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Ausgabe:

1909

Spalte:

568-570

Titel/Untertitel:

Unser Glaube. Sechs Vorträge über die wichtigsten religiösen Fragen der Gegenwart 1909

Rezensent:

Kirn, Otto

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56;

Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 20.

568

174ff. 271 f.), ift er doch nichts weniger als reaktionär
gefonnen (94), erkennt auch die relative Berechtigung
des Liberalismus an (32 k), ja er geht foweit, ,als ultima
ratio populörum die gewaltfame Umgeflaltung der Rechtsordnung
durch Verletzung des begehenden Rechtes als
nicht völlig entbehrlich in der Entwicklung der ftaat-
lichen Rechtsordnung' anzuerkennen (207). Für die Not
des Proletariers findet er einmal Worte von einer Wucht
der Bitterkeit, die der ,Vorwärts' nicht überbieten kann:
,Noch fchlimmer als die Sklaverei der alten Welt, welche
für vertraute und dauernde perfönliche Beziehungen
Raum ließ, ift das Verhandeln menfchlicher Perfonen
und ihrer Arbeitskraft um einen nach Stunden und Tagen
berechneten Geldlohn, der jeden Augenblick durch
Kündigung wieder entzogen werden kann. Die Profti-
tution als Vermietung des eignen Leibes zum Genußmittel
gegen eine Geldzahlung ift nur die widerwärtige
Spitze eines lediglich durch Geldlohn vermittelten Mietens
der Arbeitskraft menfchlicher Perfönlichkeiten' (101).
Die hier bekundete unabhängige und vorurteilsfreie Ge-
finnung ift mit einer etwas altfränkifchen Art verbunden,
deren patriarchalifcher Grundzug und deren Naivität noch
nicht von der PLrkenntnis der ökonomifchen Entwicklung
in ihrer vollen Tragweite zerbrochen ift. Zum Belege
zitiere ich nur den Satz: ,In entwickelten Kulturzuftän-
den wird die gefamte, für Anpflanzung zugängliche Erdoberfläche
den Bedürfniffen der auf ihr augenblicklich
und auch ferner wohnenden Menfchen entfprechend eingeteilt
' . . (145), der harmlos, ohne Erläuterung hinge-
ftellt wird, während er eins der fchwierigften Probleme
in fich fchließt. Für die Übernahme wirtfchaftlicher Betriebe
durch den Staat, wie überhaupt für ,ftaatsfozialifti-
fche' Tendenzen hat G. keine Sympathie; foziale Gefetz-
gebung follte nur ,ftaatliche Kontrolle und Einfchränkung
fozialer Sonderintereffen im Dienfte des Gemeinwohls
fein' (279 k).

Mehr noch als diefe perfönliche Stellungnahme G.s
intereffiert der kunftvolle Aufbau feiner Darfteilung. Aus
der Tiefe des Chriftentums heraus, dem Liebesgebot, der
Auffaffung von Sünde und Gnade, der Idee des Reiches
Gottes, erweift er, daß die chriftliche Ethik fich nicht
nur als individuelle, fondern zugleich als foziale ausge-
ftalten muß, und daß in ihr die Spannung zwifchen individuellem
und fozialem Leben ihren gefunden Ausgleich
findet. Da aber nach proteftantifcher Auffaffung die
fittlichen Lebenskreife nicht von der Religion bevormundet
werden dürfen, fondern fich nach der ihnen immanenten
Notwendigkeit zu geftalten haben, fo muß die Sozialethik
auf eine ,foziologifche Elementarlehre' aufgebaut
werden (wie die Individualethik auf Pfychologie). Diefe
zeigt, wie die natürliche und nie aufzuhebende Veran-
laffung zur Gemeinfchaftsbildung in der allfeitigen Ergänzungsbedürftigkeit
des menfchlichen Einzelwefens gegeben
ift. Mit Schleiermacher wird nun die littliche Aufgabe
in der geiftigen Beherrfchung der Naturwelt durch
Erkenntnis und Organifation gefunden, die fich beide in
der Wechfelbeziehung von gefelligem und gefchäftlichem
Verkehr vollziehen. Ohne prinzipielle Klarheit wird
neben die hieraus fich ergebende Veredelung der natürlichen
Bedürfniffe die gefellfchaftliche Solidarität in der
Jugenderziehung, der Fürforge für die Gebrechlichen, der
Bekämpfung von Not und Sünde, der Ordnung des ge-
meinfamen Lebens geftellt (die eben zeigen, daß Natur-
beherrfchung nur ein Moment des fittlich-natürlichen
Prozeffes ift). Es werden fodann als die .Mittel gefell-
fchaftlicher Verbindung' dieVerftändigungsmittel (Sprache
und Kunft), die Überwindung der Schranken von Raum
und Zeit (die Wege und Grenzen im Raum — die Überlieferung
und der gefchichtliche Fortfehritt), das fefte
Maß des Güteraustaufches (Maße und Geld) und die ge-
meinfame Ordnung (Sitte und Recht) befprochen. In
alledem haben wir zwar .Mitteldinge', aber folche ,von
der allerhöchften moralifchen Bedeutung' (115). Es folgt

I die Darftellung der drei Hauptformen menfchlicher Ge-
1 meinfehaft, der Familie (Sphäre der perfonlichen Fürforge
und Pflege), der Gefellfchaft (Sphäre der freien
Verbindungen zu gemeinfamen Unternehmungen), des
Staates (Wohlfahrt der Gefamtheit) und — ein fehr cha-
rakteriftifches und wertvolles Kapitel — ihrer gegenfeitigen
Beziehungen. Schon diefe kurzen Andeutungen werden
genügen, zu zeigen, in welchem Maße die Schleiermacher-
fchen Formen, ohne ihre Biegfamkeit und ihren Wert zu
verlieren, mit konkretem Inhalt erfüllt find. An einem
Hauptpunkt freilich verfagt G.s Darflellung ebenfo wie
die Schleiermachers, indem er fich von anthropologifchen
und kulturhiflorifchen Gefichtspunkten faft ganz unberührt
! zeigt.

Für die Kirche bleibt hiernach eine eigne Form nicht
übrig; fie fchloß fich vielmehr in den verfchiedenen Perioden
ihrer Gefchichte jedesmal an eine der genannten

I Formen in erfler Linie an, in der älteflen Zeit an die Fa-

] milie, im Mittelalter an die Form des Staatslebens, feit
der Reformation an die Formen freier Affoziation (293).
Doch kann fie auch in diefen nie ganz aufgehn, da
ihr durch ihre Ausftattung mit dem Worte Gottes als
der höchften Autorität, mit dem höchflen Gute des
ewigen Lebens, mit Katholizität und Humanität eine

j unvergleichliche innere Einheit gegeben ift. So fehr die
Formgebung durch fremdartige Motive beeinflußt ward,

j ift es doch keine Verbildung, wenn das Chriftentum fich
in Dogma, Kultus und Verfaffung gefchichtlich ausge-
ftaltet hat.

Ed. v. d. Goltz hat, da feines Vaters Manufkript bei
Darftellung des Verhältniffes von Staat und Gefellfchaft
abbrach, auf Grund fonfliger Materialien den Entwurf zu
i Ende geführt. Nach weitern Mitteilungen auf Grund
I älterer Manufkripte follte fich der Autbau der chriftlichen
Sozialethik felblt in der Form fozialer Güter-, Tugend-
(worüber beachtenswerte Notizen vorliegen) und Pflichtenlehre
vollziehn. Dem widerfpricht aber der Entwurf, der
I unmittelbar an die Darfteilung der Gemeinfchaftsformen
j ,die foziale Tugend- und Pflichtenlehre' anfchließt (36).
Darnach wächft fich alfo die foziologifche Elementarlehre
(Befchreibung der fozialen Struktur) zur fozialen
Güterlehre (Darftelluug des fittlichen Ideals) aus. In der
j Tat überwiegt namentlich in der Schilderung der Gemeinfchaftsformen
die Darftellung der idealen Beziehungen fo
j fehr, daß fich hier nichts mehr hinzufügen ließe. Nur
1 fehlt abfichtlich die Bezugnahme auf die Religion. Es
j läßt fich daher vermuten, daß nach Analogie des fonftigen
| Aufbaues G. Kapitel über das Verhältnis von Kirche und
Chriftentum zu Ehe, Gefellfchaft und Staat hinzufügen
wollte, um zu zeigen, inwieweit fie durch das Chriftentum
zwar nicht umgeartet, aber doch vertieft und geweiht
werden können.

Göttingen. Titius.

Unfer Glaube. Sechs Vorträge über die wichtigften religiöfen
Fragen der Gegenwart von Lic. A. Efenwein, Lic. Dr.
A. Faut, E.Günther, Dr. W. Häcker, J. Herzog,
Dr. O. Vöhringer. Heilbronn, E. Salzer 1909. (172 S.)
8° M. 1.80; geb. M. 2.40

Die in diefem Bändchen vereinigten Vorträge find
im Lauf des letzten Winters in Stuttgart von der Vereinigung
der ,Freunde der chriftlichen Welt' vor einem
religiös intereffierten Laienpublikum veranftaltet worden.
Sie wollen zeigen, daß die Überzeugungen des chriftlichen
Glaubens mit den Ergebniffen der Wiffenfchaft und den
Gütern der modernen Kultur wohl vereinbar find, wofern

nur Inhalt und Tragweite beider richtig beftimmt werden.

j Ihre Verfaffer bewähren den alten Ruf der fchwäbifchen
Theologie, daß in ihr fyftematifches Intereffe und Kenntnis
der philofophifchen Arbeit in befonderem Grade lebendig
find. Manche diefer Vorträge überfchreiten das Niveau