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Ausgabe:

1909 Nr. 21

Spalte:

581-583

Autor/Hrsg.:

Kaerst, Julius

Titel/Untertitel:

Geschichte des hellenistischen Zeitalters 1909

Rezensent:

Wendland, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 21.

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Kaerlt, Julius, Gefchichte des helleniftifchenZeitalters. Zweiter
Band. Erlte Hälfte. Das Wefen des Hellenismus.
Leipzig, B. G. Teubner 1909. (XII, 430 S.) gr. 8°

M. 12 — ; geb. M. 14 —

Strömungen und Anfänge des Synkretismus, parallele
Entwickelung orientalifcher Religionen werden gewürdigt
. Als befonderen Vorzug erkenne ich an, daß K.
den Zufammenhang der politifch-fozialen und der reli-
giöfen Entwickelung weiter durchgeführt hat, als es in

Die Soldateska, der Ehrgeiz der Feldherren und die ! meiner Kultur gefchehen ift.
dynaftifche Politik der Diadochen führen zur allmählichen Auf Kap. 6 (,Der allgemeine Charakter der hellenifti-

Auflöfung der Reichseinheit und zur Bildung der neuen 1 fchen Kultur'), das befonders die Momente der Einheit
Großmächte. Die beiden erften Kapitel fchildern diefe der Kultur hervorhebt, folgt Buch VI. Es behandelt
Entwickelung bis zur Schlacht bei Ipfos 301. Während I den hellenittifchen Staat in feiner befonderen Bedingt-
Beloch wohl paffender 281 bei der Schlacht von Koru- heit durch die Kultur, die innere Begründung der Mon-
pedion einen Ruhepunkt macht, um die helleniftifche archie (1), die Grundzüge des Staates (2), das Verhältnis
Kultur zu fchildern, macht K. fchon hier einen Ein- ; der Monarchie zu den hellenifchen Städten (3), Mon-

fchnitt. Es folgt Buch V ,Uie helleniftifche Kultur'.

Die griechifche Geittesentwickelung hatte individuelle
Kräfte des perfönlichen Lebens und univerfale Tendenzen
entwickelt, die längft über die engen Grenzen
des Stadtftaates hinausftrebten; in der neuen hellenittifchen
Welt finden fie den Boden, auf dem fie fich frei
entfalten (Kap. 1). Die hellenifche, befonders attifche
Kultur war dazu berufen, Weltkultur zu werden. Das
neue individualittifche Lebensideal tritt mit gewiffen ge-

archie und Gefellfchaft (4). Von den Anhängen fei
befonders auf den erften hingewiefen. Die Wurzeln
der Humanitätsidee, die ihr befonderes Gepräge im
Kreife des jüngeren Scipio gewonnen hat (f. Reitzen-
(teins feinfinnige Rede, Wefen und Werden der Humanität
, Straßburg 1907), werden hier bei der alten
Stoa nachgewiefen.

Bd. II 2 wird bis zur Schlacht bei Sellafia (221)
führen. Die Anlage diefes ganzen Teiles läßt fich fchon

meinfamen Grundzügen, aber verfchiedenartig nuanciert, | jetzt beurteilen. Über die Dispofition des Stoffes im
in den helleniftifchen Philofophien auf (Kap. 2). In dem ! Großen möchte ich mit dem Autor nicht rechten; die
trotz aller Lehrunterfchiede gleichartigen praktifchen Ideal ! Schwierigkeiten der Gruppierung kann doch nur aboffenbart
fich der Geift des neuen Zeitalters. Den Indi- I fchätzen, wer fich felbft an einer zufammenfaffenden
vidualismus wie den mit ihm fich fo leicht verfchwifternden Darftellung verfucht hat. Die Genefis der helleniftifchen
Kosmopolitismus, Autarkie und Gemeinfchaftsleben bringt Staaten und der neuen Weltkultur hat K. in ihren
die den neuen Zeitgeift am klarftenwiederfpiegelnde ftoifche tiefften Gründen und in den weit in die frühere Ent

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Philofophie ins Gleichgewicht und in engften Zufammen
hang mit ihrem allgemeinen Weltbild. Einheit der Welt
und der Menfchheit, Weltbürgertum und Weltkultur,
Humanität, diefe wirkfamften Ideen der Stoa find durch
den univerfalen, ins Weite gehenden Zug des Hellenismus
fehr wefentlich bedingt; fie find der Ausdruck der
veränderten Weltlage. F"ür die religiöfe Entwickelung
der fpäteren Zeit find befonders zu beachten die Ausführungen
S. 156 über die Schranken und Härten des
philofophifchen Ideales: Es ift ein Ideal wefentlich für
die geiftige Ariftokratie, und es ift wefentlich auf die
Ifolierung des Individuums gerichtet. K. gegenüber
möchte ich noch ftärker betonen, daß in der Praxis
auch das Gemeinfchaftsgefühl der Stoa eine rege Betätigung
am ftaatlichen Leben nicht gefördert hat; die
Verpflichtung dazu wurde durch zu viele Klaufein ein-
gefchränkt.

Kap. 3, ,der technifche Charakter der helleniftifchen
Kultur', behandelt die charakteriftifche Differenzierung
der Berufe und Lebenskreife, wie fie im wiflen-
fchaftlichen, politifchen, militärifchen, gewerblichen Gebiete
hervortritt: Arbeitsteilung, Forderung der Sachkunde
und des technifchen Könnens, Scheidung der

Wickelung zurückreichenden Wurzeln darlegen, nicht
eine ins einzelne gehende Darftellung der gefchichtlichen
Vorgänge geben wollen (I, S. IV). Sicher find die Untertitel
,Die Grundlegung des Hellenismus' und ,Das Wefen
des Hellenismus' beffer begründet als der Gefamttitel. K.
gibt oft mehr Reflexionen über die Gefchichte, als Ge-
fchichtsdarftellung. Die Motive und wefentlichen Faktoren
des Herrfcherkultes werden ausführlich dargeftellt,
aber das hiftorifche Material wird erft in der zweiten Beilage
nachgeholt; und wenn man S. 209 ff. 340 ff. (wo mit
Recht die Mitwirkung orientalifcher Vorftellungen und
Traditionen, in deren Erbe die helleniftifchen Herrfcher
eintreten, betont wird) und die zweite Beilage S. 374 ff.
zufammennimmt, erhält man den Eindruck, als wenn
der Verf. in diefem Punkte erft während der Arbeit die
volle Herrfchaft über den Stoff und die Überficht über
alle Momente gewonnen habe. Von der Ausbreitung
orientalifcher Kulte wird gehandelt, aber man wünfcht
mehr pofitive, vor allem chronologifche Daten. Belochs
Abfchnitte VII, VIII (Hellenifierung des Oftens, Wirt-
fchaftliche Umwälzung) bilden eine fehr notwendige Ergänzung
.

Aber nicht fowohl zu tadeln, als zu charakterifieren

Fächer erinnert lebhaft an das moderne Leben, ift aber hebe ich das hervor. K. hat fich feine befondere Auf-
durch ältere Theorien und Tendenzen vorbereitet. Es gäbe geftellt und fein beftimmtes Ziel gefleckt; die
wird hier gezeigt, mit welcher Vorliebe die Hiftoriker fchriftftellerifche Kunft, die er einfetzt, ift nicht gering,
verwandte Erfcheinungen bei orientalifchen Völkern auf- Das befondere Gepräge gibt diefem Werke fein Exiftenz-
fuchen. Der Staat wird jetzt mehr von den Beamten recht neben Niefes forgfältiger Mofaikarbeit nach den
als von den Kräften des Bürgerfinnes getragen. Die : Quellen und neben der ftoff- und farbenreichen Dar-
Berufsarbeit gewinnt das Übergewicht über das öffent- j ftellung Belochs. Wer die weltgefchichtliche Bedeutung
liehe und politifche Leben. ! des Hellenismus kennen lernen, die helleniftifche Kultur

Auf Kap. 4, ,Rationalismus und monarchilche Welt- ; als Grundlegung der modernen, ihre Gefchichte als
anfehauung', das mir kein felbftändiges Exiftenzrecht zu | unfere eigene Gefchichte verliehen will, wer in die
haben fcheint, folgt (5) die Behandlung der helleniftifchen , großen Pnnzipienfragen eingeführt werden will, der möge
Religion: Rationalismus, politifche Berechnung und Aus- kaerft lefen. Gerade der Theologe wird aus diefem
nutzung der Religion find treibende Kräfte; Apotheofe und Werke reiche Belehrung fchöpfen. K. gibt weite Rück-
Herrfcherkult find befonders charakteriftifche Erfcheinun- i blicke und Ausblicke, die fich vielfach auf die chrift-
gen und hängen mit dem individualiftifchen Zuge der Zeit liehe Kultur und bis auf die Gegenwart richten. Mit-
zufammen, die fich von der überlegenen Macht einzelner unter gefchieht des Guten zu viel. Das Verhältnis der
Individuen abhängig fühlt. Der Verfall der Stadtftaaten Reformation zu den Sakramenten brauchte felbft in
bedingt auch den Verfall der alten volkstümlichen Reli- j einer Anmerkung nicht berührt zu werden (1863). Das-
gionen. Die Religion verliert ihren nationalen Charakter, felbe gilt von der Anm. S. 191 über die fittlichen Gefahren
fie wird mehr Sache der Individuen; und den Gebildeten , des modernen Mafchinenbetriebes und die ihnen entgegenwill
die Philofophie die Religion erfetzen. Reaktionäre , wirkenden Kräfte. Und folche modernen Parallelen