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Ausgabe:

1909 Nr. 10

Spalte:

308-309

Autor/Hrsg.:

Ehlers, Rudolph

Titel/Untertitel:

D. Johann Christoph Spieß. Ein biographischer Versuch 1909

Rezensent:

Lueken, ...

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3°7

Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 10.

308

Verf. bei feinem Intereffe an der bedrohten religiöfen
Gefinnungsmoral nicht genügend beachtet hat. Die Frage
wäre dann, wie weit das überhaupt eine einheitliche und
rein chriftliche Moralität ift.

Das zweite find die bedeutfamen Schwankungen im
Bußbegriff. Die hier vorausgefetzte Buße und Bekehrung
ift nicht ein einmaliger Vorgang, an den fich dann j
ein fortfchreitendes Wachstum der chriftlichen Sittlichkeit
anfchlöffe. Sie ift vielmehr etwas, was in der Taufe
grundlegend gefchieht, und dann täglich fich wiederholt,
fodaß der Vorgang überhaupt nicht zeitlich lokalifiert j
werden kann, fondern fich beftändig wiederholt. Das !
läßt dann auch keine zufammenhängende und ftufen- j
weife erfolgende Vervollkommnung der chriftlichen Sittlichkeit
zu, fondern ftürzt in immer neuen Abbruch der
erreichten Verfittlichung und in immer neue Erringung |
der Rechtfertigung. Dann aber ließe fich die Buße und j
Bekehrung überhaupt als ethifches Prinzip nicht gebrau- j
chen, fie wäre nur eine begriffliche Schematifierung der j
täglich fich wiederholenden Glaubensbefeftigung, aber !
nicht das Zentrum der nach vorwärts und rückwärts
beherrfchenden Gewinnung des Chriftenftandes. Daher
ift auch die orthodoxe Ethik keine Ethik, fondern eine
Lehre von der pietas und kennt fie nicht, wie Ritfehl
will, eine perfectio Christiana, was vielmehr ein katho-
lifcher und reformierter Gedanke ift. Da nun aber die
Bekehrung trotzdem doch wieder als göttliches Einzelfaktum
angefehen wird, fo kommt es zur Lehre von der
Heiligung und Bewahrung der Rechtfertigungsgnade, die
durch peccata contra conscientiam verloren wird und I
dann im Beichtfakrament durch Abfolution neu errungen i
wird. Das zeigt das Schwanken des Bußbegriffes zwifchen
einem Begriff beftändiger Läuterungen und einem Begriff
ftets wiederholter, bei der Abfolution einfetzender Neubekehrungen
, bei welchen dann das fittliche Leben anknüpfen
kann, bis der Gnadenftand wieder verloren
ift. Hier wurzelt, wie der Verf. ausführt einerfeits die
Kafuiftik, welche die die Gnade verloren gehen laffenden
Sünden feftftellt und damit den ganzen Gedanken veräußerlicht
, andererfeits der Pietismus, der diefe Bekehrungslehre
aus der Theorie in die Praxis überfetzt, fie
zum einmaligen Vorgang macht und dann an fie ein
Wachstum der chriftlichen Sittlichkeit anknüpft, von
welchem die orthodoxe Lehre bei ihrer Ablehnung
von Stufen und Fortfehritten der Vollkommenheit, ja
bei ihrer ganzen Ablehnung des Vollkommenheitsgedankens
nichts weiß. Diefe Schwankungen im Bußbegriffe
führen aber in die innerlichften Schwierigkeiten
des lutherifchen Gedankens felbft hinein, auf die der
Verfaffer leider nicht eingeht. Es kämpfen hier die Objektivität
des kirchlich-fakramentalen Gedankens und die
Subjektivität der perfönlichen Innerlichkeit, ein Gegenfatz,
der fich durch den ganzen lutherifchen Kirchenbegriff
hindurchzieht.

Das dritte find die Einmifchung myftifcher Gedanken
und Terminologien in die Befchreibung der Seligkeit
des Rechtfertigungstroffes und damit des fittlichen
Kernphänomens. Der Verf. zeigt hier, wie Gerhard erft
unter dem Einfluß Joh. Arndts ziemlich weit geht in der
Rezeption folcher Elemente, fie aber ftets orthodox als
Befchreibung der Glaubensfeligkeit auf Grund objektiver
Heilsgewißheit durch die Schrift verfteht, überdies aber
mit dem Alter von diefer Redeweife fich zurückzieht.
Er nimmt daher Gelegenheit, die Rolle der Myftik in
der orthodoxen Afketik überhaupt zu befprechen und
ftellt hier feft, daß diefe Rezeption lutherifchen Grundmotiven
entfpricht und in der Regel orthodox gemeint
ift, daß aber allerdings bisweilen, wie fchon bei
Luther, ein metaphyfifcher Spiritualismus und eine
gewiffe Geringfehätzung der Sinnlichkeit eindringt, entgegen
der grundfätzlichen proteftantifchen Bejahung der
Sinnlichkeit und der Welt. Das fcheint mir durchaus
richtig.

Der Verf. berührt fich natürlich häufig mit meinen
Studien, ja baut zum Teil geradezu auf ihnen feine Darftellungen
auf. Er findet fie meift ,im wefentlichen' zutreffend
und unterfcheidet fich von mir weniger in der
hiftorifchen Auffaffung, als in der perfönlichen Stellungnahme
. Hier ift ihm diefe orthodoxe ,Gefinnungsethik'
auch für heute eigentlich maßgebend gegenüber aller
fozialen Phrafe und aller Einbeziehung weltlicher Intereffen
und Güter in die chriftliche Ethik. Von mir dagegen
meint er: ,Die Troeltfch'fche Auffaffung ift nur verftänd-
lich aus feiner Begeifterung für den antifupranaturalifti-
fchen modernen Humanismus, den er für den eigentlichen
(Neu-) Proteftantismus hält, während er für die tiefe Innerlichkeit
eines Chriftentums, das an einen fich dem fündigen
Menfchen erfchließenden gnädigen Gott glaubt,
nur noch hiftorifches Verftändnis hat' S. 244. Das ift
nun gewiß nicht meine Meinung; ich meine nur, diefer
Glaube müffe unter heutigen Verhältniffen auf ein erheblich
verändertes Weltbild und auf gründlich veränderte
fittliche Aufgaben des Lebens fich einftellen und
aus diefer Neueinftellung die Konfequenzen ziehen.

Heidelberg. Troeltfch.

Ehlers, D. Rudolph, D. Johann Chriltoph Spieß. Ein bio-
graphifcher Verfuch. Frankfurt a. M., M. Diefterweg
1908. (84 S. m. 1 Bildnis.) 8° M. 2—; geb. M. 3 —

Mit diefem Büchlein hat der ehrwürdige Verfaffer
einem feiner bedeutendften Vorgänger im Amt ein Denkmal
fetzen wollen. Es ift zugleich ein Denkmal für ihn
felbft geworden, der in der Morgenfrühe desfelben Tages,
an dem das Buch erfchien (7. 8. 08), aus diefem Leben
abgerufen ift. Denn bei vielem, was Ehlers über Spieß,
feine Perfönlichkeit und feine Arbeiten und Kämpfe ausführt
, ift es, als hätte er fich felbft gefchildert.

Johann Chriftoph Spieß, geb. am 26. Aug. 1771 in
Dillenburg, ift nach feiner in Herborn verbrachten Studienzeit
und nach ein paar Hauslehrerjahren in Elberfeld
15 Jahre lang im Rheinland Pfarrer gewefen, und zwar
zuerft im Städtchen Alpen unweit Mörs in einer etwa
500 Seelen ftarken evangelifchen Diafporagemeinde (1798
bis 1800), dann in Duisburg (1800—1813), wo ihm von
der theologifchen Fakultät der dortigen, bald nachher
aufgelöften kleinften deutfehen Univerfität kurz vor feinem
Abfchied die theologifche Doktorwürde verliehen wurde.
1813 kam er nach Frankfurt a. M., das Pfarramt an der
dortigen deutfehen reformierten Gemeinde der ihm gleichzeitig
angebotenen Stellung eines Hofpredigers am preu-
ßifchen Hofe vorziehend. Der Frankfurter Tätigkeit
(1813—1829) gilt die zweite Hälfte des Buches. Es ift
ein wichtiges Stück Frankfurter Kirchengefchichte, was
da an uns vorüberzieht, durchfetzt von Ausblicken auf
die fpätere Zeit, die der Verfaffer, felbft ebenfalls 42 Jahre
lang Pfarrer jener Gemeinde, in jahrzehntelanger, kampfreicher
und bedeutungsvoller Tätigkeit mit durchlebt
und mit hat heraufführen helfen. Spieß war offenbar
eine führende Perfönlichkeit. Ein hervorragender Prediger
(feine Eigenart, die aus gedruckten Predigten, ins-
befondere feinen Zeitpredigten von 1813/5, zu erkennen
ift, wird eingehend befprochen), ein weifer Seelforger,
auf dem Gebiet der Kirchenverfaffung der Herold einer
neuen Zeit (,Verfuch einer prot. Kirchenordnung nach
den Bedürfniffen unferer Zeit' 1808), ein ausgefprochener
Freund der Union vor der Union; das alte FYankfurter Gefangbuch
, das erfte gemeinfame für Lutheraner und Reformierte
, war vor allem fein Werk (1816—25). Schwere
Verftimmungen und unerquickliche, nicht immer fiegreiche
Kämpfe innerhalb der reformierten Gemeinde und ihres
Presbyteriums find Spieß nicht erfpart geblieben und
konnten nicht ausbleiben, wo ein weit ausfehauender,
auf Neues bedachter Sinn und ein energifcher Wille
zufammentrafen mit zähem F"efthalten an alten Traditionen.
Trotzdem hat vieles, was er wollte, und was man leiden-