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Ausgabe:

1909 Nr. 20

Spalte:

570-571

Autor/Hrsg.:

Strecker, R.

Titel/Untertitel:

Kants Ethik 1909

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 20.

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populärer Darftellungen und dürfen denAnfpruch erheben,
zur wiffenfchaftlichen Diskufüon felbft etwas beizutragen.

Den Anfang macht ein Thema, das nicht fehlen
durfte, aber an die Spitze geftellt auch befondere
Schwierigkeiten bietet, .Glaube und Dogma'. Prof. Lic.
Dr. Faut behandelt es klar und umfichtig, ohne doch in
diefem Rahmen viel Eigenes bieten zu können. Im 3.
Vortrag fpricht Stadtpfarrer Dr. Vöhringer über .Glauben
und Gefchichte'. Den Mittelpunkt feiner umfaffend
orientierten Ausführungen bildet das Problem: Wie kann
der chriftliche Glaube an eine Perfon der Vergangenheit
gebunden und doch Bewußtfein der Gegenwart Gottes
fein? Die Antwort des Verfaffers knüpft an Kahler und
Herrmann an, indem fie geltend macht, daß für unfern
Glauben zuletzt nur das Bedeutung habe, was nicht bloß
der Gefchichte angehört, fondern gegenwärtig ift und
bleibt und die Kraft hat, uns lebendig zu berühren (S. 71).
Der 4. Vortrag von Stadtpfarrer Lic. Efenwein ift dem
.Vorfehungsglauben' gewidmet. Der Verfaffer macht
fich deffen Verteidigung nicht leicht. Er würdigt offen
und rückhaltlos die großen Lebensrätfel und Denk-
fchwierigkeiten, mit denen der Glaube an Gottes Weltregierung
zu ringen hat. Allein er urteilt mit Recht,
daß gerade diefe Widerflände den Wert und die Herrlichkeit
unferes Glaubens nur um fo heller hervortreten
laffen (S. 101). Kin großer Teil des Vortrags ift der
Befprechung des Wunders gewidmet. Man darf dem
Verfaffer ohne weiteres zugeben, daß es unweife ift,
Naturordnung und Wunder in einen Gegenfatz zu ftellen,
aber man wird dann nur um fo mehr daran fefthalten
müffen, daß die Naturordnung für Gott keine Schranke
bildet. Die formale Überzeugung, daß Gott feiner Naturordnung
nicht widerfpricht, darf die materiale Gewißheit
nicht aufheben, daß für ihn kein Ding unmöglich ift.
Der 5. Vortrag von Stadtpfarrer Günther behandelt den
.Erlöfungsglauben'. Der Verfaffer charakterifiert die
Befonderheit des chriftlichen Erlöfungsgedankens im
Unterfchied von anderen verwandten Ideen auf religiöfem
und philofophifchem Boden. Unter den Konkurrenten
des chriftlichen Glaubens werden neben der äfthetifchen
Befreiung durch die Kunft auch die Zukunftsträume des
Sozialismus genannt. Die Gebundenheit unferes Heilsglaubens
an Chrifti Perfon wird zum Teil unter Kritik
der Anfchauungen E. Sulzes vertreten. Was die dog-
matifche Ausgeftaltung der Erlöfungslehre betrifft, wird
auf die Mannigfaltigkeit der neuteftamentlichen Anfchauungen
hingewiefen und vor einfeitiger Verfolgung
juriftifcher Kategorien gewarnt. Als die beiden Perlen
des Büchleins möchte ich jedoch die Vorträge von Prof.
Dr. W. Hacker über .Glauben und Naturwiffenfchaft'
und von Stadtpfarrer J. Herzog über den .Vollendungsglauben
' bezeichnen. Der erftere, der uns in Verbindung
mit feinem Bruder, dem Zoologen Valentin Häcker, das
wertvolle Büchlein .Naturwiffenfchaft und Theologie'
(1907) gefchenkt hat, fagt Vortreffliches über Aufgabe
und Methode der naturwiffenfchaftlichen Arbeit und die
Vereinbarkeit ihrer Ergebniffe mit der religiöfen Welt-
anfehauung. Die Urfachenforfchung, auf die es dem
Naturforfcher ankommt, und aus deren Ergebniffen unfer
theoretifch.es Weltbild erwächft, wird benimmt unter-
fchieden von der Deutung der Welt, um die es der
Religion zu tun ift. Häcker fchlägt demnach folgenden
Friedensvertrag zwifchen Glauben und Naturwiffenfchaft
vor: ,§ 1: Die Glaubenslehre verpflichtet fich, falls fie auf
Urfachen und Wirkungen zu reden kommt, alle korrekt
gewonnenen Gefetze von den urfachenforfchenden Fachmännern
beziehen zu wollen. § 2: Die Urfachenforfchung
erklärt fich bereit, wo fie zu Sätzen gelangt, die nicht
mit ihren eigenen Methoden gewonnen find, diefe ausdrücklich
als Weltdeutung zu etikettieren' (S. 29). Noch
find wir nicht fo weit, daß diefer Vertrag allgemein in
Geltung ftünde; aber es leuchtet ein, wie viel mit feiner
Annahme für den wiffenfchaftlichen Verkehr gewonnen

wäre. J. Herzog hat fein Thema: Vollendungsglaube
(Jenfeitsglaube) in einer für einen Vortrag ungewöhnlichen
Ausdehnung behandelt. Über die Stufen des animiftifchen
Volksglaubens und der philofophifchen Unfterblichkeits-

; ahnung fteigt er zum chriftlichen Vollendungsglauben
empor, deraufdieGewißheitderGotteskindfchaft gegründet
ift und die Überzeugung von dem unendlichen Wert der

; Menfchenfeele vorausfetzt. Gegen die Beftreitung der
chriftlichen Lebenshoffnung wird geltend gemacht, daß
diefe theoretifch weder zu beweifen noch zu widerlegen

[ fei, in praktifcher Hinficht aber von dem Vorwurf des
Egoismus und der Entwertung der Kultur nicht getroffen
werde, vielmehr der Perfönlichkeit wie der Kultur durch
Einordnung in den univerfellen Bau des Reiches Gottes

1 erft ihre eben fo bedeutfame wie feft umgrenzte Stellung
anweife. Über den Inhalt der chriftlichen Hoffnung urteilt
Herzog zugleich befonnen und weitherzig. Die wertvollen
Punkte find ihm: das übergefchichtliche Ziel der ge-
fchichtlichen Entwicklung, die entfeheidende Stellung
Chrifti, der Fortbeftand der Perfönlichkeit, die Aufhebung
des Zwiefpalts zwifchen Körper und Geift, der innere
Zufammenhang des diesfeitigen und des künftigen Le-

j bensbeftands. Zu den Momenten des ewigen Lebens
rechnet er auch die Stillung des Wahrheitsdurftes. Über
das Detail der Zukunftshoffnung will er nicht durch
dogmatifche Machtfprüche entfehieden wiffen; in diefem
Sinn nimmt er nicht nur das taufendjährige Reich, fondern

1 auch die Annihilationstheorie und den Gedanken der

j Wiederbringung in Schutz.

Alles in allem darf man wohl fagen, daß das hübfeh
ausgeftattete Büchlein eine erfreuliche Bereicherung der

j apologetifchen Literatur bedeutet, und daß in ihm eine

j wirklich zeitgemäße Verteidigung des chriftlichen Glaubens
geführt wird. «

Leipzig. O. Kirn.

Strecker, Dr. R., Kants Ethik. Eine offene Schrift an
meinen verehrten Freund Herrn Profeffor Dr. A. Meffer
Gießen. Gießen, E. Roth 1909. (99 S.) kl. 8° M. 1.20

Unter Bezugnahme auf Meffers Werk über .Kants
Ethik' und auf die Moralphilofophie der Marburger Schule
wendet fich diefe Schrift insbefondere gegen den Aphorismus
und Rigorismus in der Ethik. Der Autor redet
einem Eudämonismus das Wort, der Recht und Weit
der Neigung nicht überfehe und, ftatt bloß formale
Gebote aufzuhellen, die Förderung des menfehlichen
Lebens als höchften Zweck des Handelns zu behaupten
und zu begründen vermöge. Er verweift auf die größere
Popularität einer fo angelegten und befchaffenen Ethik,
auf ihre ftärkere Werbekraft, auf die Ablehnung aller
apriorifcher Satzungen durch gewiffe typifche Geifter wie
Chr. Schrempf. Er führt aus, daß die herrfchenden fitt-
j liehen Gebote tatfächlich die Schätzung des menfeh
i liehen Lebens als eines Wertes vorausfetzen und nur unter
j folcher Vorausfetzung Geltung beanfpruchen können. Zum
Schluß bricht er noch eine Lanze gegen den Determinis-
[ mus und ergeht er fich in einer kurzen Auseinander-
fetzung über die Bedeutung eines tranfzendenten Glaubens
und einer Jenfeitshoffnung, auch für eine eudämoniftifche
! Ethik.

Die Schrift berührt äußerft fympathifch durch die
anfpruchslofe Sachlichkeit und die finzere Begeifterung
für fittliche Ideale, die fich in ihr fpiegeln. Ob fie mit
ihrem Kampf für den Eudämonismus gegen den Aprioris-
mus im Rechte ift, darf Refer., der weder dem einen
noch dem andern huldigt, hier wohl auf fich beruhen
lallen. Wenn er felbft in feiner Schrift,Das pfychologifche

j Wefen der Religion und die Religionen' mit dem Verf.
in dem Gedanken übereinftimmt, daß die fittlichen Gebote
die Einfehätzung des menfehlichen Lebens als eines objektiven
Werts vorausfetzen, fo darf und muß er freilich

! die Frage hinzufügen, ob die bloße Luft am Leben des