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Ausgabe:

1909 Nr. 24

Spalte:

659-660

Autor/Hrsg.:

Kowalewski, Arnold

Titel/Untertitel:

Arthur Schopenhauer und seine Weltanschauung 1909

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Seite 1

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659 Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 24. 660

Hauptfache überein. Angefichts des vielen Vortrefflichen
, was der zweite Teil bietet, möchten wir über die 1
Dispofition nicht eingehend rechten. Immerhin ift es auffallend
, daß, nachdem bereits im erften Teil die Frage
der Erweckung ausführlich zur Verhandlung gekommen
ift, im zweiten Teil von ,Evangelifation und Bekehrung', J
,Evangelifation und Erweckungen' aufs neue gehandelt
wird. Das Zufammengehörige hätte nicht getrennt werden
follen. Das Buch zeichnet fich auch durch feine gediegene
typographifche Ausftattung und große Korrektheit des
Druckes vorteilhaft aus. Nur manche Namen, z. B.
S. 5 Elifabeth Frey (ftatt Fry), S. 9: Pierfal (Matt
Pearfall) Smith, fpäter öfter Vieban (ftatt Viebahn) find 1
vernachläfligt.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Kowalewski, Priv.-Doz. Dr. Arnold, Arthur Schopenhauer
und leine Weitanichauung. Halle a. S., C. Marhold 1908.
(VII, 237 S.) gr. 80 M. 4.50

Das vorliegende Buch, aus Vorlefungen entftanden,
fchildert in einem erften Abfchnitt Schopenhauers Lebensund
Bildungsgang, in einem zweiten Schopenhauers
Weltanfchauung. An Biographien Schopenhauers ift feit
Gwinner (1. Aufl. 1862, 2. Aufl. 1878), der für alle die
Quelle bildet, kein Mangel. Eine weitere neue Bearbeitung
müßte fleh durch Fluß und Eleganz der Darfteilung oder
durch pfychologifche Vertiefung auszeichnen. Dies trifft
aber für die verhältnismäßig ausführliche Arbeit des Verf.
nicht zu. Immerhin treten einige charakteriftifche Züge
fchärfer als in anderen Darftellungen hervor.

Auch die Wiedergabe der ,Weltanfchauung' leidet an
gewiffen Mängeln der Darftellungsweife. Es find mehr
Anflehten Schopenhauers, Zitate aus feinen Werken und
kritifche Bemerkungen mofaikartig aneinandergereiht, als j
daß eine Gefamtüberficht nach den einheitlichen Gefichts-
punkten feiner Philofophie gegeben wäre. Dabei finden
fich Abfchweifungen, wie z. B. S. 141 bis 152 über
Nietzfches Theorie des apollinifchen und des diony-
fifchen Kunfttriebes, die im Verhältnis zum Umfange des
Ganzen doch allzuviel Raum einnehmen. Doch fehlt es
nicht an einzelnen glücklichen kritifchen Ausführungen
z.B. über Schopenhauers Gedanken über die Zweckmäßigkeit
in der Natur (S. 97 ff.) und befonders über die Ethik
der Willensverneinung (S. 208 ff.). Aber auch hier hat
ein anderer Bearbeiter, Johannes Volkelt, in feinem Buche
über Schopenhauer (Stuttgart 1900) das Befte vorweggenommen
.

Neues bringt derVerf. in den an dasKapitel überSchopenhauers
Peffimismus fich anfchließenden ,Empirifchen
Sondierungen', die zugleich eine kleine Ergänzung feiner
.Studien zurPfychologie des Peffimismus' (Wiesbaden 1904) '
darftellen follen. Der Verf. meint, da die Hauptmaffe
unferes jeweiligen Bewußtfeinsinhaltes aus Erinnerungs-
vorftellungen beftehe, fo hänge unfere Lebensftimmung
ganz wefentlich von dem affektiven Charakter der Erinnerung
ab. Es fei daher für die Peffimismusfrage von
der größten Bedeutung, daß man fich über den affektiven
Charakter der Erinnerung Klarheit verfchaffe. Auf
theoretifchem Wege laffe fich da pro und contra disputieren
' (S. 161). Wichtiger fei es, mittels ,empirifcher
Sondierungen' dieLuft- undUnlufterinnerung zu erforfchen.
Zu diefem Zwecke hat der Verf. mit 105 Knaben einer
ftädtifchen Volksfchule im Alter von 9 bis 15 Jahren
Verfuche angeheilt. Er ließ fie über die Luft- und Un-
lufterinnerungen des vorhergehendenTagesNiederfchriften
machen, und zehn Tage fpäter über diefelben Erlebniffe
noch einmal berichten. Aus den Tabellen foll fich z. B.
ein bedeutendes Überwiegen der ,Erinnerungsoptimiften'
und bis zu einem gewiffen Grade eine empirffche Be-
ftätigung der Lehre Schopenhauers ergeben, daß .unmäßige
FYeude und fehr heftiger Schmerz fich immer nur in der-
felben Perfon finden' (S. 198ff). Der Verf. bezeichnet

zwar diefe ,empirifchen Sondierungen' felbft als .rohe
Interimsleiftung'; er fcheint aber die Beweiskraft derfelben
immer noch zu überfchätzen. Die Gefahr einer Verallgemeinerung
zufälliger Befonderheiten des Tages und der
Perfonen ift hier, ganz abgefehen von etwaigen Bedenken
gegen die Frageftellung, doch allzugroß. Dem Verf.
fchwebt allerdings eine Organifation der Philofophie als
Ideal vor, bei welcher die experimentelle Pfychologie
die Grundwiffenfchaft darftellt (S. 235 h). Ich vermag ihm
darin nicht zu folgen. Die experimentelle Pfychologie,
die innerhalb gewiffer Grenzen allerdings Bedeutendes
geleiftet hat und noch leiftet, arbeitet wie alle Wiffen-
fchaft felbft mit grundlegenden Vorausfetzungen, die nur
von ihr unabhängig auf philofophifchem Wege zu begründen
find.

Dresden. Th. Elfen ha ns.

Starbuck, Prof. Dr. Edwin Diller, Religionspfychologie.

Empirifche Entwicklungsftudie religiöfen Bewußtfeins.
Mit Vorwort von Prof. William James. Band I und II.
Unter Mitwirkung von G. Vorbrodt überfetzt von Paft.
Friedrich Beta. (Philofophifch-foziologifche Bücherei
Band XIV und XV.) Leipzig, Dr. W. Klinkhardt 1909.
(XXXIX, 455 S.) gr. 8° je M.4-; geb. M. 5-

Zu den von William James in feinen Varieties 0/
Religious Experience am meiften benutzten Vorarbeiten
und Materialfammlungen gehört das jetzt für die .philofophifch
-foziologifche Bücherei' auf Anregung und unter
Mitwirkung G. Vorbrodts von Beta ins Deutfche übertragene
Buch des Amerikaners Starbuck, das einft James
felbft durch ein kurzes Vorwort eingeführt hatte. Es ift
als 38. Band der von Havelock Ellis herausgegebenen
, The Contemporary Science Series' vor 10 Jahren, alfo 1899,
erfchienen und zwei Jahre fpäter, 1901, in zweiter Auflage
gedruckt worden. Starbuck gehört zufammen mit
Leuba, Hylans, Mofes u. a. zu der Clarkfchen Pfycho-
logenfchule Nordamerikas, d. h. zu der Schule Stanley
Hall's, des Präfidenten der Clark-Univerfität. So gehört
er denn auch jetzt zu den Mitarbeitern des von Hall
feit 1904 herausgegebenen American Journal of Religious
Psychology and Education. Und zwar ift gerade Starbuck
ein befonders typifcher Repräfentant diefer Clarkfchen
Schule, bei dem neben ihren Vorzügen und Verdienften
auch ihre Einfeitigkeiten und Mängel recht ftark hervortreten
.

Das befondere Verdienft Hall's und der von ihm
begründeten Pfychologenfchule ift die empirifch-exakte
Sammlung und Sichtung pfychologifchen Materials, nämlich
pfychologifcher Auslagen und fonftiger pfycholo-
gifcher Daten — vorzüglich durch die fog. Fragebogen-
Methode. Statiftifche Tabellen und Berechnungen der
Kurvenfchwankungen, die fich für beftimmte Erfchei-
nungen und Momente in der Entfaltung des feelifchen
Lebens, fei es bei den verfchiedenen Individuen einer
beftimmten Gruppe, fei es bei verfchiedenen Gruppen
von Individuen aufzeigen laffen, fpielen hier die größte
Rolle. Zweifellos haben Unterfuchungen diefer Art,
wenn fie verftändig betrieben werden — und das darf
von denjenigen Starbucks im allgemeinen mit gutem
Recht behauptet werden — ihr unbeftreitbares Verdienft.
Aber andererfeits find auch die Schranken und Gefahren
diefes Verfahrens unleugbar. Es führt nur gar zu leicht
zu vorfchnellen Verallgemeinerungen, zu künftlichen Vergewaltigungen
und Verzerrungen durch Hineinpreffen
des Beobachtungsmaterials in die im Voraus feftgelegten
Frageftellungen, vor allem aber führt oder verführt es
leicht und vielfach zu einer einfeitigen Überwertung derjenigen
Momente, die fich am beften zahlenmäßig faffen
laffen, während diejenigen, bei denen das weniger oder
gar nicht der Fall ift, in den Hintergrund gefchoben
werden. So wird nicht feiten der Blick von den Haupt-