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Ausgabe:

1909 Nr. 13

Spalte:

394-395

Autor/Hrsg.:

Rade, Martin

Titel/Untertitel:

Das religiöse Wunder und anderes. Drei Vorträge 1909

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 13.

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durch, daß wir Wunder erleben, können wir an Gott
glauben... Ebenfowenig kann ich es billigen, wenn der
Gegenfatz des Wunders zu der Gefetzmäßigkeit des
Gefchehens beftritten wird'. In diefen Sätzen sind die
zwei Grundgedanken des Vortrags enthalten: 1. Nur
durch ein Wunder entfleht unfer Glaube; und 2. das
Wunder ift supra et contra natura///.

Der erfle Satz wird mit und gegen Seeberg (Neue
kirchl. Zeitfchrift 1908) ausgeführt; mit S., fofern auch S.
den Glauben auf die Gefchichte und die Wunder gründet,
und — fofern auch er die ,naiv gläubige Anfchauung
früherer Zeiten, die alle Wunder en bloc annahm' preisgibt
und folchen nicht-fittlichen Wunderglauben ablehnt;
gegen S., fofern S. in einem ,Komplex der Überlieferung'
in .Begriffen, Urteilen ufw.' in denen auf rätfelhafte Weife
Gott fich offenbart, das Wunder erblickte, während man
es einzig im Gehorfam gegen die fittliche Macht der
Perfon Jefu finden dürfe.

Diefer Grundgedanke H.s überrafcht uns nicht; über-
rafchend dagegen ift die Energie, mit der immer wieder
das supra et contra naturam betont wird gegen Stange j
und gegen — Schleiermacher! H. verfchweigt uns nicht,
daß er der Auffaffung Schleiermachers, es fei fehr wohl
möglich, einen Vorgang als ein Wunder Gottes und zugleich
als ein Glied in dem gefetzmäßigen Zufammenhang ]
der Natur zu denken, früher auch gefolgt fei. Jetzt aber
rechnet er fie ,zu den in der Dogmatik beliebten Mitteln,
fich die Härte des religiöfen Gedankens zu verfchleiern'.
,Wer an Gott glaubt — fagt H. an anderer Stelle — ift
in der Regung feines Glaubens davon überzeugt, daß er
Dinge erlebt und vollbringen kann, die durch die Natur
nicht möglich find'. Und ,wenn ein Chrift der Erhörung
feines Gebetes gewiß wird, fo wird in diefem Erlebnis
der Gedanke der Natur aufgelöft, in dem er fich fonft j
bewegt'. Beides fehr richtig und der zweite Satz vortrefflich
formuliert. Aber durfte H. diefen zweiten Satz j
fo fortfetzen: Jedem Menfchen alfo, der von dem auf
ihn wirkenden Gott redet, können wir zumuten, daß er I
Ereigniffe als wirklich anerkennen wird, die für ihn supra
et contra naturam find'? Supra — ja; aber wiefo contra, ■
wenn doch ,der Gedanke der Natur aufgelöft' ift? Das |
verftehe ich nicht. Ich verftehe es um fo weniger, als
H. (S. 65 f.) es durchaus ablehnt, das von ihm verteidigte
Wunder als innerhalb der Natur und finnlich wahrnehm- j
bar zu denken. .Das kommt natürlich daher, daß wir jeden [
Vorgang, den wir als nachweisbar wirklich anfehen, auch
bereits als mit feiner Umgebung verknüpft denken, oder j
als gefetzmäßig. . . . Natürlich überträgt fich aber diefe
unabweisbare Auffaffung auch auf alles, was uns als vergangenes
Ereignis erzählt ift. Wir fagen uns unwillkür- ,
lieh, wenn diefe Dinge fo als wirklich gefehen werden
konnten, wie es überliefert ift, fo waren fie alfo auch gefetz-
mäßig, der religiöfe Begriff des Wunders würde fich alfo |
auf fie gar nicht anwenden laffen'. Diefe Überlegung
wird ausdrücklich auf die Gefchichte Jefu, deffen Perfon- I
bild durch ein Wunder unfern Glauben begründet, ange- j
wandt. Aber wie kann man dann von contra naturam
und ,Kollifion'mit dem Gedanken der Natur reden? Das
religiöfe Wunder ift ja mit diefer ,Natur' gänzlich in-
kommenfurabel. Ganz gewiß dürfen wir logifche Wider-
fprüche nicht fcheuen und bei einem Konflikt zwifchen j
religiöfer Erfahrung und dem Gedanken der Natur die
erftere nicht mutlos preisgeben. Aber mit unnötigen
Paradoxien ift dem Glauben auch nicht gedient.

Meines Erachtens liegt der Fehler und die Quelle
der Mißverffändniffe bei diefem Vortrag in der Verwendung
des Wunderbegriffs, der nirgends ausdrücklich
und klar definiert wird. So weit mir bekannt, hat man
bis auf Herrmann unter Wunder immer einen, fagen wir
mal: von Gott gewirkten auffälligen Vorgang, aber
jedenfalls innerhalb der Natur und meift auch finnlich
wahrnehmbar verftanden, wie Jungfrauengeburt, Krankenheilungen
, Auferweckung Toter ufw. Diefes .innerhalb

der Natur', was Stange mit Recht feilhält, aber nach
Schleiermachers Vorgang vergeifligt — das lehnt H. aber
gerade aus religiöfen und erkenntnistheoretifchen Gründen
ab. Was für ihn übrig bleibt, ift in Wahrheit das, was
wir Offenbarung nennen, und diefe Offenbarung ift supra
naturam, nicht contra, denn wefensverfchiedene Größen
können nicht kollidieren. Leider hat H. in dem von
uns herzlich geteilten Beftreben, die volle Überweltlich-
keit und göttliche Herrlichkeit des religiöfen Erlebniffes
kräftig, ja ärgerlich darzutun, zu einem alten untauglichen
Wort gegriffen und dadurch eine böfe Verwirrung geflirtet
, jedenfalls aber eine Quelle der Mißverffändniffe
eröffnet.

Frankfurt a. M. Schüller.

Rade, Prof. D. Martin, Das religiöfe Wunder und anderes.

Drei Vorträge. 1. Das religiöfe Wunder. — 2. Heiden-
miffion und Religionsgefchichte. — 3. Machtftaat,
Rechtsftaat, Kulturftaat. (Sammlung gemeinverftänd-
licher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der
Theologie und Religionsgefchichte. 56.) Tübingen,
J. C. B. Mohr 1909. (VII, 87 S.) gr. 8° M. 1.50

R. hat in diefer Schrift drei Vorträge vereinigt, deren
erffer in einer wiffenfehaftlichen Vereinigung, deren beiden
andern bei feftlichen Gelegenheiten gehalten worden
find. Jener ift darum rein theoretifch, diefe gründen be-
ftimmte Antriebe auf theoretifche Erwägungen. Im erden
Vortrag handelt es fich um das religiöfe Wunder,
alfo um Ereigniffe, die den Menfchen fo berühren, daß
er dabei Gottes inne wird. Und das bezieht fich fowohl
auf die Wunder, die der Gläubige erlebt, als auch auf
folche, die er tut; denn beides gehört zu jedem echten
Glauben, der auf das Bittgebet nicht verzichten kann.
Und zwar ift es immer etwas Einzelnes, das dem Gläubigen
den Eindruck macht, daß Gott dahinter lieht. In dem
Sinne kann dann auch der geftirnte Himmel und das Ge-
wiffen (nach Kant) für uns moderne Menfchen Wunder
fein. So macht wirklich der Glaube das Wunder. Das
gilt von den beiden Klaffen, denen, die wir erleben, und
denen, die wir tun, wie R. an einzelnen treffenden Bei-
fpielen ausführt. Beidemal kommt es nur auf diefe
Deutung, aber nicht auf die /Durchbrechung des Kaufal-
zufammenhangs' an. Der metaphyfifche Ort des Wunders
ift nun die Gefchichte; denn fie ift, wie R. im Anfchluß
anRickert fagt, das Reich des Individuellen. ,Das religiöfe
Wunder kommt nun fo zuftande, daß eine Begebenheit
der Gefchichte für den religiöfen Menfchen einen
befondern Wert gewinnt'. Am Einzelereignis blitzt dem
Gläubigen ein großer Zufammenhang der Werte entgegen,
dem das Reich des natürlichen Dafeins zum Bellen dienen
muß. — Das ift etwa der Inhalt diefes Vortrags. R. be-
(leht auf der Beibehaltung des Ausdrucks .Wunder' allen
denen gegenüber, die ihn befeitigen wollen. Ich habe
nichts dagegen, daß man ihn wieder auf den biblifch-
religiöfen Gebrauch zurückführt, wonach er einfach der
Ausdruck für das religiöfe Erlebnis felbft ift. Freilich
hat hier wenigftens R. nichts von der großen Arbeit getagt
, die uns diefe Aufgabe angefichts des Mirakelglaubens
und des Mißtrauens noch machen wird.

Der zweite Vortrag hat das Thema ,Heidenmiffion
die Antwort des Glaubens auf die Religionsgefchichte
'. Auf der Breslauer Jahresverfammlung des
Allg. ev.-prot. Miffionsvereins gehalten, knüpft er an die
Streitverhandlungen an, die fich an den Auffatz von
Tröltfch in der Chr. Welt 1908 angefchloffen hatten.

Wenn unsdieReligionsgefchichte relativiftifchftimmen
will, fodaß wir auf dem Felde der Religion alles wachfen
laffen möchten, ftatt mit eigner Arbeit zu bilden und zu
geftalten, fo faßt R. mit kräftiger Hand zu und macht
die Not zur Tugend. Gegen alle relativiftifchen Verfügungen
bietet er zuerft den Trotz des chriftlichen