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Ausgabe:

1909 Nr. 26

Spalte:

703-705

Autor/Hrsg.:

Vollrath, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Frage nach der Herkunft des Prinzips der Anschauung in der Theologie Herders 1909

Rezensent:

Stephan, Horst

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7°3 Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 26. 704

des Konziis im Jahre 1545 wird nicht ans Licht gezogen; fchauung, die fich einerfeits auf das Leiden und Sterben
über die inhaltslofen erften Sitzungen des Konzils wird j Jefu, anderfeits aber und in wachfendem Maße auf fein
hier gefchwiegen; über den inneren Zufammenhang der ! ethifches Perfonleben richtet.

4., 5. und 6. Seffion erfährt man auch nichts. So prä- Dabei bekämpft er mit vollem Recht die durch

fentiert fich das Buch eigentlich als ein mechanifch Haym's Herderbiographie verbreitete Meinung, daß Herder
vollzogener Ausfchnitt aus der Gefchichte des Konzils, ; in Riga überwiegend Aufklärungstheolog gewefen fei.
noch dazu in flreng römifch-katholifch dogmatiftifcher j Tatfächlich fpielen in der Beziehung zu Chrifto die
Beleuchtung. Aber die vielerlei neuen Mitteilungen ! Nachwirkungen der pietiftifchen Erziehung eine erhebwerden
, bis Ehfes' Fortfetzung kommt, ihren Wert 1 liehe Rolle. Dazu treten, was V. nicht erwähnt, wohl
behalten. auch die Einflüffe von perfönlichen Lehrern wie Lilien-

Das Buch ift gut gedruckt, aber fchlecht geheftet; thal oder literarifchen wie Heilmann, die Einflüffe Klop-
es fällt beim Auffchneiden auseinander; diefe Unfitte ftocks (die eine eigene Unterfuchung verdienten) und
der Buchbinder follte doch endlich aufhören. Hamanns, überhaupt der Einfluß feiner geiftigen Gefamt-

Göttingen. P. Tfchackert. "e[lung> dj.e f chwb!reit?fw^itIJübJer die Auf klärung erhebt
_____,_ I Schon in diefer Fruhzeit ift Herder fich, wenn auch langft

Vollrath, Lic. Wilhelm, Die Frage nach der Herkunft des ! nicht fo fcharf wie in Bückeburg, eines religiös-theo-
Prinzips der Anfchauung in der Theologie Herders. Darm- logifchen Gegenfatzes zur Aufklärung bewußt Freilich
n. , /- t- ,,r. , , c Vollrath uberfpannt den richtigen Grundgedanken nach
fladt, C. F. Winter 1909 (72 S.) gr. 8° mehreren Seiten. Zunächft bezeugt es ungenügende
An Büchern über Herders Religion und Theologie Kenntnis der mittleren, wichtigften Aufklärungsperiode,
fehlt es nicht. Aber das meifte davon befteht in allge- wenn er die häufige Betonung der .Empfindungen des
meinen Überblicken, die trefflich in die Befchäftigung Herzens' (S. 291.) gegen die Aufklärung ausfpielt. Spal-
mit Herder einführen, ohne doch irgend eine Frage dings .Beftimmung des Menfchen' z. B. enthält folche
wirklich wiffenfchaftlich zu erledigen. Nur drei Punkte, Ausdrücke und Motive mindeflens ebenfo zahlreich; und
allerdings für den Anfang die wichtigften, waren bisher von diefem Büchlein hat Herder nachweisbar ftarke Ein-
monographifch in Angriff genommen: der eine von Otto drücke empfangen. Überhaupt unterfchätzt Vollrath den
Baumgarten in feiner Habilitationsfchrift .Herders An- religiös-biblifchen Gehalt jener Aufklärungsperiode be-
lage und Bildungsgang zum Prediger' 1888, ein anderer deutend. Verhängnisvoller für das Ergebnis der Ar-
von Rudolf Wielandt in feiner Differtation .Herders beit ift es, daß er die Chriftologie allein zum ,Schlüffel
Theorie von der Religion und den religiöfen Vorftellungen' für die Beurteilung der Religion des jungen Herder'
1903, ein dritter von mir in dem Buche ,Herder in Bücke- macht (S. 55). Er zeigt gegenüber Wielandt, daß we-
burg und feine Bedeutung für die Kirchengefchichte' 1905. nigftens damals in feinem Gottesbegriff nicht die auch
Vollrath faßt nun mit dem Anfchauungsprinzip einen vorhandene .religiöfe Naturanfchauung' (S. 45ff.), fondern
Punkt ins Auge, der zweifellos wichtig ilt; denn es führt in die ,ethifche Perfonanfchauung' (S. 51) vorfchlägt, die er
das Innerfte von Herders Frömmigkeit hinein und wirft j von der Anfchauung Chrifti her gewinnt. Das ift in ge-
ein helles Schlaglicht auf die religiös-theologifche Ent- wiffem Sinne richtig, auch fofern es Baumgartens Satz
wicklung, die von Pietismus und Aufklärung her zu einfehränken hilft, daß es Herder an der ,lebendigen,
Schleiermacher leitet. Mein Buch hatte feine Bedeutung ftetigen Selbftbeurteilung unter der Idee Gottes' fehle
für Herders religiöfe Höhezeit, die Bückeburger Jahre (S. 16). Lüne folche Selbftbeurteilung ift bei Herder tat-
(1771—76), ftark betont, über feine Herkunft aber aus fächlich in allen Perioden feines Lebens vorhanden. Aber
guten Gründen nur Vermutungen geäußert. Es ift ein ihre befondere Art zeigt, daß die Gottesidee bei Herder
Verdienft, daß Vollrath nun die Frage aufgreift. Er nicht in erfter Linie von der Chriftologie her beftimmt
glaubt fie am ficherften beantworten zu können, indem ift. Sie weckt nicht zuerft das Urteil, daß er ein Sünder,
er lediglich die Königsberger und Rigaer Frühzeit be- ! fondern daß er ,Staub' ift. Darin behält Baumgarten
handelt. zweifellos recht. Natürlich fehlt das Sündenbewußtfein
So ftellt er denn in dankenswerter Weife eine nicht, es kann fich gelegentlich fogar fehr hoch fteigern;
Reihe von wichtigen Zitaten und Zügen feiner Frömmig- aber dabei fpielt teils die Nachwirkung der Erziehung,
keit zufammen, die jene Pertode kennzeichnen. Freilich teils unwillkürliche Anempfindung an die biblifchen Texte
ein volles Bild gewinnen wir nicht. Denn Vollrath eine bedeutende Rolle. Wo Herder unbeeinflußt über
intereffiert fich tatfächlich nur, wie auch der Titel fagt, fich oder über feinen Genius fpricht (vgl. die Gedichte
für Herders Theologie. Er weiß zwar, daß die An- Bd. 29, 245f. 258f.), da findet fein Lebensgefühl fich mit
fchauung überall von ihm verwertet wird, aber er unter- der Anfchauung des herrlichen, allgewaltigen Gottes, aber
fucht nicht, wie das Prinzip auf anderen Gebieten ent- kaum mit der des heiligen verknüpft. Daraus folgt zu-
ftanden fein und etwa (z. B. durch den Zufammenhang gleich die Unmöglichkeit, die Jefusanfchauung zum allge-
der religiöfen mit der äfthetifchen Empfindung) auf meinen Schlüffel für Herders Religion zu machen. Seine
das theologifche herübergewirkt haben könnte. Die Be- Phantafie, d. h. auch feine Anfchauung richtet fich direkt
deutung der Sinne für das gefamte feelifche Leben zu auf Gott, den er nach Art des alten Teftaments oder
zeigen, ift von Anfang an eine Haupttendenz Herders. Klopftocks, aber gefättigt mit der ganz neuen Einficht
Mit Vorliebe fpitzt er fie auf das .Anfchauen' zu. .Meine in die Unendlichkeit der Welt, mit gewaltigen Bildern
ganze Seele ift Auge' (1765; Werke Bd. 32, S. 7) — in darftellt. Es wäre Künftelei, diefe Anfchauung Gottes
diefer inneren Verfaffung hört er z. B. den .Redner von der Jefusanfchauung abzuleiten. Wozu überhaupt
Gottes', der ihm eine .Situation der Menfchheit' als das Streben, alles auf eine Karte zu fetzen? Je größer,
künftlerifche Darfteilung einer moralifchen Idee vor- defto komplizierter, ja widerfpruchsvoller ift eine Perzeichnet
. Wenn Vollrath das Problem erledigen wollte, fönlichkeit. Die großen Fortfehritte der Gefchichte er-
fo mußte er alle folche Stellen unterfuchen. Er mußte geben fich aus einer Synthefe verfchiedener Sttömun-
weiter nach der Anlage von Herders Perfönlichkeit fragen, gen, die zuerft rein perfonell ift und erft allmählich zu
die ja zweifellos von vornherein auf das Intuitive und fachlicher Ineinsbildung führt. Bei der Entftehung des
auf eine eigentümliche Verbindung des ideellen mit dem j deutfehen Idealismus ift diefer Prozeß deutlich konfta-
finnlichen Moment gerichtet war. Statt deffen begnügt j tierbar, religiös-theologifch z. B. auf der Linie von Leffing,
fich Vollrath mit einer Unterfuchung der Frömmigkeit, Klopftock und Hamann her über Herder zu Kant und
vor allem an der Hand der Predigten. In verdienftvoller Schleiermacher. Was Herder betrifft, fo hat fchon fein
Weife zeigt er die Bedeutung, die das Verhältnis zu Jefus Freund Jean Paul es als feine Tragik bezeichnet, das
für Herder hat, und charakterifiert es wefentlich als An- er nicht ein einziger Stern, fondern ein Bündel von