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Ausgabe:

1909

Spalte:

344-345

Autor/Hrsg.:

Fischer, Max

Titel/Untertitel:

Die Religion und das Leben 1909

Rezensent:

Lülmann, Christian

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Theologifche Literaturzeitung 190g Nr. II.

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folger beftätigt die zunächft theoretifch entwickelte chrift-
liche Gotteserfahrung.

Würden wir in eine Diskuffion über die hier nur
fummarifch entworfenen Grundgedanken eintreten, fo
dürfte fofort beim letzten Satze einzufetzen fein, der
zwifchen der .zunächft theoretifch entwickelten chriftlichen
Gotteserfahrung' und dem .Lebensinhalte Jefu und feiner
wirklichen Nachfolger' in einer Weife unterfcheidet, die
an recht anfechtbare und unglückliche Formulierungen
des Problems von Perfon und Prinzip in der Chriftologie
erinnern. Allein diefer Punkt wäre nur ein einzelner
in einer Fülle von Problemen, die einer befonderen Erörterung
bedürftig und wert fein würden; müßten doch
alle Hauptfragen der Religion und der Sittlichkeit, fowie
der Religionsgefchichte und des Urchriftentums angeregt
werden.

Den Zweck, den der Verf. in feiner Schrift verfolgte,
hat er felbft dahin formuliert, daß der von ihm darge-
ftellte Inhalt der Gotteserfahrung ,die Geborgenheit am
Herzen Gottes' fertigen und vertiefen möge. Diefen Zweck
wird er gewiß bei den Lefern erreichen, die, unbekümmert
um disputable Ausführungen und kritifche Kühnheiten,
an feiner Hand ,die Wege der Gotteserfahrung' verfolgen
.welche in die Gefchichte der Völker und Perfönlichkeiten
führen, in denen befonders gottinniges und gottwilliges
Leben fich darftellt'.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Scherer, Priv.-Doz. D. Dr. Carl Chriltoph, Religion und

Ethos. Ein Beitrag zur Darlegung und Apologie des
Wahrheitsgehalts der theozentrifchen Moral. Paderborn
, F. Schöningh 1908. (X. 207 S.) gr. 8° M. 4.40

Scherer, Schüler von Stölzle, dem er feine Arbeit
widmet, früher Privatdozent der Philofophie in Würzburg,
jetzt Profeffor am Priefterfeminar in Dillingen, gibt hier
eine Auseinanderfetzung der chriftlich-theiftifchen Moral
mit andersgerichteten Moralen. Er wählt als Vertreter
der .prinzipiell religionslofen Moral' Dühring und von
Gizycki, nimmt dann Kant's Ethik zum Gegenftande feiner
Kritik, und endlich Lipps, und Wundt und Paulfen, als
Vertreter der ,idealiftifchen Ethik der Gegenwart und
ihrer Stellung zum religiöfen Problem'. Das Buch, das
ganz Schelks und Stölzle's gebildeten und mit Ruhe
über die Schranken des Konfeffionalismus hinausblickenden
Geift trägt, ift gründlich und umfaffend, in feiner
Darftellung licht und gefchickt, in feinem Urteile ftreng
um Gerechtigkeit bemüht und eindrücklich. Statt der
in Form von Kritik anderer und von Apologetik gegen
andere auftretenden Behandlung wäre wohl eine
pofitive und rein aus fich fich entwickelnde Darfteilung des
Verhältniffes von Religion und Ethik erwünfchter ge-
wefen. Wer will, kann fich ja von da aus die Auseinanderfetzung
des Verfaffers mit feinem Gegenüber dann
leicht felber gewinnen. Das Schlußwort ftellt eine folche
in Ausficht. Und auf diefe würden wir gern die eigene
Auseinanderfetzung mit dem Verfaffer verfchieben, da
hier nicht Raum ift, feine notwendig vielfach fich hin-
und herwindenden Wege nachzugehen. Um ihm doch
auch fchon jetzt einigermaßen gerecht zu werden und
feine Art zu zeigen, nehmen wir das wichtigfte Kapitel
heraus: die Auseinanderfetzung mit Kant. Sie ift ja für
die Frage vom Verhältnis der autonomen Moral zur
theonomen auch an fich die wichtigfte.

Kant's Lehre wird zunächft, etwas knapp, aber an-
fchaulich, dargeftellt. Der Nachweis der Apriorität der
Idee der Pflicht (S. 44) kann in diefer Kürze allerdings
wohl fchwerlich überzeugen. Das gelingt immer nur im
Zufammenhange einer umfaffenderen Darlegung von der
Art apriorifcher und empirifcher Erkenntnis, des Grundes
und der Notwendigkeit diefer Unterfcheidung und der
allgemeinen Angabe der Kriterien der beiden verfchie-
denen Erkenntnisarten. Ohne das werden befonders

I auch .Gefetze der Beftimmung des Willens eines vernünf-
: tigen Wefens überhaupt' immer fehr überfchwenglich
I klingen, und nach einer .Gefetzgebung für Engel' ausfehen,
! während fie in jenem Zufammenhange doch etwas fehr
! einfaches befagen.

Die Kritik anerkennt an Kant den ,heiligen Ernft' —
wichtiger wäre doch wohl bei dem Methodiker die un-
! vergleichlich fcharffinnige, penible Analyfe und Aufarbeitung
des Problemes zu nennen gewefen, die vor
und nach Kant in gleicher Schärfe niemand geleiftet hat
I und durch die der Grundbegriff jeder möglichen Moral,
der Pflicht, erft ficher aufgegriffen wurde — und wendet
fich dann — mit Recht — gegen Kant's Verkennung
des objektiven Wertes des im Handeln Erftrebten.
Diefer Einwurf ift oft gemacht, doch muß man ihn fo
machen, daß ,die primäre Bedeutung des guten Willens',
das ift aber gerade feine formale Beftimmtheit, in ihrer
! unvergleichlichen Würde gewahrt bleibt, und muß man
zugleich das Verhältnis des kategorifchen Imperatives
zu den objektiven Werten erft regeln. Beides ift von
Kant's Schüler Fries fo beftimmt gefchehen, daß mir
; der Herr Vf. vielleicht erlaubt, ihn auf deffen ,neue
Kritik der Vernunft2, Bd. III (1831) hinzuweifen. Ich
glaube, daß er hier ausgefprochen rinden wird, was er
felber gut und richtig fühlt. — Das Gleiche gilt von dem
ganz richtigen aber nicht ganz präzifen Tadel, daß Kant
die ,emotionalen Triebfedern' aus dem Bereiche der Ethik
ganz ausfchließe. Hier aber bedarf es erft des klaren
Auffaffens des Verhältniffes unferer .Triebe' überhaupt,
des animalen (Neigung), und des höheren Triebes der
,reinen Liebe' zu dem rein vernünftigen Triebe der
reinen Achtung vor dem Gefetz, um diefe ganze Lehre
ins klare Licht zu fetzen. — Ganz zuzuftimmen ift dem
Einwurfe, daß fich aus dem kategorifchen Imperativ nicht
wirklich eine lebendige, tiefe, lebenswahre Ethik ent-
i falten läßt. Vf. hätte hier mit vollem Rechte noch ein-
I gehender Kant's künftlichen Sittenkodex, in dem nichts
recht ftimmen will, angreifen dürfen. — Daß fich, wenn
I das obengenannte Verhältnis der ,Triebe' rein aufgefaßt
wird, der ,Formalismus', das heißt das Sollen rein um
des Sollens willen, behauptet, würde ich gegen des Vf.'s
Angriffe (S. 63) beftimmt aufrecht erhalten. Ganz ab-
zuweifen find feine Angriffe auf die Autonomie des fitt-
lichen Wollens. Ohne fie gibt es ja überhaupt keine
fittliche Handlung. Und der Vf. verwickelt fich hier in
die fonderbarften Widerfprüche. Wie kann man Autonomie
beftreiten und zugleich fagen: , . . . das fittliche
Gefetz, deffen objektiv verpflichtende Kraft wir erkannt
haben . ..' das ift ja Autonomie, daß ich einem Gefetze
gehorche, deffen mich verpflichtende Kraft ich felber
einfehe, erkenne und anerkenne. Und das ift Hetero-
nomie, einem Gefetze gehorchen, ohne die verpflichtende
Kraft felber einzufehen.

Ganz recht zeigt Vf., daß Kant's Übergang zur
Religion künftlich ift, und fie felber in feiner Moral ein
Fremdkörper. Aber Kant's Gedanke von der Erkenntnis
und Erfüllung unfrer fittlichen Pflichten gleichzeitig als
göttlicher Gebote ift ganz unabhängig von feiner unglücklichen
Poftulatentheorie und feiner fchiefen Lehre
vom bot/um consummatum. Er ift, richtig aufgefaßt, in
Übereinftimmung mit ftrengfter Autonomie und in ihm
liegt wirklich, wenn man ihn klar entfaltet, die Löfung
der Frage nach dem Verhältniffe autonomer und theo-
nomer Moral. Damit auch erft die Löfung der Frage
nach Ethos und Religion: denn Ethos ift eben nicht Ethos,
wenn es nicht autonom ift.

Göttingen. R. Otto.

Fifcher, Pfr. D. Max, Die Religion und das Leben. Leipzig,
M. Heinfius Nachf. 1908. (X, 138 S.) gr. 8° M. 3 —

Die vorliegende Schrift ift dem Verf. .unter und aus
der Praxis des Predigtamts entftanden'. Sie bedeutet