Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1909

Spalte:

202-204

Autor/Hrsg.:

Hoennicke, Gustav

Titel/Untertitel:

Das Judenchristentum im ersten und zweiten Jahrhundert 1909

Rezensent:

Windisch, Hans

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

202

fo tut N. ganz fo, als ob es für den Erweis der Exiftenz i
eines in fich abgefchloffenen, als heilige Schrift verehrten
Vierevangelienkanons einerlei wäre, ob die vier
Schriften getrennt (z. B. Irenaeus, Kanon Mur.) oder
zu einer Harmonie verfchmolzen (Juflin S. 1051., Tatian)
auftreten. Übrigens wird, was Juflin angeht, ganz klar
nur das fehnliche Beflreben, auch in ihm einen Zeugen
für den Vierevangelienkanon zu gewinnen. Im einzelnen
ift mir die Anficht N.'s nicht völlig deutlich geworden.
Er weift zunächfl nach, daß Juflin unfere vier Evangelien
gebraucht habe (S. 99—103). Sodann findet er es wahrscheinlich
, daß er nicht nur Einzelevangelien, fondern
eine Evangelienfammlung gekannt hätte. Die von ihm
zitierten apoftolifchen Memoiren wären vermutlich eine
Evangelienharmonie gewefen (S. 104—106). N. verfchweigt
nicht, daß bei Juflin auch außerkanonifche evangelifche
Elemente anzutreffen find; doch bemüht er fich um den
Nachweis, daß Juflin fich für fie nicht auf apoftolifche
Autorität beriefe. Und zwei unkanonifche Logien möchte
er lieber aus der mündlichen Überlieferung herleiten,
als aus dem Hebräerevangelium (S. 106f.). So ift das
Refultat: die Evangelienfammlung Juftins umfaßte unfere
vier Evangelien, kein anderes (S. 108). Aber S. 131 findet
er es dann plötzlich .probably', daß Juflin auch das
Petrusevangelium benutzt hätte. Damit werden doch
dem Juflin die ihm fo mühfam erftrittenen Vorzüge kurzer
Hand wieder abgefprochen und er fcheidet aus dem
Kreife der Zeugen für die Vierevangelienfammlung aus.
Denn daß er das Evangelium des Petrus minder gefchätzt
hätte als die des Marcus oder Lucas wird niemand glauben
mögen. Freilich könnte man Juflin bis zu einem ge-
wiffem Grade entbehren, wenn Hermas in die Lücke
fpränge. Daß diefer das viergeftaltige Evangelium als
kirchliche Autorität betrachte, ergibt fich für N. aus
Vis. III 13, 3, wo die Frau auf der Bank mit den vier
Beinen fitzt. Weil Irenaeus fich durch die Vierzahl der
Evangelien zu allerlei Spielereien begeiflern läßt, foll für
Hermas das Gleiche ficher fein (S. 113—-116). Hier erübrigt
fich wirklich jede Kritik.

Hat man die Art der Beweisführung und den Geifl,
der das ganze Buch durchweht, kennen gelernt, fo wundert
man fich nicht weiter, zu vernehmen, daß der Evan-
gelift Philippus von Caefarea mit den vier weisfagenden
Töchtern von dem Apoftel Philippus in Hierapolis mit
drei Töchtern, von denen eine mit dem Geilt begabt war,
zu unterfcheiden wäre (S. 146). Ebenfowenig wird man
das Urteil ftilwidrig nennen mögen, daß unfer griechifches
Matthäusevangelium höchft wahrfcheinlich mit dem von
Papias bezeugten hebräifchen Matthäusevangelium iden-
tifch, feine Überfetzung fei (S. 156). Und auch die Zu-
ftimmung zu Ramfay's Thefe von der Abfaffung der
Spruchfammlung zu Jefu Lebzeiten (S. 137) befremdet
nicht mehr. Dagegen fühlt man fich gänzlich außer
Stande, das Buch irgend jemand zu empfehlen, der
Studien über die Urgefchichte der Evangelien und ihrer
Sammlung machen will.

Marburg (Heffen). Walter Bauer.

Skibniewski, D.StephanusLeode, De x©: na filio hominis.

Dissertatio isagogica. (Freiburg i. B, Herder 1908.)

(79 P-) W. 3° M. 3 -

Den neuteftamentlicheProbleme ftudierenden Forfcher
kann das kleine Heftchen nur das eine lehren, daß es
auch heute noch Theologen gibt, die eine Unterfuchung
ftreng nach der Schablone führen: Thesis, Argumentum,
Declaratio, Sclwlion, Corollarium etc. Ob man ihm aber
zumuten darf, zur Erzielung diefer Erkenntnis die Lad
der Lektüre der nach Form und Inhalt gleich unfchmack-
haften Ausführungen zu tragen, ift mir zweifelhaft. Die
gänzlich an der Oberfläche bleibenden, mit Erörterungen
über die Regeln katholifcher Hermeneutik reichlich ge-

fpickten Auseinanderfetzungen kommen zu dem durch
den unanimis patrum conscnsus geficherten — und hervorgerufenen
Ergebnis, daß die Bezeichnung Menfchenfohn
Jefus als wahrhaftigen Menfchen hinftellen wolle. Zum
Schluß erfahren wir, daß zur Löfung der umftrittenen
wiffenfchaftlichen Frage unbedingt der Glaube an die
Infpiration und die göttliche Natur des Herrn erforderlich
fei. Je fefler man von beidem überzeugt ift, umfo
lieber wird man fich dem vom Verf. gewonnenen Refultat
gefangen geben.

Marburg (Heffen). Walter Bauer.

Hoennicke, Priv.-Doz. Lic. Dr. Guftav, Das Judenchrilten-
tum im erlten und zweiten Jahrhundert. Berlin, Trowitzfch
& Sohn 1908. (VIII, 419 S.) Lex. 8° M. 10 —

Eine inftruktive Einleitung, die die Beurteilung des
Judenchriflentums feit Baur behandelt, zeigt, daß hier
noch unerledigte Probleme vorliegen, da die Anflehten
über die Ausbreitung des Judenchriflentums und über
feinen Einfluß auf die Entftehung der altkatholifchen
Kirche noch immer weit auseinandergehen. Eine Be-
griffsbeflimmung leitet zu der neuen Bearbeitung über:
Judenchriftentum ift eine bei Chriften jüdifcher Herkunft
vorkommende Auffaffung des Evangeliums, in der alt-
teftamentlich-jüdifche Elemente auftreten, die dem Wefen
des Evangeliums fremd find. Nun ift das Überjüdifche
des Evangeliums vor allem fein unbegrenzter Univerfalis-
mus. Alfo ift von Judenchriftentum überall da zu reden,
wo das Heil an einen nationalen Partikularismus gebunden
erfcheint.

In diefem Sinne beginnt der Verf. mit einem
Überblick über die äußere und innere Gefchichte des
Judentums und mit einer Charakteriftifierung der drei
Hauptrichtungen, der pharifäifchen, helleniftifchen und
apokalyptifchen. Er zeigt, wie überall der Partikularis-
mus durchbrochen wird, wie kosmopolitifche Anflehten in
der Gotteslehre, in der Sittenlehre und in der Zukunftserwartung
vorgetragen werden, wie indes trotzdem weder
das Rabbinentum, noch der Hellenismus, noch die Apo-
kalyptik auf die Prärogative des Judentums verzichtet.

Nun wird die Verbreitung des Evangeliums unter
den Juden gefchildert. Der äußere Beftand des Judenchriflentums
ift nicht bedeutend gewefen. Nur ganz
wenig Quellen bezeugen ficher judenchriftliche Gemeinden
oder Parteien: Apg, Jac, Apk, Kor, Rom, Paft, dagegen
nicht 1 Petr, Gal, Kol, ijoh, Ign, Phil, 1 Clem. Dennoch
hat das Judenchriftentum Bedeutung gehabt: Judenchrilten
haben die Miffion begründet, die Überlieferungen fixiert,
das alte Teftament erhalten.

Aus dem Chriftentum unter den Juden ift der Judaismus
entftanden. Die Stellung Jefu zum A.T., das Feft-
halten an der altteftamentlichen Gottesoffenbarung, die
feftgewurzelte Art des Gefetzestums, die anfängliche Be-
fchränkung der Miffion auf das jüdifche Volk, endlich
die Blütezeit des Pharifäismus unter Agrippa I. machen
die Betonung des Partikularismus wohl begreiflich. Als
Quellen für den Judaismus kommen hauptfächlich in Betracht
Apg, Gal, 2 Kor, Rom, Phil, auszufchließen find
Jac, Apk, 1 Clem, Herrn, da diefe Schriften nichts Juda-
iftifches enthalten.

Die Judaiften, die Paulus bekämpften, hielten vor
allem an der Prärogative des Volkes Ifrael feft. Nur
der Glaube an den Meffias Jefus fchied fie von ihren
Volksgenoffen, fonft verlangten fie auch von den Heiden
Befchneidung und alle Gefetzesgerechtigkeit um des
Heiles willen. Paulus war ihnen ein Feind der Gefetzes-
offenbarung, feinen Apoftolat leiteten fie von dem Primat
der Zwölfe ab. Auf diefe und auf Jacobus beriefen fie
fich, aber aktiv find fie von ihnen nicht befördert worden.
Weder haben die Urapoftel ihnen Empfehlungsbriefe aus-
geftellt, noch hat Jacobus felbft die Leute nach Antiochia

**