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Ausgabe:

1909 Nr. 17

Spalte:

496-500

Autor/Hrsg.:

Rietschel, D. G.

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Liturgik 1909

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 17.

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zismus, Pragmatismus, fowie der diefem verwandten Auf-
faffung der Wiffenfchaft als denk-ökonomifcher Leiftung.
Ein drittes Kapitel hat es mit dem ,Urfprung der Erkenntnis
im pfychologifch-genetifchen Sinn' und mit dem
,Urfprung der Erkenntnis im erkenntnistheoretifchen Sinn',
das heißt, mit der Frage nach der Entftehung der Erkenntnis
einerfeits, mit der nach ihrer Geltung anderfeits,
und den diesbezüglichen Theorien (Rationalismus, Empirismus
, Kritizismus) zu tun. Und nun folgt in einer Serie
von Abfchnitten eine anfprechende Charakteriftik der wich- J
tigften Typen erkenntnistheoretifcher Syfteme: des naiven 1
und kritifchen Realismus, des objektiven Idealismus zugleich
mit den beiden Antipoden, dem ,Pfychomonismus'
und ,Empiriokritizismus', des Phänomenalismus und des
transzendental-logifchen Idealismus. Unwillkürlich ge-
ftaltet fich die Darftellung zu einer Befürwortung des
kritifchen Realismus; doch bleibt fie objektiv im beften
Sinne des Worts, und der geübten Kritik haftet die Eigentümlichkeit
an, die für eine fachliche Kritik bezeichnend
ift, daß fie zugleich zum Verftändnis der abgelehnten Gedankenkomplexe
etwas beizutragen vermag. Intereflant
ift unter anderem der gegen die Marburger Schule erhobene
Einwand, daß der objektive Idealismus, den fie
vertritt, mit der transzendentalen Methode, auf die fie fo
großen Wert legt, keineswegs notwendig gegeben fei.
Vielmehr bedeutet die Kombination des erfiteren mit
letzterer, die freilich erft dem Syftem feinen faszinierenden
Reiz als einer Weltanfchauung verleiht, offenbar eine
unbeabfichtigte Annäherung an den perhorreszierten j
Pfychologismus, mag gleich diefer noch fo fehr abge- !
fchwächt werden, oder aber doch eine Abfchweifung in
die Metaphyfik. Beachtenswert ift ferner der Umftand,
daß die Kantifche Erkenntnistheorie in doppelter Interpretation
, in phänomenaliftifcher Deutung und in transzen-
dallogifcher (refp. objektiv-idealiftifcher) Deutung wiedergegeben
wird. So wie fich die Diskuffion über den Sinn
der Kritik der reinen Vernunft vielfach geftaltet hat, ift
das an und für fich fchon ein Verdienft, ein Zeichen von
Objektivität und Selbftzucht bei der Darftellung. Dagegen
ift es zu bedauern, daß die fpeziell von Windelband und
Rickert im Anfchluß an Fichte vollzogene Fortbildung
der Kantifchen Erkenntnistheorie im Rahmen des Ganzen
keinen Platz gefunden hat. Sie hätte immerhin eine Er- j
wähnung für fich beanfpruchen können.

Eine Überficht über die Wiffenfchaften (Idealwiffen-
fchaften, Realwiffenfchaften und Wertwiffenfchaften und
deren Probleme) gibt dann das vorletzte Kapitel, während
das letzte von ,wiffenfchaftlicher Erkenntnis und religiöfem
Glauben' handelt. Und zwar wird da zuerft das Verhältnis 1
von Wiffen und Glauben nach katholifcher und darauf 1
das Verhältnis von Wiffen und Glauben nach proteftan-
tifcher Anfchauung erörtert. Hier insbefondere wird
wieder unterfchieden: a) die Auffaffung der Religion als
einer Betätigung des Gefühls (Schleiermacher); b) die
Auffaffung der Religion als eines unmittelbaren fubjek-
tiven Erlebniffes (W. Herrmann); c) die Auffaffung der
Religion als eines ,Poftulats der praktifchen Vernunft'
(A. Ritfehl, H. Siebeck).

So erwünfeht nun die Zugabe des letzten Kapitels dem
Theologen erfcheinen möchte, kann Ref. nicht verhehlen,
daß er fich nicht mit allen Einzelheiten einverftanden weiß. |
Zu c) ließe fich bemerken, daß A. Ritfehl es fich mit einem
gewiffen Recht verbitten würde, ohne weiteres zu den
Vertretern der Poftulatentheorie gerechnet zu werden.
Zu b), daß eine wirklich befriedigende Abrechnung mit
Herrmanns Lehre vom Wefen der Religion erft möglich J
wäre, wenn man fich zunächft einmal, wenigftens vorläufig
, auf den erkenntnistheoretifchen Standpunkt des
Marburger Theologen Hellte. Zu a) endlich, daß der
uralte Vorwurf, die Pfychologie kenne Gefühle nur als
Begleiterfcheinungen von Empfindungen oder Vorftellun-
gen zwar die Schleiermacher'fche Theorie, nicht aber
deren neuere Um- und Fortbildung trifft. Diefe gibt

rückhaltlos zu, daß die Gefühle als Begleiterfcheinungen
von Empfindungen oder Vorftellungen auftreten, behauptet
aber weiter, was die Pfychologie lediglich be-
ftätigen kann, daß die Gefühle ihrerfeits wieder Vorftellungen
auslöfen oder erzeugen, zu welcher Gattung
von Vorftellungen die fpezififch religiöfen gehören.

Danach vermag Ref. die Hauptbedeutung des Buchs
nicht in dem Abfchnitt über das Verhältnis von Glauben
und Wiffen zu finden. Was er als eine Dienftleiftung
einfehätzen möchte, läßt fich hier vielleicht am beften
folgendermaßen formulieren. Meffer kommt zu dem Ergebnis
, daß, was immer die Religon fei und wie fie immer
entftanden fein möge, eine Auseinanderfetzung mit der
Wiffenfchaft nicht zu vermeiden fei. Gewiß, das ift, wie
übrigens vom Verf. gelegentlich hervorgehoben wird,
auch durchaus die Meinung des Unterzeichneten. Aber
diefe Auseinanderfetzung wird fehr verfchiedene Formen
annehmen und annehmen müffen, je nach der Erkenntnistheorie
, die als zu Recht beftehend gilt. Deshalb ift für eine
großzügige Apologetik eine gewiffe Einficht in die Erkenntnistheorie
einfach unumgänglich. Deshalb eben kann
die vorliegende Schrift, insbefondere auch für den Theologen
, wertvoll und förderlich fein: felbftverftändlich nicht
als ein Erfatz für die erkenntnistheoretifche Literatur,
wohl aber als eine umfichtige, recht gefchickte und fich
dem Verftändnis des Anfängers anbequemende Einführung
in das Studium derfelben.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Rietlchel, Geh. Kirchenr., 1. Univ.-Pred., Dir. des Pred.-
Koll. zu St. Pauli, Prof. D. G., Lehrbuch der Liturgik.

Zweiter Band. Die Kafualien, (Sammlung von
Lehrbüchern der praktifchen Theologie in gedrängter
Darftellung. Herausgegeben von H. Hering. III Band.)
Berlin, Reuther & Reichard 1909. (X, 482 S.) gr. 8°

M. 8.50

Mit vorliegendem zweiten Bande — der erfte erfchien
1900 — ift Rietfchels Lehrbuch der Liturgik vollendet.
Ein Werk mühfamften Fleißes, ausgebreiteter Gelehr-
famkeit und eindringenden Scharffinns, dem Verfaffer
ein ehrenvolles Lebensdenkmal, der evangelifchen Theologie
eine zu lebhaftem Danke erweckende wertvolle
Gabe. Der Reichtum namentlich an gefchichtlichem
Stoff, mag er immerhin etwas ungleich verteilt fein,
bietet eine fchier unerfchöpfliche Quelle der Belehrung;
bei dem überall hervortretenden liebevollen Intereffe des
Verfaffers am Werden der liturgifchen Formen und
an deren Gewordenfein ift es gewiß nicht leicht, den
hiftorifchen Stoff vom archäologifchen durch fefte Grenzen
zu fondern, d. h. aus der Vergangenheit nur das darzubieten
, deffen Beziehungen zur Gegenwart erkennbar
find; wer nachträglich diefe Sonderung vornimmt, kann
hie und da auf Ausführungen flößen, die rein archäolo-
gifches Gepräge tragen; er wird jedoch auch von folchen
Partien gern und dankbar Kenntnis nehmen.

Das eigentümliche Urteil des Verfaffers, das der
Liturgik, weil in ihr ein lediglich formales Prinzip fehr
heterogene Dinge zufammenhalte, den wiffenfehaftlichen
Charakter abfpricht (I S. 6 f.) und den Stoff den andern
Disziplinen der Praktifchen Theologie zuweifen will,
hat von P. Drews in den Theol. Studien und Kritiken
1900 S. 475 f. eine m. E. zutreffende Korrektur
erfahren. Allein auch wenn der Verfaffer feinem Kritiker
Recht gäbe, fo würde doch eine Umgeftaltung
der Ökonomie des Werkes nach Fertigftellung des
erften Bandes für den zweiten Band unmöglich gewefen
fein. So müffen wir es denn in den Kauf nehmen,
daß wir auch im zweiten Bande auf die Vereinigung
der vermeintlich heterogenen Dinge aufmerkfam gemacht
werden: der erfte Abfchnitt handelt von den
mit dem Katechumenat, der zweite von den mit der