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Ausgabe:

1909 Nr. 11

Spalte:

341

Autor/Hrsg.:

Larfeld, W.

Titel/Untertitel:

Alter oder neuer Glaube? Ein Beitrag zur Orientierung in den religiösen Wirren der Gegenwart 1909

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 11.

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Ausgehn einzelner nur in Begleitung ihrer Eltern, die
Brenge Überwachung der Korrefpondenz und der Be-
fuche, das Verbot, irgend welche weibliche Perfon ins
Haus zu führen, das ausgedehnte Gebot des Stillfchwei-
gens u. ä. follte jede Gefahr einer weltlichen Gefinnung
von vornherein ausfchließen. Die vielfältigen religiöfen
Übungen dagegen, die für die Tage, Wochen und Monate
yorgefchrieben waren, follten Herz und Geift auf
das Überfinnliche hinlenken und die Neigung zum Prie-
fterberufe wachhalten. Sicherlich hat diefe ernfte Art
der Erziehung... der Vorbereitung auf den geiftlichen
Stand... gewaltig vorgearbeitet... Aber wir dürfen es
uns nicht verhehlen, es befland da auch wieder die
andre Gefahr, daß die vielen vorgefchriebenen Gebete
und Übungen bei manchem den lebendigen religiöfen
Sinn des Kindergemütes abftumpften und jahraus jahrein
als eine bloß äußerliche, läftige Gewohnheit betrieben
wurden, daß auch fonft die fort und fort eng begrenzte
Bewegungsfreiheit felbftändige Naturen früh in ihrer berechtigten
individuellen Entwicklung hemmte, andre aber
als in der Tugend bereits gefertigt erfcheinen ließ, ohne
daß fie je Gelegenheit gehabt hatten, durch ernfte Selbff-
überwindung zu zeigen, daß lie fittlich viel taugen'. Diefem
Urteile kann man nur zuftimmen.

Göttingen. K. Knoke.

Larfeld, Oberlehr. Prof. Dr. W„ Alter oder neuer Glaube?

Ein Beitrag zur Orientierung in den religiöfen Wirren
der Gegenwart. Bielefeld, Velhagen & Klafing 1908.
(III, 168 S.) 8° M. 1.50

Es ift nicht erfichtlich, weshalb der Verf. die fchier
unüberfehbare Zahl populär apologetifcher Schriften
durch eine weitere vermehrt hat, die weder auf Tiefe
der Auffaffung, noch auf Vollftändigkeit der Darftellung
Anfpruch machen kann. Der in diefen Ausführungen
über Offenbarung und Infpiration, Bibel und evange-
lifche Gefchichte, Perfon und Lehre Jefu vertretene
Standpunkt ift der der modernen Durchfchnittsorthodo-
xie, welche die fcharfen Ecken und Kanten der alten
Dogmatik hübfeh abgefchliffen, die Härten der prote-
ftantifchen Scholaftik erweicht, die Lehre von der Verbal-
infpiration theoretifch aufgegeben hat, fich aber wohl
hütet, die Konfequenzen diefer veränderten Prämiffen zu
ziehen und mit der prinzipiell anerkannten Kritik Ernft
zu machen. In der Erörterung über die Jungfrauengeburt,
über die Auferftehung Jefu Chrifti, über die Zuverläffig-
keit der evangelifchen Gefchichte, verwendet L. die längff
bekannten und verbrauchten Beweismittel. Das von ihm
gcfchilderte Bild der .modernen Theologie' gibt den
dunkeln abfehreckenden Hintergrund ab, auf welchem die
Lichtgeftalt der von dem Verf. gezeichneten .gläubigen'
Anfchauung fich abhebt. Als Beifpiel der Treue, mit
welcher L. über die Auffaffung des Gegners referiert,
mag die kurze Notiz angeführt werden, in welcher er
Bouffet's Charakterbild Jefu wiedergibt: ,Ein Ekftatiker und
verftiegener Schwärmer, deffen Leben eine Kette von
Wahngebilden und Selbfltäufchungen war, der (ich und
feine Anhänger von einer Wahnidee in die andere ftürzte
und fchließlich an feinem Wahne zu Grunde ging' (152—3)
.. . ,Nach den Lehren der modernen Theologen wären
diejünger die Urheber einer Gefchichtsfälfchung geworden,
deren Gleichen die Weltgefchichte nicht kennt, und die
chriftliche Religion würde nicht auf Jefus, fondern auf
krankhafte pfychologifche Zuftände einer Gemeinfchaft
von Hyfterikern und Vifionären zurückzuführen fein' (57).
Es lohnt fich nicht länger bei einer Schrift zu verweilen,
die der Lefer mit Entrüftung aus der Hand legen müßte,
wenn er nicht aus allen PIntfiellungen und Ungerechtigkeiten
den CflXov fteov a/Ü ov xar sjtlyvcoßiv herausfühlen
würde.

Straßburg i. E. P. Lobfiein.

Müller, D. Adolf, Entwickelungsgedanke und Gotteserfahrung
, verglichen. Halle a. S., Max Niemeyer 1908.
(XV, 208 S.) gr. 8« M. 4-

,Die folgenden Blätter enthalten die Darftellung und
Begründung perfönlicher Lebenserfahrungen. Sie ruhen
in der Gewißheit, daß der lebendige Organismus des
Weltalls eine Zweckeinheit ift, in der die Naturgefetze
des menfehlichen Geiftes bis zur Entwicklung fittlich-
religiöfer Perfönlichkeiten wirkfam find; fie wiffen fich
für Zeit und Ewigkeit in feiner allmächtigen Liebe geborgen
. Die religiöfen Charaktere im Jahvevolk leiten zu
dem perfönlichen Lebensinhalte über, der bei Jefus und
feinen Jüngern in den Jahrhunderten bis auf die Gegenwart
, dem Wefen und der Gefinnung nach, im göttlichen
ruht und gleich fich offenbart' (XV). Demgemäß gilt
der erfte Abfchnitt der Erörterung des Erfahrungs- und
Entwicklungsbegriffs im allgemeinen (1—18); der folgende
Abfchnitt handelt von den Quellen und den Zielen der
fittlichen Entwicklung (19—74); der dritte befiimmt die
Eigenart des religiöfen Lebens und feiner Gewißheit
(75—T3Ü; der letzte beleuchtet die Entwicklung der
chriftlichen Gotteserfahrung (132—204). — Die Ablchnitte
2 und 3 find aus dem Archiv für fyftematifche Philofophie
XI, 3; X, 2 abgedruckt; fie fügen fich aber der von dem

• Verf. vertretenen Gefamtanlchauung ohne Zwang ein.
Die Schrift Bellt nicht geringe Anforderungen an

| den Lefer; hat fich diefer aber der ihm zugemuteten Gedankenarbeit
unterzogen, fo wird er dafür nicht unbelohnt

j bleiben. Manche werden dem Verf. vielleicht zum Vorwurf
machen, daß er in den Bereich feiner Darffellung Gegen-

! Bände hereingezogen hat. die mit dem in Angriff ge-

: nommenen Thema nur fehr lofe zufammenhängen. Doch

j wird man fchließlich demVerf. das Recht überlaffen müffen,
das von ihm bebaute Feld foweit abzugrenzen, als er es

1 für gut findet, namentlich wenn durch folche Exkurfe
das Hauptproblem nicht verfchoben und das Intereffe
auf wichtige Punkte gelenkt wird.

Das Aufffeigen von niederen zu höheren Entwicklungs-
Bufen in Beziehung auf den wirkfamen Lebensinhalt der
Menfchheit erweift fich als ein vielfach gehemmtes, müh-

[ fames Werk, zu dem alle ihre Kräfte nicht ausreichen.

, Schon die fchönen und wertvollen Erträge der Geiffes-
arbeit aus beffimmt begrenzten Erfahrungskreifen der
Naturforfcher und Hifloriker müffen als Früchte faueren
Fleißes, verbunden mit unberechenbaren, gleichfam ge-
fchenkten Schauungen, anerkannt werden. Jede Erfindung
und Entdeckung, jede wirkliche Aufzeigung von
FIntwicklungsreihen in gefchichtlich bedeutfamen Lebensinhalten
erfolgt unter Einwirkung und Leitung in Menfchen
wirkfamer höherer Geifiesmächte. Auf den inneren
Erfahrungswegen läßt fich zum Quell und Ziel der fittlichen
Entwicklung gelangen. Alle Beziehungen des animali-

! fchen Lebens des Menfchen mit den anderen Organismen
erklären feine Eigenart nicht. Sie findet fich in der relativen
Herrfcherfiellung den fittlichen Einwirkungen und
Trieben gegenüber. . Das fehr früh fchon auftretende
Bewußtfein der Fähigkeit zur Selbfibeherrfchung begründet
die Pittliche Verantwortlichkeit. Erbfchäden der
Vorfahren find in der organifchen Gemeinfchaft der
Menfchen unleugbar; das Böfe iff ihre Schöpfung und
ihr verantwortlicher Entwicklungsertrag. Der Fortfehritt
im Kampfe der Selbfibeherrfchung mit den finnlichen
LuBmächten, die Entwicklung alfo in dem Gebiete, kann
nur als minimal bezeichnet werden, fo lange der Menfch
meint, fich felbfi genug fein zu können. Die notwendige
Ergänzung der Kraft menfehlicher BeBimmtheit für fitt-
liche Fintwicklung muß in religiöfen Lebenstiefen gefucht
und gefunden werden. Die fittlich-religiöfe Gotteserfahrung
muß ihr vollkommenes Urbild und Wefen in der
chrifilichen finden. Die zureichende Begründung und
Ausfüllung der menfehlichen Bedürftigkeit erfolgt allein
in ihr. Der Lebensinhalt Jefu und feiner wirklichen Nach-