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Ausgabe:

1909

Spalte:

618-620

Autor/Hrsg.:

Fiebig, Paul

Titel/Untertitel:

Jesu Blut, ein Geheimnis? 1909

Rezensent:

Titius, Arthur

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6iy Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 22. 6x8

Inbezug auf die ,Uroffenbarung und Offenbarungs-
gefchichte' ergibt fich: Mit der (durch fprunghafte Entwicklung
herbeigeführten) Entftehung des Menfchen als
vernünftigen Wefens ift zugleich die religiös-fittliche Anlage
gegeben. Die erfte Religion ift als eine folche mit
,theiftifchen Zügen' zu denken. Deren weitere Entwicklung
ift dann durch die nach dem ,Prinzip des kleinflen
Kraftaufwandes' wirkende göttliche Offenbarung hervorgerufen
und geleitet worden.

Inbezug auf die Lehre von Jefus Chriftus' wird geltend
gemacht, daß der Entwicklungsgedanke einer chriftolo-
gifchen Theorie, die gewiffe Anfchauungen Schleiermachers
und Dorners kombiniere, zur Stütze gereichen könne.
Danach ift mit Jefus, wie auch immer fein Kommen vorbereitet
gewefen fein möge, kraft der ftetigen fchöpferifchen
Tätigkeit Gottes durch fprunghafte, ftoßhafte Entwicklung
ein höchftes und vollendetes Neues in die Welt getreten,
fo jedoch, daß zugleich in der Perfon Jefu fich eine
,ontogenetifche'Entwicklung, ein Heranwachfen zur vollen
Realifierung der Gottmenfchheit vollzogen hat. Verf.
bemüht fich im Zufammenhang damit um den Nachweis,
daß die Lehre von der Auferftehung Jefu mit dem Entwicklungsgedanken
fich vertrage. Dagegen lehnt er es
ab, mit Rudolf Schmid beftimmte die Parthenogenefis
betreffende Ergebniffe der modernen Naturwiffenfchaft
für die Begründung des Dogmas von der jungfräulichen
Geburt Chrifti zu verwerten.

Was endlich das ,Unfterblichkeitsproblem' betrifft,
fo wird gezeigt, wie der chriftliche Glaube an die Be-
ftimmung des Menfchen die Vorftellung einer über den
Tod hinausreichenden religiös-fittlichen Entwicklung herbeirufe
, als deren Subjekt freilich nicht die phyfifch
gebundene Seele im Sinn der Pfychologie fondern das
überempirifche oder transzendentale ,Ich' zu denken wäre.
Daneben wird zum Ausdruck gebrächt, daß darum die
Unfterblichkeit der Nichtchriften keineswegs, ja nicht
einmal diejenige der Tierfeelen, vorausgefetzt, daß man
nur die zu beachtenden Unterfchiede fefthalte, geleugnet
werden müffe.

Es ift Pflicht des Berichterftatters befonders zu erwähnen
, daß in vorftehendem Referat nur die Hauptlinien
des Buchs gezeichnet und manche Seitenlinien vernach-
läffigt find. Der Autor hat fich viel und mannigfach in
der modernen Naturwiffenfchaft umgefehen und unterläßt
es nicht, feine einfehlägigen Kenntniffe nach den ver-
fchiedenften Seiten hin zu verwerten. Mit dem Grundgedanken
der Schrift wird ja wohl jeder Einfichtige fich
gern einverftanden erklären und deffen Darlegung und
Begründung dem Verf. gern danken. Die daraus abgeleiteten
Konfequenzen genügt es wohl hier oben kurz
angedeutet zu haben, um zu Bewußtfein zu bringen, daß
fie nicht alle auf gleich bereitwillige Zuftimmung werden
rechnen können. Allerdings darf nicht vergeffen werden,
daß es fich zum Teil um folche Probleme handelt, die
Kaftan als ,gefchichtsphilofophifcher Natur' bezeichnet
und in Bezug auf deren Behandlung dem Berliner Dog-
matiker ein gewiffes Maß individueller Bewegungsfreiheit
als unerläßlich gilt. Im übrigen drängt fich wohl unwillkürlich
ein Vergleich auf mit Ottos Buch über ,Natu-
raliflifche und religiöfe Weltanficht'. Freilich find in
den beiden Publikationen die Akzente etwas anders
verteilt. Dem Göttinger Theologen kommt es vor
allem darauf an, zu zeigen, wie in der neueren Naturwiffenfchaft
felbft die mechaniftifche Erklärung zurückgedrängt
wird. Nur nebenbei läßt er fich auf einen zarten
Verfuch ein, verbindende Linien zu ziehen zwifchen dem
religiöfen Glauben und einer teleologifchen Entwicklungslehre
. Bei Beth liegt der Nachdruck auf der letzteren
Aufgabe. Aber unerachtet diefes Unterfchieds, der bei
der Bewertung mit in Anfchlag gebracht werden muß, ift
die Verfuchung begreiflich, derOttofchen Schrift den Vorzug
zuzuerkennen, und das eben wegen der weifen Selbft-
befchränkung und Referve, die bei größter Sachkenntnis

in allen Stücken geübt wird. Die Metaphyfik, das Wort
im engeren Sinne genommen, nicht in dem weiteren, in
dem es Wobbermin in feinem Buch über ,Theologie und
Metaphyfik' braucht, alfo die Disziplin, die wiffenfehaft-
liche Auskunft erteilen will über die letzten Gründe
und Ziele der Wirklichkeit, ift ihrem Wefen nach dazu
verurteilt, kein pgnoramus' gelten zu laffen und alle erdenklichen
Probleme gelöft haben zu müffen. Es ift ein
Privileg der religiöfen Weltanfchauung, daß fie, wo noch
kein ,Schauen' möglich ift, fich ohne mit fich felbft in
Widerfpruch zu geraten, auf die Ausfagen des Glaubens
befchränken darf. In der Schrift Beths fpielt das ,Schauen',
früher fagte man, die fromme Spekulation' trotz eines
gelegentlichen Protefts gegen diefe eine große Rolle.

Zum Schluß fei, ohne mit dem Recht des Kritikers
Einzelheiten zu bemängeln Mißbrauch treiben zu wollen,
wenigftens auf folgende in Frageform noch hingewiefen:
Ift ein ,rein energetifcher Anfang der Welt' (S. 60) auch
nur ,gewiffermaßen' mit einem .fpiritualen' identifchf
Verf. zeigt fich doch bei Erörterung des Unfterblich-
keitsproblems des vorhandenen Unterfchieds in dem
Maße bewußt, als beifpielsweife Haeckel darüber im
Unklaren ift. Wird die erforderliche Zurückhaltung
beobachtet, wenn es als eine ,Frivolität' bezeichnet
wird, Gott eine ,folche Art der Wirkfamkeit' zuzuerkennen
, die je durch einen befondern Schöpfungsakt'
,die neu ins Dafein tretenden Arten' ,ungeachtet ihrer
nahen Verwandtfchaft' bildet? Ift die Anwendung des
Entwicklungsgedankens auf das jenfeitige Leben, fo berechtigt
fie an fich fein mag, nicht demjenigen Entwicklungsgedanken
, mit dem es der Autor eigentlich zu tun
hat, innerlich fremd? Ift das Ich, dem die Unterfuchungen
Hudfons gelten, nicht etwas ganz anderes als das transzendentale
Ich' auf das fie dennoch bezogen werden?
Warum wird (S. 183h) die Stelle der Apologie über den
Urftand (I [II], § 17) folgendermaßen zitiert: ,Justitia
originalis liabitura erat non so/um aequale temperamentum
qualitatum corporis sed etiam hacc dona: notitia Dei
certior, timor Dei, fiducia Dei aut certa rectitudo'} Die
richtige Lesart ,notitiam Dei certiorem, timorem Dei, aut
cerle rectitudinem et vim ista efficiendi' ift doch der Thefe,
die der Verf. verteidigen will, weit günftiger.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Fiebig, Paul, Jefu Blut, ein Geheimnis? (Lebensfragen 14.)
Tübingen, J. C. B. Mohr 1906. (80 S.) gr. 8° M. 1.20
I Kneib, Prof. Dr. Philipp, Die ,Jenleitsmoral' im Kampfe
um ihre Grundlagen. Freiburg i. B., Herder 1906.
(VIII, 277 S.) gr. 8° M. 4 —

Die obigen, ganz heterogenen Schriften find nur
deshalb zufammengeftellt, weil fie durch ein Verfehen des
Referenten unerwünfeht fpät zur Befprechung gelangen.

Fiebigs Studie wendet fich ausgefprochenermaßen
an Laien, denen die Erlöfung durch Jefu ,Blut' rätfelhaft
erfcheint. In methodifch angelegter Unterfuchung wird
gezeigt, daß für die alte Chriftenheit diefer Zufammenhang
nichts Rätfelhaftes hatte, fondern vom kultifchen
Opfergedanken aus (zu deffen näherer Ausgeftaltung
neben jüdifchen auch griechifche myftifche Anfchauungen
mitwirkten) voll verftändlich erfchien. Die nähere Ana-
lyfe der Bedeutung, welche man um die Zeit Jefu dem
Opfer zufchrieb, wie fie insbefondere dem Mifchna-
Traktat Joma entnommen wird, zeigt freilich, daß die
fuhnende Kraft des Blutes der Opfertiere als felbftver-
ftändlich gilt, aber das Warum nicht mehr verftanden
wird; man denkt hier über die als hochheilig geltende
Inftitution nicht hinaus. Jefus erweift fich feiner Zeit gegenüber
als infofern original, als ihm ,nicht das Kultifche,
fondern das Sittliche und Religiöfe das eigentlich Wichtige
ift' (49). Wir aber müffen mit dem kultifchen Opfergedanken
und den ihn umfpielenden Symbolifierungsver-