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Ausgabe:

1909 Nr. 1

Spalte:

510-511

Autor/Hrsg.:

Richter, Georg

Titel/Untertitel:

Kritisch-polemische Untersuchungen über den Römerbrief 1909

Rezensent:

Bauer, Walter

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509

Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 18.

dreht, fucht Bacon die im zweiten Evangelium benutzten
Quellen zu ermitteln, um fo den Ereigniffen
möglich!! nahe zu kommen. Nach feinem Urteil hat
der Evangelift (R) neben den petrinifchen Erinnerungen
(P) auch die den beiden anderen Synoptikern gemein-
i'ame Quelle (Q) gebraucht. In manchen Fällen fchließt
er fogar genauer auf Benutzung der Geftalt jener Quelle,
die dem Lukas (Q Lk) oder, die dem Matthäus (Q Mt) vorgelegen
hat. Endlich wird mit X aus nicht genau be-
ftimmbarer Quelle fließendes Material bezeichnet. Bacon
ift eifrig bemüht, einer jeden Quelle das Ihrige, wie dem
Verfaffer letzter Hand das Seinige zuzuweifen, ohne je-
' doch das vielfach Unfichere der erzielbaren Refultate zu
verkennen.

Wer fich aus dem Markusevangelium über die Ge-
fchichte Jefu zu belehren wünfcht, muß außer einer
Kenntnis der verarbeiteten Quellen Einficht in die Art
und Weife erworben haben, wie der Evangelift den ihm
zufließenden Stoff formt. Deshalb lenkt Bacon ftets aufs
Neue die Aufmerkfamkeit feiner Lefer auf die unumftöß-
liche Tatfache, daß die Evangelienfchreiber nicht, oder
doch nicht in erfter Linie hiflorifch intereffiert find. Sie
wollen mit ihrer Arbeit Gläubige flärken.Unbekehrte überzeugen
, Gegner entwaffnen, nicht neugierige Frager nach
dem gefchichtlichen Verlauf vergangener Ereigniffe befriedigen
. Nur wer fleh ein genaues Bild von der Lage
der chriftlichen Gemeinden zur Zeit des Markus, ihren
Sorgen und Nöten, von ihrer Art zu glauben, zu denken
und zu hoffen macht, vermag eine Befchreibung des
Lebens Jefu, die damals entftanden ift, wirklich zu würdigen
. Denn nur einem folchen kann fleh ergeben, was
an dem evangelifchen Bericht als korrekte Darftellung
aus der Gefchichte Jefu zu gelten hat. Nur er ift dazu
befähigt, die erforderlichen Korrekturen und Abftriche
vorzunehmen.

Bacon macht Ernft mit den für die Arbeit an den
Evangelien aufgeftellten Grundfätzen. Mit einfehneiden-
der Kritik prüft er die einzelnen Teile des marcini-
fchen Lebensbildes Jefu auf ihren hiftorifchen Gehalt
und erfchüttert unfer Vertrauen zu Markus als Gefchichts-
fchreiber erheblich. Manchmal mag er dabei auch über
das Ziel hinausfehießen. Ich perfönlich finde die Thefe,
daß Markus bei der Gruppierung feines Materials lediglich
Wirkungen auf das religiöfe Leben zu erzielen be-
ftrebt gewefen fei (S. 113), etwas zu fcharf. Und ob
die Wundererzählungen in dem Maße, wie Bacon will,
für den Evangeliften fymbolifche Bedeutung gehabt haben,
ift mir zweifelhaft. Auch geht die Skepfis gegenüber der
Gefchichtlichkeit gewiffer Perikopen wie etwa der von
der Bitte der Zebedaiden (145 f.) oder der von der Vor-
ausfage des Verrates (203) reichlich weit. Aber wir haben
allen Grund, dem Verf. dankbar zu fein für die Energie,
mit der er feine gefunden Prinzipien geltend macht.
Daß er dabei in erheblichem Umfang mit den Reful-
taten Loifys, deffen großes Werk über die Synoptiker
Bacon bei der Abfaffung feiner Schrift noch nicht zu
Gebote ftand, zufammentrifft, ift ein erfreulicher Beweis
für die wefentliche Richtigkeit feiner Auffaffung.

Befonderen Wert haben die regelmäßigen Hinweife
auf den Paulinismus des ,paulinifchften der Synoptiker'.
Und was Bacon über die Entftehungszeit, den verloren
gegangenen Schluß des Evangeliums oder die apolo-
getifche Tendenz des Markus autführt, wird, wie das
Meifte in dem Buch, die Zuftimmung weiter Kreife
finden. Vereinzelte Ausftellungen können nur dazu
dienen, die Überzeugung von der Ehrlichkeit diefes
Beifalls zu ftärken.

Marburg (Heften). Walter Bauer.

Richter, Pfr. G., Kritifch-polemifche Unterfuchungen über den
Römerbrief. (Beiträge zur Förderung chriftlicher Theologie
. Herausgegeben von A. Schlatter und W. Lütgert.
Zwölfter Jahrgang 1908. Sechftes Heft.) Gütersloh, C.
Bertelsmann. (267 S.) gr. 8° M. 3 —

Richters kritifch-polemifche Unterfuchungen über
den Römerbrief find von ihrem Verfaffer gedacht als
Ergänzung zu feinem 1907 im gleichen Verlage er-
fchienenen Kommentar ,die Epiftel Pauli an die Römer
verdeutfeht und erläutert'. Sie follen die tiefere wiffen-
fchaftliche Begründung der dort gegebenen Auslegungen
nachbringen.

Man wird geneigt fein, einem Pfarrer, der fern von
größeren Bibliotheken dem fehr löblichen Drang, fich
wiffenfehaftlich zu betätigen, nachgibt, viel zu Gute zu
halten. Aber, wenn ein folcher die Früchte feiner Arbeit
dem literarifchen Markt zuführt, gibt er uns damit das
Recht, auch Anforderungen an ihn zu ftellen, unter
anderem die, daß er fich bis zu einem gewiffen Grade
in der Literatur über feinen Gegenftand umgefehen hat.
Daß dies auch in entlegenen Dörfern möglich ift, haben
im praktifchen Amte flehende Männer uns bewiefen.
Richter dagegen hat fich mit dem Zurateziehen einer
Bücherei begnügt, deren letzte Anfchaffungen im Jahre
1881 vorgenommen zu fein fcheinen. Wenigftens find die
neueften Auslegungen, von denen er Kenntnis verrät, die
aus dem genannten Jahr flammenden Auflagen der
Kommentare von B. Weiß und Godet. Nur ganz gelegentlich
(z. B. S. 49) fcheint einmal mit ,Cremer' das
Buch von H. Cremer über die paulinifche Rechtfertigungslehre
zitiert zu fein. Im Übrigen ift, was in den letzten
faft drei Jahrzehnten vor fich gegangen, dem Verfaffer
gleichgültig. Er befchränkt fich fo energifch auf die Zeit
vor 1881, daß er von Mangold zwar das ältere Werk von
1866, nicht aber das fpätere von 1884 verwendet, daß er
weder den Kommentar von R. A. Lipfius noch die kurze,
aber gehaltvolle Auslegung von Jülicher oder gar das
englifche Buch von Sanday und Headlam berückfichtigt
und — von Monographien und Zeitfchriftauffätzen ganz
zu gefchweigen — felbft ein Werk wie H. Holtzmanns
Lehrbuch der neuteftamentlichen Theologie zu Rate zu
ziehen, für entbehrlich hält. Danach find die beliebten
Wendungen ,neuerdings', ,die meiden Neueren' oder gar
,fämtliche Neuere' zu verliehen.

Aber Richter hat noch nicht einmal die von ihm
auf S. 37 am Kopf der Speziellen Exegefe' aufgeführten
Literaturwerke fämtlich wirklich ftudiert. Ja, einzelne
derfelben hat er offenbar niemals auch nur gefehen.
Er könnte fonft nicht das bei Meyer-Weiß begegnende,
von ihm ohne Zweifel übernommene, Siglum ,v. Heng.'
feierlich mit ,von Hengftenberg' auflöfen, während es

1 doch den Holländer W. A. van Hengel bedeutet. Daß

' es fich dabei nicht um einen lapsus calami handelt, ergibt
fich aus S. 172, wo der Lefer aufgefordert wird, in
das Urteil einzuftimmen, daß man Leuten wie v. Heng,
gewiß nicht rationaliftifche Velleitäten nachfagen kann.

j Nach folcher Entdeckung, die dadurch, daß Tifchendorf
S. 72 mit zwei f, Morifon S. 73 mit zwei r gefchrieben

) werden, wahrlich keine Abfchwächung erfährt, kann es
Richter niemandem verdenken, wenn er bei den häufig
vorkommenden Namenreihen von Auslegern den Liften
von Meyer-Weiß oder fonft wem zu begegnen fürchtet,
nicht aber, was vor allem für die Zitate aus den Kirchenvätern
fo dringend nötig ift, aus eigener Lektüre ge-

, fchöpften Angaben.

Nun gibt es gewiß geniale Köpfe, welche die Lei-
ftungen anderer gemütsruhig ignorieren und doch Außerordentliches
leiften können. Daß Richter zu diefen Begnadeten
gehört, vermag ich zu meinem Leidwefen aus
feiner Arbeit nicht zu erfehen. Er ift fich bewußt, in
vielen Punkten ganz neue Wege eingefchlagen zu haben,
und tatfächlich bringt er manches Eigenartige. Nur