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Ausgabe:

1909

Spalte:

667-669

Autor/Hrsg.:

Küssner, Gustav

Titel/Untertitel:

Was ist Christentum? 1909

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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66;

Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 24.

668

keineswegs von Schleiermacher datiert. Sie liegt vielmehr
dem religiöfen Programm Luthers und Melanch-
thons zugrunde; fie beherrfcht die evangelifche Umbildung
der Gotteslehre Luthers (,ein Gott heißt das, dazu man
fich alles Guten verfehen und Zuflucht haben foll in
allen Nöten'), fie bildet den Nerv der aus dem evan-
gelifchen Heilsglauben erneuerten Chriflologie (,koc est
Christtim cognoscere, beneficia ejus cognoscere), fie ift die
konfequente Anwendung der aus diefem Glauben fich
ergebenden religiöfen Erkenntnistheorie. Schäder wird
demnach die Operationsbafis feines Feldzugs bedeutend
zu erweitern haben, oder er wird vielleicht, im Lichte
der reformatorifchen Theologie, die bei ihm felbft vorliegenden
, feinen Hauptfatz korrigierenden (S. 138. 145)
Andeutungen weiter verfolgen, und damit die Nichtigkeit
feiner Klagen und Anklagen erkennen.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Küfiner, Paft. Dr. Guftav, Was ilt Chriftentum? Ein

Mahnruf und Programm für Alle, denen die religiöfe
Not unferes Volkes zu Herzen geht. Leipzig,
J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung 1909. (IV, 592 S.)
gr. 8° M. 6—; geb. M. 7 —

1. Das ift einmal ein ganz befonderes Buch, wie es
nicht oft auf den Haufen der Rezenfionsfchriften kommt.
Und das ift in einem Punkt gut; denn viele Bücher mit
592 S. könnte man nicht lefen. Und dann ifts fo hübfch
gründlich und auch ein bißchen breit gefchrieben; es
herrfcht in ihm noch ganz der unmoderne Stil mit fehr
langen Abfchnitten und großen Satzgefügen vor. Zu-
erft blättert man fich durch die 160 Seiten hindurch, die
vor den mediae res liegen. Aber dann lieft man. Zu-
erft befürchtet man eine langweilige Abfchlachtung von
Harnack's Wefen des Chriftentums, aber bald merkt man,
daß ein Eigener fpricht. Und zwar ganz Eigener. Zu-
erft macht er einen etwas neugierig auf das, was er
will; aber jene 160 Seiten fpannen doch langfam die Aufmerksamkeit
ab. Fünf Abfchnitte nämlich, die die Notwendigkeit
der Unterfuchung über das Wefen des Chriftentums
dartun wollen, laffen die Beleuchtung der verfchieden-
ften Lebensgebiete ausklingen in den Kehrreim: Wir
müffen wiffen, was Chriffentum ift; das Verhältnis von
Staat und Kirche, von Kultur und Chriftentum, von
Politik und Chriftentum, das Verhältnis der Konfeffionen,
ja auch das der Nationen — alles fehnt fich nach einer
Regelung, alles fchreit nach einer idealen Macht, nach
dem Chriftentum. Aber darum muß man auch wiffen,
worin es befteht. Das ift der Sinn diefer einleitenden Abfchnitte
, die fich immer höher wölben und weiter recken,
je mehr man fich hineinlieft: wir brauchen eine Einheitsformel
, um eine allgemeine Weltunion mit ihr anzubahnen.

Und dann kommt das ,wahre Wefen des Chriftentums
' im zweiten Hauptteil, 161-—461. Das gibt aber
wieder eine Überrafchung! Aus der Gefchichte wird als
offenfichtlicher Zweck der Menfchheit gefolgert, daß fie
die Erde füllen foll. Und dazu ftimmt das Wort aus
der Bibel, die überall Gottes Wort ift: ,Seid fruchtbar
und mehret euch, füllet die Erde und macht fie euch
Untertan'. Aus diefer zweier Zeugen Mund, ,Gefchichte
und Gottes Wort1, wird das Wefen des Chriftentums
kund: Weltherrfchaft, Bevölkerung und Beherrfchung der
ganzen Welt ift die Aufgabe des Menfchen, und das
Chriftentum gibt ihm allein die ethifchen und meta-
phyfifchen Grundlagen, um fie auszuführen. Chriftentum
ift Weltherrfchaft mit dem Geifte Jefu Chrifti. — Das ift
die Einheitsformel. Sie enthält in der Weltherrfchaft
ein Gut, das dem natürlich-menfchlichen und dem
pofitiv-gläubigen Intereffengebiet gemeinfam ift. Ift das
anerkannt, dann läßt fich beweifen, daß keine andere
Religion noch Weltauffaffung imftande ift, jene ethifch-
metaphyfifchen Grundlagen für diefe Aufgabe bereitzu-

ftellen als das Chriftentum. Von dem Reichtum diefes
Abfchnitts an theologifchen, religionsgefchichtlichen (bef.
China!) Kenntniffen, von klugen, gründlichen Erläute-
I rungen und Begründungen feines Hauptfatzes kann
i gar keine Vorftellung gegeben werden; ein ganz um-
! faffendes Wiffen und Können, das offenbar fchon viele
Jahre diefem einen Punkte gilt, gruppiert fich um die
Aufgabe der Vermehrung der Menfchheit. Um nur das
i eine zu erwähnen, es werden natürlich auch die fexuellen
I und fozialen Verhältniffe aufs gründlichfte im Dienft
jenes Ideals befprochen und ihre Umgeftaltung erörtert.

Dann folgt im dritten Abfchnitt ein ebenfo umfallendes
Arbeitsprogramm für Kirche und Staat und
Gefellfchaft; es wird faft alles mögliche befprochen:
Predigtaufgabe, Frauenfrage, Bevölkerungspolitik, Preffe,
Miffion und Kolonialpolitik — alles aber hängt ganz feit
an dem einen einzigen Ziel: ,feid fruchtbar und machet
die Erde euch Untertan'.

So ift das Buch ein Lebensbuch in dem doppelten
i Sinn: das ganze Leben der Zeit und Welt fpiegelt fich
I wieder in ihm, fo ein Buch fchreibt man nur einmal, um
fich felbft ganz auszufprechen. Ein Polyhiltor ftellt fich
ganz in den Dienft der einen Idee: Bevölkerungspolitik.

2. Und doch ilt das Buch kernfaul. Das liegt, wie
fich tatfächlich alle geiltig-gefchichtlichen Erfcheinungen
an dem Zentralgut erkennen laffen, dem fie dienen wollen,
das liegt am Gut, eben an jener Füllung der Erde. Das
ilt nicht das Gut des Chriftentums, das ift das Gut der
Kultur. Und auch das ift noch zum Teil zu hoch: Es
tritt zu fehr das rein animalifche Zunehmen der Raffe
hervor. Und alles Geiftige und Große wird nicht genug
als der Zweck von jenem Zunehmen betont. Und erft
recht von Chriftentum kann ich nichts in der Einheitsformel
finden. Ein folches Populations-Chriftentum
ift nicht dazu geeignet. Ohne den überweltlichen Zug,
der in dem überirdifchen Geiftesreich den Zweck lieht,
der alles andere bloß zu Mitteln herabfetzt, gibts kein
Chriftentum. Hier wird diefer transzendente Zug zwar erwähnt
, jedoch als Motiv für die weltliche Aufgabe verbraucht
. Das geht nicht. Freilich hört hier jede Dis-
kuffion auf, wenn es fich um die Ordnung der Dinge
nach dem Schema ,Zweck — Mittel' handelt; denn da
fpielt das Ideal mit hinein, das man hat. Zwar als
Nebenerfolg des Chriftentums könnte die Förderung der
Menfchheits- und Kulturaufgabe gemeint fein, weil es
die Verheißung diefer und der zukünftigen Welt hat;
aber nie die Hauptfache.

Darum wird diefer Unionsverfuch wie jeder andere
ins Waffer fallen. Die Kulturlcute werden fagen: zu
chriftlich, die Chriften: zu weltlich. Niemand wird es
recht fein, abgefehen davon, daß ein Buch von 600 Seiten
fich wenig zur Grundlage vonEinigungsbeftrebungen eignet.
Und ob nicht überhaupt das ganze Beftreben verkehrt
ift, zu einigen, was Gott getrennt hat — die Richtungen,
die Konfeffionen, die Nationen, Kultur und Chriftentum!
Ob nicht jedes von diefen feine Aufgaben hat im Haushalt
der Welt, feine befonderen? Ob die Einheit in einer
Formel liegen muß?

Damit kommen wir dem Buch auf feine tiefften
Wurzeln. Es ift grundlutherifch-orthodox. Die Weltfreudigkeit
in ihm ift ein fehr gefunder Zug, der als
Gegengewicht gegen die weltflüchtige Übergeiftlich-
keit verwandt werden kann. Aber um feinetwillen die
jenfeitige Zielbeftimmung fo zu befeitigen, geht doch
nicht an. Die Aufgabe ift gerade, das rechte Verhältnis
beider Ziele zu finden. Intereffant ift ferner die Begründung
des Kulturzieles mit dem Wort aus dem
Schöpfungsbericht. Das ift doch ein echt israelitifches
Wort. Und dies wird auf eine Fläche gefetzt mit dem
Neuen Teftament, denn es ift alles Bibel. Daran lieht
man, wie gerade die religions- und entwicklungsgefchicht-
liche Theologie in den Dienft der reinften und höchften
chriftlichen Ideen und Intereffen tritt und vor folchem