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Ausgabe:

1909 Nr. 7

Spalte:

215-217

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Wilh.

Titel/Untertitel:

Die verschiedenen Typen religiöser Erfahrung und die Psychologie 1909

Rezensent:

Vorbrodt, Gustav

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215 Theologifche Literaturzeitung 1909 Nr. 7. 216

Vielleicht ift des Guten etwas zu viel getan, indem
durch (einigermaßen hörende) Striche im Text die Seiten- [
zahlen der erhen Ausgabe, der zweiten Ausgabe und der j
Gefamtausgabe der Werke angedeutet worden find. Doch
ließe fich über den Wert diefer Einrichtung hreiten. Im
übrigen wüßte Refer. nichts zu bemängeln als die wohl
nicht einwandfreie Behauptung, daß die in den ,Reden'
vertretene ,Pfychologie der Religion' ,in Schleiermachers
Hauptwerke, dem 1821/22 erfchienenen Chrihlichen
Glauben, zwar im einzelnen revidiert, aber im ganzen'
fich gleich geblieben' fei (S. XIII).

Der Band hellt fich den in der letzten Zeit erfchie- ;
nenen Publikationen der ,Philofophifchen Bibliothek'
würdig an die Seite und kann zur Benutzung dringend
empfohlen werden.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Schmidt, Prof. D. Wilb, Die verlchiedenen Typen religiöfer
Erfahrung und die Pfychologie. Gütersloh, C. Bertelsmann
1908. (IV, 318 S.) gr. 8» M. 5 —; geb. M. 6— !

Es ift erfreulich, daß, nachdem Rade's Organe die an
fich neutrale Sache der Religionspfychologie in die öffentliche
Diskuffion zu ziehen, fich das Verdienh erworben j
haben, nun auch die kirchliche Rechte fich in dem vorliegenden
Buche zum Worte meldet und zwar in durchaus
zuhimmendem, wenn auch fcheinbar auf Religionspädagogik
einfchränkendem Sinne. Der unwillkürlich an
James' Varieties of religious experience erinnernde Titel
von Schmidt's Monographie deutet auf eine Abrechnung
mit dem der Tendenz nach freilich weniger religions- j
pfychologifchen als religionsphilofophifchem Werke
des amerikanifchen Pfychologen, der jedoch die empiri-
fche Grundlegung nicht verleugnet. In der Tat gibt
Schmidt in Teil I (S. 8—144) eine Kritik, die fich in
dankenswerter Weife an das Original ftatt an die m. E.
namentlich pfychologifch nicht präzife deutfche Über-
fetzung von Wobbermin anfchließt. Für die Gründe
diefer Beurteilung muß ich auf mein Überfetzungsvor-
wort der demnächft deutfch in Dr. Werner Klinkhardt's j
Verlag erfcheinenden ,77^ Psychology of Religion, an
cmpirical study of the growtli of religious consciousness' von j
Prof. Dr. Starbuck verweifen.

Teil II der Arbeit Schmidt's behandelt ,das Reffort
der Pfychologie' (S. 145—168), Teil III eine Reihe äußerlich
wie innerlich ziemlich lofe aneinander gereihter
Fragen hauptfächlich religionsphilofophifch - kulturge- j
fchichtlicher Art mit dem Verfuch, diefelbe vom pfycho- !
logifchen Standpunkt aus zu beleuchten, nämlich: Wefen
und Entflehung der Religion, konkreter Naturalismus
als Religion und Kult, religiöfer Tanz als ältefter
Gottesdienft, abftrakter Naturalismus als zweite Religions-
flufe, Spiritualismus, israelitifch-jüdifcher Monotheismus, j
Islam, chriftlicher Monotheismus (S. 169—315).

Das ift ein ganzer Komplex von religiöfen ,Typen',
bei dem der durch den Terminus erwartete Überblick
in Folge der Fülle zufammengetragenen Stoffs faft völlig
verfchwindet. James wollte jedenfalls Varietäten, Abarten
der Hauptform oder meinetwegen Verfchiedenheiten
religiöfen Erlebens darfteilen, nicht Typen im natur-
wiffenfchaftlich-biologifchem Sinne, an den die Theologie
fich wird anpaffen müffen. Das letzte Heft der amerikanifchen
Zeitfchrift für Religionspfychologie, herausgegeben
von Stanley Hall, bringt Bd. III, 2 (Nov. 1908)
einen Auffatz von Du Buy: Four types of protestants,
a comaparative ; in diefem Artikel werden Kalvinismus,
Methodismus, Baptismus und Unitarismus als intellektuelle,
emotionelle, radikale und fortfchrittliche Form behauptet
und daraus ihre Stellung zu einer ganzen Reihe von re-
ligiös-fittlichen Fragen pfychologifch abgeleitet. An j
folchen fcharf umfchriebenen Typen von Individual-
erfcheinungen fehlt es bei Schmidt durchaus; fein Hauptzweck
ift die Bedeutung der Pfychologie für die Theologie
(und vielleicht Religionsphilofophie) zu unterfuchen.

Als Art Einleitung fchickt er daher eine Erörterung
über .Religion und Erfahrung' voraus, um an der Hand
von Schleiermacher's Reden Wert und Notwendigkeit der
Religionspfychologie zu erweifen; Schmidt findet diefe
Bedeutung in der Verinnerlichung der Religion, fieht
aber völlig ab von der wiffenfchaftlichen Grundlegung
der Theologie auf Empirie: nicht der Erkenntnistheorie,
die zu fehr fofort mit der Außenwelt liebäugelt, oder
der gefchichtlich orientierenden Bibel, fondern der pfychologifchen
Feftftellung der Tatfachen bedarf grade die
Theologie, die immanente Kritik oder Korrektur durch
andere Profandifziplinen nicht fo dulden darf als andere
Wiffenfchaften. Das perfönliche Pafcha-Regiment des
weiland ,Dogmatikers', das Schmidt auf Koften des Parlaments
der Tatfachen der Gemeinde fcheinbar noch
üben möchte, dürfte dann freilich bald zu Ende fein;
es verfleht fich von felbft, daß in diefem fozialpfycho-
logifchen Zufammenhange auch die Ausfagen der
Hl. Schrift zu ihrem Rechte kommen. Von folchen Ge-
fichtspunkten aus wird die von Schmidt aufgegriffene
Erörterung, daß fromme Stimmung und Bekenntnis oder
Erfahrung und Autorität gleichzeitig und gleichmäßig
fich durchfetzen müffen, zu beurteilen fein; fonft drückt
man diefe Alternative wohl auch als Tatfache und ,Wahr-
heit' aus. Nicht eins alfo ohne das andere, aber zuerft
die Tatfache, die fich regelt und lichtet nach der von
anderen Tatfachen her gewonnenen Theorie, die man
Bekenntnis, Autorität, Wahrheit, Dogma oder wie fonft
nennen mag.

In Teil I referiert unfer Autor zunächft über die An-
fchauungen von einzelnen Pfychologen, namentlich von
James über den Begriff der Seele, der bei der modernen
Kritik der vermögenspfychologifchen Seelenauffaffung
in Befchreibung der Einzelphänomene fich auflöft. Später
(S. 168, 179 t.) lehnt Sch. diefe Pfychologie ohne Pfyche
vom theologifchen Standpunkt aus ab. Weil das diefer
Ablehnung zu Grunde liegende Mißverftändnis heute
unter Theologen weit verbreitet ift, möchte ich auf
zweierlei hinweifen. 1. Wenn die übrige angewandte
Pfychologie, wie Pädagogik, Ethik, Äfthetik die ontologi-
fche Faffung der Seele entbehren kann, dann wird auch
die Theologie darüber nicht zu Grunde gehen; man möge
doch erft einmal jene Erfcheinungen ftudieren, die uns vorläufig
genug Aufgaben flehen. 2. Wie etwa auf die
funktionelle Krankheitstheorie die ontologifche oder
fubflantielle der Infektionskrankheit folgte, fo bahnt fich
nach der Funktionaltheorie der Seele fchon wieder eine
Art von ontologifcher Seelenauffaffung in der Pfycho-
biologie an, zu der das Neuleben (spiritual life der
Amerikaner) oder die Charakterologie des Auslandes
wichtige Beiträge liefern. Die alte Seelenauffaffung wird
als ,Neovitalismus' bereichert und verbeffert aufleben.
Meine ,Beiträge zur religiöfen Pfychologie: Pfychologie
und Gefühl', Leipzig, A. Deichert 1904, haben ebenfalls
in diefer Richtung vorarbeiten wollen, unabhängig von
Amerika auf Grund des biblifchen Pfychiktatbeftandes.

Bei der Wiedergabe von Lektüre I: Religion and
Neurology bei James und befonders in Teil II S. 145 ff. der
vorliegenden Arbeit kommt Sch. auf die Experimental-
methode der Religionspfychologie in ablehnender Form
zu fprechen, namentlich auch um die Wucht der kalten
Gefetzmäßigkeit von der Religion fern zu halten, als ob
Gott nicht ein Gott des Gefetzes und der Ordnung auch
in der perfonaldifferentiellen Pfyche fei. Seinen Wider-
fpruch gegen die Experimente begründet Sch. durch
Hinweis auf einige Methoden wie der Ausfage und fo-
genannten Pfychoanalyfe durch Affoziation, die ihm nicht
gefallen; die reiche Religionsexperimentalpfychologie
Amerikas, die James nur andeutet, beachtet Sch. nicht:
ich kann dagegen nur noch einmal auf die unter der
Preffe befindliche Übertragung von Starbuck's Religions-