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Ausgabe:

1909 Nr. 16

Spalte:

474-477

Autor/Hrsg.:

Ihmels, L.

Titel/Untertitel:

Die christliche Wahrheitsgewißheit 1909

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 16.

474

Wunders in der Durchbrechung und Aufhebung des
naturgefetzliche Kauffalzufammenhangs gefehen wird'.
Das Wunder darf nicht ,innerhalb des Weltgefchehens
eine beftimmte Sphäre abgrenzen, welche durch das Eintreten
der göttlichen Kaufalität in einen abfoluten Gegen-
fatz zu allem übrigen Gefchehen gebracht würde' (10).
Diefer fchon von Schleiermacher aufgeftellte Kanon ift
zutreffend, die Beurteilung der entgegengefetzten An-
fchauung als ,heidnifch' prinzipiell einwandfrei. Nur follte
auch hervorgehoben werden, daß diefe .heidnifche' Auf-
faffung fchon in der Bibel ftarke Anhaltspunkte hat, bei
Thomas, Quenftedt und in weiten Kreifen, denen Stange i
nahefteht, noch heute als die fpezififch chriftliche gilt, [
und daß der Deismus, indem er durch die Betonung der j
allgemeinen Gefetzmäßigkeit des Gefchehens jene ,heid-
nifche' Vorftellung vom Intereffe des Welterkennens aus
zertrümmerte, auch der Frömmigkeit einen Dienft erwiefen
hat. Indes foviel Deutlichkeit liegt nicht in Stanges Sinn.
Ihm fehlt noch fo fehr der Mut der Konfequenz, daß er 2)
jeden Verfuch, die naturgefetzliche Möglichkeit der einzelnen
Wunder zu erklären', grundfätzlich ablehnt und hier
dem naturwiffenfchaftlichen Erkennen Enthaltfamkeit auferlegt
(12 f.); es bleibt mithin letztlich bei der fo ftolz
abgewiefenen Ifolierung, weil fonft, wie es fcheint, das 1
Wunder doch nicht Wunder bliebe. Um die Verwirrung
voll zu machen, wird 3) von der .modernen Weltanfchau- 1
ung' behauptet, daß ihr das göttliche Wirken in der Welt
eine befondere Sphäre neben dem natürlichen Welt- j
gefchehen bilde (9 f.), von der ,modernen liberalen Theologie
' aber, daß fie ,die Überzeugung von der unmittelbaren i
Gegenwart Gottes in der Welt preisgebe' (15). In dem
Widerfpruch diefer Sätze gegen die Wahrheit und ihrer
Divergenz gegen einander tritt die Direktionslofigkeit der
gefamten Ausführung deutlich zutage. Eine Konftruktion
der modernen Theologie aus dem Deismus muß eben
trotz aller Gewaltfamkeit fcheitern, weil dem ,modernen'
Denken die pantheiftifche Tendenz näher liegt als die j
deiftifche.

Überaus künftlich ift auch die Durchführung des zweiten
Grundgedankens. Angeblich wirkt in dem ethifchen
Zentralbegriff der Perfönlichkeit der .rationale Individualismus
' der Aufklärung fort; durch diefen werde in die
ethifche Beurteilung der Relativismus eingeführt und der !
Begriff der Schuld eliminiert; darum könne der Glaube
fich lediglich zur Nachfolge Jefu geflalten als desMenfchen,
in dem die Beftimmung des eigenften Wefens des Menfchen j
zur vollkommenen Anfchauung komme. Auch diefe Sätze
gehören, wie man weiß, im wefentlichen zum eifernen
Beftand der kirchlichen Polemik. Die Beweisführung 1
Stanges vermag ihre Haltbarkeit nicht zu erhöhen. Ganz
unhaltbar ift die Unterftellung, als ob der Begriff der fitt-
lichen Perfönlichkeit (der übrigens weit über die Kreife
der .Modernen' hinaus grundlegende Verwendung findet)
das Schibbolet für die Geltendmachung des bloßen In- j
dividualismus fei, während doch fchon Kant den Begriff
mit der Beurteilung des Handelns nach einem allgemeinen
Gefetz in Verbindung gebracht hat. Um eine Eliminierung
des Schuldbegriffs anzutreffen, muß man fchon, da
folche bei der ,modernen liberalen' Theologie nirgends
vorkommt, bis zu den extremen Äußerungen moniftifcher
Religiofität gehen. Über die Auffaffung der Offenbarungsqualität
Jefu aber entfcheidet nicht nur das Schuldgefühl,
fondern vornehmlich auch die prinzipielle Wertung ge-
fchichtlicher Größen für das fromme Erleben, das Ürteil
über den Wert der gefchichtlichen Überlieferung u. a.

Auch hier verhüllt St.s Polemik feine in der Tat
weitgehende Übereinftimmung mit dem modernen Geifte.
Dem fittlich religiöfen Idealismus, der fich in der modernen
Jefus-Verehrung äußere, will er feinen großen Wert nicht
abfprechen (22 f). Ja er nennt es ,das befondere Charisma j
der modernen Zeit, daß fie die Maßftäbe des fittiichen
Bewußtfeins zu Kriterien der religiöfen Beurteilung
macht' (30). Nimmt man alles, auch aus fonftigen Ausführungen
zufammen, fo zeigt fich, daß auch für Stange
die Auseinanderfetzung mit der Moderne ein wichtiges
und kompliziertes Problem bildet, das keineswegs durch
glatte Ablehnung fich erledigen läßt. Wollte er ebenfo
die moderne Theologie als Auseinanderfetzung, als Ringen
mit der modernen Weltanfchauung würdigen, ftatt beide,
wie er es im ganzen tut, zu identifizieren, fo würde damit
erft ein richtiger Ausgangspunkt, zugleich aber auch trotz
der vorhandenen Gegenfätze ein weiter gemeinfamer Boden
gewonnen.

Göttingen. Titius.

Ihmels, Prof. D. L., Die chriftliche Wahrheitsgewißheit, ihr

letzter Grund und ihre Entftehung. Zweite, erweiterte
und veränderte Auflage. Leipzig, A. Deichert'fche
Verlagsbuchhandlung, Nachf. 1908. (VIII, 403 S.) gr.8°

M. 7 —

Eine Überficht über die Gliederung der Unterfuchung
in der erften Auflage hat in diefer Zeitfchrift bereits
Reifchle gegeben (1902 Sp. 334—341). Die Vermehrung
der zweiten Auflage um etwa 60 Seiten ift befonders durch
Einfügung eines Kapitels über die religionsgefchichtliche
Schule, eine Auseinanderfetzung mit Troeltfch, im übrigen
durch Bezugnahme auf kritifche Äußerungen (z. B. von
Daxer, Grützmacher, Reifchle, Traub) oder auf neuere
Arbeiten veranlaßt. Statt hier auf Einzelheiten einzugehen,
will ich verfuchen, das Werk als einen Beitrag zur
modernen pofitiven Theologie (Ihmels gebraucht das
Stichwort nicht) zu würdigen; ich glaube, feine Bedeutung
wie feine Schranken dadurch in deutliche Beleuchtung
rücken zu können.

Ihmels vertritt eine Theologie, die ,mit Bewußtfein
auf dem Boden des echten Supranaturalismus' fteht (8).
Die Wunder der Heilsgefchichte werden ihm verftänd-
lich ,nur von der Tatfache aus, daß die Schöpfungsordnung
Gottes durch die Sünde geftört ift'; in ihnen
vollzieht fich eine Machtwirkung Gottes, welche aus der
Schöpfungsordnung nicht erklärt werden kann (83. 311).
Analog kommt die Analyfe der Entftehung der Glaubensgewißheit
zuletzt auf ein Wunder hinaus, will ganz auf
eine fupranaturale Urfache zurückgeführt fein, die fchlech-
terdings jenfeits diefes Weltzufammenhangs liegt (2Ö6f.).
Gott muß erft im ftrengen Sinne diejenige Spontaneität
in dem Menfchen fchaffen, welche die Selbftbezeugung
Gottes aufzunehmen und zu bejahen vermag (den Glauben)
(S. 236). Der Chrift felbft vermöchte nicht zu fagen,
wie das zuging; hier liegt fein .unübertragbares Geheimnis'
(274) und jede actio ißt ,nur auf Grund fortdauernder
passio möglich' (239). Gleichwohl ift diefer zweifellos
echte Supranaturalismus von dem alten ftark unterfchieden.
Zunächft darin, daß er der Abficht nach das Axiom der
durchgängigen Gefetzmäßigkeit des Gefchehens nicht
ablehnt. ,Die pfychologifche Gefetzmäßigkeit macht
hier die Einwirkung eines fupranaturalen Faktors fo wenig
unmöglich oder überflüffig, wie die durchgängige Gefetzmäßigkeit
des Naturgefchehens das Wunder innerhalb
der Natur' (366. vgl. 36. 266 f. 311). Zwar fehlt es an
einer ausreichenden Vermittlung beider Momente wenig-
ftens für das Naturwunder; aber fchon daß die Syn-
thefe ins Auge gefaßt wird, ift charakteriftifch. Noch erheblich
weiter fuhrt ein zweiter Gefichtspunkt. Troeltfch
gegenüber wird geltend gemacht, daß für die methodifche
Analyfe der chriftlichen Gewißheit die Stellung zum
Supranaturalismus bei aller ihrer Wichtigkeit nicht die
primär entfcheidende fei, da für die Entftehung jener
Gewißheit nicht formale Kriterien (wie Einzigartigkeit
und Wunderkaufalität), fondern inhaltliche den Äusfchlag
geben. Auch die Gewißheit um ein erlebtes Wunder
wurzelt felbft in der Gewißheit um einen perfönlich erlebten
Offenbarungsinhalt, letztlich in der abfoluten
Befriedigung des religiöfen Bedarfs (207 f.). Damit wird