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Ausgabe:

1909 Nr. 13

Spalte:

392-394

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Offenbarung und Wunder 1909

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 13.

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mit Gott, aufopfernden Lienft der felbft fchwer leidenden
an Armen und Kranken, erbauliches Ende, nachher 6
Wunder, glücklich ermittelt erft 1736, daraufhin Kanoni-
fation 1737 als Beftätigung eines fchon beftehenden
populären Kultes. Selbflverfländlich verfagen wir Prote-
ftanten einer folchen echt katholifchen Erfcheinung unfere
Hochachtung nicht. Aber mehr als dies, wahre Bewunderung
fchulden wir dem Darfteller. Geradezu beifpiel-
los und immer neues Erftaunen erweckend find die uner-
fchöpf liehe Geduld, der zähe Fleiß, die ftreng methodifche
Arbeit, die der Verf. auf Klarftellung fowohl des äußeren
Lebensganges als des im Grunde nicht minder geradlinig
verlaufenden inneren Prozeffes eines geiftigen Auf-
und Ausbaues der Perfönlichkeit verwendet hat. Mir
wenigftens ift etwas damit Vergleichbares noch nicht begegnet
. Wer gewiffenhaft arbeitende Quellenkritik zu
Schätzen weiß, der kann nur helle Freude empfinden
über dem Einblick in das Verfahren und den Erfolg
einer neben dem Großen und Entfcheidenden auch das
Kleinfte und Zufälligfte verwertenden Kunft, womit hier
aus einem komplizierten und oft recht entlegenen, der
ftrengften Sichtung bedürftigen Material ein vier Jahrhunderte
zurückliegendes, meift in der Zurückgezogenheit
von Klöftern und Spitälern geführtes, weltentfremdetes
Einzel- und Eigenleben rekonftruiert und nach allen
.pfychophyfifchen' Seiten, die es der Betrachtung darbietet,
fogar bis auf die Frage nach Hyfterie, durchfichtig ge- I
gemacht wird.

Allgemeinere Bedeutung als das Gefchick und Sig- !
nalement der Heiligen, von der ein zuverläffiges Bild |
beiliegt, beanfprucht, was wir hier über ihre ,Lehre' erfahren
. Es handelt fich dabei um die Stelle, die ihrem
religiöfen Bewußtfein, foweit es begriffliche Formen
aufweift, in dem allgemeinen Entwicklungsgang der abendländischen
Kultur überhaupt und dann wieder des religiöfen
Geiftes infonderheit zukommt. Die Konftruktion eines |
folchen Gefamtbildes, wie fie am Anfang und dann auch
wieder am Schluffe des Ganzen verfucht wird, bildet einen
weiteren, ja weiteften Rahmen, in welchen die Biographie 1
gleichfam als Illuftration der Weltanfchauung des Verf.s,
als Verkörperung feiner Ideale hineingeftellt wird. ,Dreifach
ift der Schritt der Zeit', fofern nämlich auf die
phantafievolle Metaphyfik der griechifchen Weisheit die
Offenbarung des Prinzips der Perfönlichkeit im Chriften-
tum und zuletzt die Errungenfchaften der wiffenfehaft-
lichen Methode für die Gestaltung des Weltbildes gefolgt |
find. Diefelbe fyftematifierende Kunft läßt den Verf. in der j
Gefchichte der Religion drei in verfchiedenen Mifchungs- j
verhältniffen fich bald ergänzende, bald bekämpfende I
Elemente unterfcheiden: das hiftorifche, autoritative, kirchlich
geformte, das wiffenfehaftlich geartete, fpekulative und
das abschließende ,mystical-volitional element'. So lebt
die Kindheit religiös von der Gewohnheit, verfucht es
die Jugend mit der Kraft der Vernunft und erfährt ein j
reiferes Alter die Motive der Myftik. Als Virtuofin in
letzterer Richtung erfcheint natürlich die Heilige felbft,
daneben aber auch von ihr beeinflußte Freunde wie
Battifta Vernazza, deffen Bild und Biographie ein Seiten-
ftück zum Leben der Heldin und einen Beweis für die !
fortwirkende Kraft desfelben bildet. Als Quelle ihrer
myftifcheh Inspirationen und Spekulationen werden be- j
handelt die paulinifchen und johanneifchen, weiterhin die
pfeudodionyfifchen Schriften (wohl nicht unmittelbar, mit
Plotinus und Neuplatonismus im Hintergrund) und die |
Laude des Jacopone da Todi (das franziskanifche Element
ihrer Frömmigkeit). So beftätigt fich hier die von A.
Ritfehl herrührende, vom Verf. übrigens nicht ausdrücklich
erwähnte Auffaffung der Myftik als der durch den
areopagitifchen Gottesbegriff geleiteten Andacht, in 1
welcher die Überfchreitung aller Vermittlungen bis zum
Aufgehen des beftimmten Bewußtfeins in Gott fchon der
irdifchen Gegenwart erreichbar gilt. Unferes Verf.s Sympathien
liegen felbftverftändlich nicht auf feiten jener

,non-mystical religion', die er auf Kant zurückführt und
befonders in W. Herrmann vertreten Seht. Vielmehr
befteht die Sübftanz feines Werkes in dem Nachweife
der Unentbehrlichkeit des myftifchen Artikels im großen
Haushalt der Religion, fpeziell in der ausführlichften
und eingehendsten Befprechung, welche allen damit zusammenhängenden
Fragen gewidmet wird, als da find
Perfönlichkeit und Immanenz Gottes, wurzelhafte Einheit
mit Gott, Pantheismus, Agnoftizismus, Innewirken Gottes
im Menfchengeift, Grenzen der Erkenntnis, Übel und
Sünde, reine, unintereffierte Liebe, Quietismus, Verhältnis
von Leib und Seele, von Religion und Moral, von Myftik
und Spekulation, von freiem Willen und Notwendigkeit,
überhaupt allein wechfelnder Geftalt ewig wiederkehrende
Probleme des religiöfen Denkens. Die Betrachtungen,
welche Angelo Crespi daran im ,Rinnovamento' VII, 1,
S. 66—82 angeknüpft hat, dürften nur Präliminarien zu
einer noch länger fortzufetzenden Debatte werden, zumal
über das Geheimnis der Berührung der Geifter, über das
Verhältnis von Gott und Zeit, vom Naturwefen im Menschen
und feiner Sittlichen Verantwortlichkeit, von angeflammter
und erwerbbarer Unfterblichkeit ufw. Die Tatfache
, daß ein fo umfangreiches, in mancher Beziehung
Schwerfälliges Werk, das feinen Verf. ein Menfchenalter
lang befchäftigt hat, fchon 4 Monate nach feinem Erscheinen
eines Neudruckes bedurfte, fpricht deutlich genug
für ein entgegenkommendes gesteigertes Intereffe. Dem
längft als Freund Loifys und gelehrter Vertreter eines
reformfreundlichen Katholizismus bekannten Verf. hat
noch jüngft Paul Sabatier, Les Modernistes 1909, S. XLIX
den mächtigen Einfluß nachgerühmt, den er auf den
Katholizismus der Gegenwart, vor allen auf die wiffenfehaftlich
geweckten und Strebenden Kreife in Europa
und Amerika, auch da wo man fleh deffen nicht bewußt
ift, ausübt. Ich darf hinzufügen, daß man auch prote-
ftantifcherfeits an einem Buche nicht vorübergehen wird,
welches von intimer Bekanntfchaft mit unferer geschichtlichen
, fyftematifchen und vor allem biblifchen Theologie
bis herab zu deren neueften kritifchen Sorgen zeugt.

Baden. H. Holtzmann.

Herr mann, Prof. D. W., Offenbarung und Wunder. (Vorträge
der theologifchen Konferenz zu Gießen. 28. Folge.)
Gießen, A. Töpelmann 1908. (71 S.) 8° M. 1.40

S. 4—26 enthält eine 2. verbefferte Auflage des als
III. Folge der Vorträge der theologifchen Konferenz zu
Gießen 1887 erfchienenen Vortrags ,Der Begriff der Offenbarung
'. S. 28—71 bringt den auf derfelben Konferenz
am 18. Juni 1908 gehaltenen Vortrag ,Der Chrift und das
Wunder'. Der Neuabdruck jenes erften Vortrags ift
glücklich und dankenswert, da Wunder und Offenbarung
nach H. zufammengehören, wenn nicht zufammenfallen.
Um fo mehr kann mein Referat fleh auf den zweiten,
neuen, Vortrag beschränken. Freilich, obwohl ich ihn
feiner Zeit gehört und jetzt wieder forgfältig gelefen habe,
muß ich befürchten, daß ich, wie damals mehr als ein
Debatteredner, H. mehrfach nicht recht verstanden habe.

H. geht aus von dem Wunderbegriff, den Stange in
feiner Schrift ,Das Frömmigkeitsideal der modernen Theologie
' entwickelt. Es erinnere — zitiert H. nach St. —
an die heidnifche Weltanfchauung, wenn das Wefen des
Wunders in der Durchbrechung des natürlichen Kaufal-
zufammenhanges gefehen und die religiöfe Stimmung
darauf begründet werde. Und ,verblüffend' nennt H.
St.s Satz: ,Für die biblifche Auffaffung dagegen hat das
Wunder nicht die Bedeutung, die Gewißheit von der
Exiftenz Gottes zu begründen'. Diefe Bedeutung kann
das Wunder für St. nicht haben, da erft der Glaube Gott
als Lebendigen und alles Gefchehen als Wunder Gottes
erkenne. Aber hierin kann H. die Bedeutung des Wunders
nicht vollständig bezeichnet finden: ,Wir erleben freilich
Wunder, weil wir an Gott glauben, aber nur da-