zu tun; das erfte fchildert ,/e monde des ecoles',
das zweite ,la politiquc eher; les panegyristes'. In vortrefflicher
Weife wird die äußere Form der Lobreden
charakterifiert. Obgleich der Verfaffer fich keineswegs
den Fehlern diefer Rhetorik verfchließt, fo fucht er doch
auch ihre Vorzüge hervorzuheben. Die Fehler, das ins
Auge fpringende Intereffe für die Schönheit des bloßen
Wortes und der Phrafe, die Unnatürlichkeit ufw. follen
doch auch nicht überleiten laffen das Streben nach
korrektem Ausdruck, nach Klarheit, nach Gefchmack.
Ihre höfifche Tendenz läßt zu leicht verkennen, daß doch
auch bei ihnen objektive Wahrheit zu finden ift; und
darum laffen fie fich als Gefchichtsquellen benutzen.
Die Tendenzen ihrer Zeit kann man aus ihnen entnehmen;
fie zeigen, wie die rhetorifche Schulung zur Sittlichkeit,
zum Patriotismus erzog.