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Ausgabe:

1908

Spalte:

152-153

Autor/Hrsg.:

Siebert, Otto

Titel/Untertitel:

Die Religionsphilosophie in Deutschland in ihren gegenwärtigen Hauptvertretern. Rudolf Eucken als Festgabe zu seinem 60. Geburtstage überreicht 1908

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 5.

152

bei völliger Verwilderung oder .halsfiarriger Bosheit' der
Menfchen einzig und allein ,einige Gewalt an (ich zu
haben' fcheinen, ,fie vom Dafein des höchften Wefens zu
überführen' (S. 29t.). Der Bruch mit der Schulmetaphyfik
und der Ubergang zum Empirismus vollendet fich in den
,Träumen eines Geifterfehers' von 1766. Die ehemals fo
bewunderten Wolff und Crufius find nun zu träumenden
Vifionären und ,Luftbaumeiftern' der Gedankenwelt geworden
. Der Meinung aber tritt der Verf. entgegen, ,daß
Kants Empirismus zu diefer Zeit dem Humes fehr ähnlich
gefehen hat'. Im Gegenfatz zu Hume vertrete Kant
noch manche Anflehten als empirifche, die jener für
metaphyfifche Dogmen halte, insbefondere die Subftan-
tialität der Seele und die Freiheit. Kant bewege fich
vielmehr um jene Zeit in vielen Punkten in derfelben
Richtung, wie der pfychologifche Pofitivismus der Gegenwart
(S. 34f). Dabei ift und bleibt aber Kant in feinem
Lebensgefühl metaphyfifch gerichtet und befriedigt diefes
Bedürfnis nun mehr und mehr, hauptfächlich beeinflußt
von Rouffeau, in einem moralifchen Glauben. Der
III. Teil der Schrift behandelt ,Kants Rückkehr zur ra-
tionaliftifchen Metaphyfik und feine Weiterentwicklung
in den 70er Jahren' und der IV. trägt die Überfchnft:
der Kritizismus und die Metaphyfik. Als Grundgedanke
erfcheint auch hier, daß Kant fich der von ihm außerordentlich
gering bewerteten Schulmetaphyfik gegenüber
als .Reformator der Metaphyfik' fühlt, ,und zwar fowohl
in bezug auf die Metaphyfik als apriorifche Erkenntnis
der Erfcheinungswelt, als auch hinfichtlich der Metaphyfik
des Tranfzendenten' (S. 55). Die verfchiedenen Bedeutungen
der .Metaphyfik' werden klar auseinandergehalten
in einer .Kants Wiffenfchaftsfyftem' darßellenden Tafel
(S. 61), welche freilich Kants Erklärung gegen Fichte
vom 7. Aug. 1793, die der Verf. nicht zu berückfichtigen
fcheint, ignorieren muß, in der es heißt: .hierbei muß
ich noch bemerken, daß die Anmaßung, mir die Abficht
unterzufchieben, ich habe [mit der Kritik der reinen Vernunft
] bloß eine Propädeutik zur Tranfzendentalphilo-
fophie, nicht das Syftem diefer fclbft liefern wollen, mir
unbegreiflich ift'.

Auch in der Behandlung der tranfzendentalen Ideen
der Dialektik, die man in der Regel nur vom Gefichts-
punkte der Verneinung der Metaphyfik betrachtet, betont
der Verf. die pofitive Seite und berührt damit allerdings
eine für die Erkenntnistheorie fehr wichtige Frage. Die
Form, in der Kant die dialektifchen Ideen beibehielt,
nachdem er ihre Schwächen erkannt hatte, fcheint dem
Verf. anfangs die der metaphyfifchen .Hypothefe' gewefen
zu fein. In der reifen kritifchen Zeit dagegen find die
Ideen grundfatzlich nichts als notwendige regulative Vor-
ftellungen ohne objektive Gültigkeit. Und doch erhält
man mehrfach den Eindruck, daß er ihnen auch einen
mehr oder weniger hohen Grad von realer Gültigkeit zu-
fchrtibt. Diefe Form der Ideen als .notwendiger Gedanken
', fofern fie die Gültigkeit bloßer regulativer Prinzipien
überfchreiten, ifl nach dem Verf. die einer .anthro-
pomorphiftifchen fymbolifchen Analogie' (S. 104),
was dann fowohl auf die theoretifch, wie die praktifch
notwendigen Gedanken zu beziehen ift. Wir follen uns
z. B. nach Kant .die Kaufalität des Urwefens in Anfehung
der Dinge der Welt, als Naturzwecke, nach der Analogie
eines Verftandes, als Grundes der Formen gewiffer Produkte
, die wir Kunftweike nennen, denken'. Wenn der
Verf. dann noch darauf hinweift, ,daß die Ideen, fobald
ihnen eine wenn auch nur unbeftimmte objektive Gültigkeit
zugefchrieben wird, wiederum den älteren hypothe-
tifchen Charakter annehmen, während Kant doch im
Prinzip metaphyfifche Hypothefen ftreng ausfchließen foll',
fo berührt er fich fehr nahe mit der vom Ref. (Fries und
Kant II S. I99ff ) vertretenen Anfchauung. Ich würde nur
hinzufügen, daß Kant auch in feiner ,reifen kritifchen Zeit'
von dem hypothetifchen Charakter der Ideen nicht loskommt
, wenn er z. B. in der Kritik der praktifchen Vernunft
fagt: ,Ein Bedürfnis der reinen Vernunft in ihrem
fpekulativen Gebrauche führt nur auf Hypothefen'
(Reclam S. 170), und daß auch jene Form der Analogie

j im Dienfte der Hypothefe fteht, in welche das regulative

[ Prinzip je nach dem Maße feiner Brauchbarkeit für die
Welterkenntnis mit Notwendigkeit fich verwandelt.

Den Standpunkt des Verf. gegenüber Kant und be-
fonders dem Neukantianismus kennzeichnet der Satz:
.Trotz der Vertiefung, die unfer ganzes philofophifch.es
Denken durch den Ruckgang auf Kant erfahren hat, muß
deshalb doch heute in einem gar zu engen Anfchluß an
die Tranfzendentalphilofophie ein durchaus unkritifches,

J dogmatifches Verfahren erblickt werden'. ,Statt des
„Zurück zu Kant" hat es deshalb zu heißen: Vorwärts,
hinaus über Kant' (S. 81). Wir haben die letzten
Axiome, welche die Forfchung heute während ihrer
Arbeit vorausfetzt, für nur .proviforifche Verallgemeinerungen
' aus fpezielleren empirifchen Feftftellungen anzufeilen
. Niemand könne deshalb mitßeftimmtheit fagen,
,ob die fynthetifchen Grundfätze der Tranfzendentalphilofophie
noch in 50 Jahren von der exakten Wiffen-

I fchaft anerkannt fein werden' (S. 79k). Kants über-

1 mäßiger Betonung des Intellektuellen in der Religion

j wird Schleiermachers tiefere Auffaffung gegenübergeftellt,
und zuletzt dem individuellen Gefetz, dem der wahrhaft

I fitttliche Menfch allein gehorcht, die Behauptung an die
Seite gehellt, ,daß auch die Weltanfchauung individuell

| fein muß' (S. 129).

Man ift verfucht zu fragen: Sind auch des Verf. Sätze

j über Weltanfchauung für individuell' zu halten, oder
verläuft nicht vielmehr auch fein Erkennen in Formen,
die er für allgemein und zeitlos gültig halten muß, und

1 um deren Feltftellung es fich eben handelt?

Heidelberg. Th. Elfenhans.

! Siebert, Dr. Otto, Die Religionsphiloiophie in Deutichland
in ihren gegenwärtigen Hauptvertretern. Rudolf Eucken
als Feflgabe zu feinem 60. Geburtstage überreicht.
Langenfalza, H. Beyer & Söhne 1906. (V, 176 S.)
gr. 8° M. 3 —

Das Buch will ein Bild von dem gegenwärtigen Zu-

j ftand der Religionsphilofophie in Deutfchland geben.
Dabei wird diefe Disziplin wefentlich als eine apologetifche
und normative aufgefaßt. Das heißt: die Aufmerkfam-
keit wendet fich vorwiegend denjenigen Beftrebungen
zu, die darauf gerichtet find, die Wahrheit der Religion
darzutun oder ein Ideal der letzteren aufzuhellen. Viel
geringere Bedeutung wird den Unterfuchungen über das
Wefen der empirifchen Religion beigemeffen.

Der Stoff ift in drei Kapitel eingegliedert. Das erfte
behandelt ,die gegenwärtigen Hauptvertreter der Religionsphilofophie
auf neukantifcher, hegelfcher und herbartfeher
Bafis'. Als folche werden J. Kaftan, W. Herrmann,
O. Pfleiderer, O. Flügel angeführt. Das zweite hat es
mit den .gegenwärtigen Hauptvertretern der Religions-

I philofophie auf philofophifch neuer Bafis' zu tun. Es
kommen in Betracht: R. Eucken und als diefem .verwandte
Denker' in zwei ganz kurzen Abfchnitten G. Claß

1 und E. Troeltfch; H. Siebeck und A. Thiele; A. Dorner,
G. Runze, F. Mach und J. Baumann. Das dritte Kapitel

j befchäftigt fich mit den .gegenwärtigen Hauptvertretern
der Religionsphilofophie auf peffimifiifcher, foziologifcher
und pofitiviftifcher Balis.' Hier werden E. v. Hartmann,
P. Natorp, Th. Ziegler befprochen. Daß diefe Einteilung
keine befonders glückliche und erft recht keine fachlich
begründete ift, fpringt in die Augen. Das Ganze wird
eröffnet durch eine einleitende Erörterung über die

! .Stellung der Religion in der Neuzeit'. Den Befchluß

. bildet ein Auffatz, der unter enger Anlehnung an Euckens
.Wahrheitsgehalt der Religion' fich über das Thema .das

I Chriftentum und die Gegenwart' ergeht.