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Ausgabe:

1908 Nr. 4

Spalte:

119-120

Autor/Hrsg.:

Keyserling, Hermann Graf

Titel/Untertitel:

Unsterblichkeit. Eine Kritik der Beziehungen zwischen Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt 1908

Rezensent:

Lülmann, Christian

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H9

Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 4.

120

geftellte Gericht felber zu vollziehen. Auf diefem Wege
wird fchwerlich die erwünfchte Heilung erreicht werden;
viel eher ift zu befürchten, daß man durch ein folches
Verfahren die gefchichtliche Forfchung um den Kredit
bringt, welchen man ihr fichern möchte.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Kirn, Dr. Otto, Grenzfragen der chriftlichen Ethik. (Programm
.) Leipzig, A. Edelmann 1906. (43 S.) 40

Kirn erörtert in diefem Programm das in neuerer
Zeit befonders durch Fr. Naumann und E. Tröltfch in
den Vordergrund gerückte Problem des Verhältniffes
der chriftlichen Ethik zur weltlichen Kultur. Reichen
die fittlichen Prinzipien des Chriftentums aus, unfer Leben
auch auf den Gebieten des Rechts, des Staats, der
Kulturgefellfchaft zu ordnen, oder haben wir in diefer
Hinficht Grenzen der chriftlichen Ethik anzuerkennen,
die Ergänzungen von anderer Seite fordern? K. führt
zuerft aus, daß das Kulturleben und das Rechtsleben
nicht nur für die chriftliche Ethik, fondern für die Ethik
überhaupt ein ,Zwifchenreich der unvollkommenen fittlichen
Geftaltung', ein Gebiet ,der Verflechtung des fittlichen
Willens mit den feinem Einfluß entzogenen feften
Ordnungen des Wirklichen' (S. 14 f.) darftellen. Die
Sittlichkeit hat einen Anteil an diefem Gebiet; aber fie
beherrfcht es nicht allein. ,Die Formen des Kulturlebens
find vergeiftigte Naturformen, in gewiffem Grad auch
verfittlichte Naturformen; aber fie find zugleich naturgewordene
, mechanifierte ethifche Formen, Inflitutionen,
welche geeignet find, den Willen in die Richtung zu
bringen oder in ihr feftzuhalten, die beim Vorhandenfein
der fittlichen Gefinnung fpontan entliehen würde' (S. 16).
In der fittlichen Verkündigung Jefu ift nun die geforderte
Sittlichkeit der frommen Gefinnung grundfätzlich
ganz abgelöft von allen Kultur- und Rechtsformen und
ausfchließlich auf das Verhältnis zu Gott begründet. Die
Forderungen diefer Ethik richten fich durchaus nicht auf
die Begründung und technifche Organifation des Kultur-
und Rechtslebens. Aber doch gewinnt diefe zunächft
fo rein perfönliche und innerliche Ethik auch eine große
Bedeutung für die Geftaltung des Kultur- und Rechtslebens
. Denn die chriftliche Gefinnung muß auch alle
Betätigung auf diefem Gebiete beeinfluffen und fie in
Einklang mit dem Trachten nach dem überweltlichen
Reiche Gottes zu bringen fuchen. Und zwar kann fich
der Chrift mit ganzer Hingebung der Kulturarbeit
widmen. Hierfür liegt der letzte Grund darin, daß ,die
Idee des Reiches Gottes nur eine Vorfchrift über den
Sinn, nicht eine Anweifung für den befonderen Inhalt
unferes Handelns enthält'. Wir müffen unferem fittlichen
Trachten nach dem Reiche Gottes feine konkrete
Ausführung durch die innerweltlichen Pflichten geben,
die uns nahegelegt find. Die regulative Idee des Reiches
Gottes befagt nicht, was gefchehen foll, fondern nur, in
welcher Gefinnung wir handeln follen: in der Gefinnung
der Freiheit in Gott und der Liebe zum Nächften (S. 38).

K. hat diefe Gedanken in fehr klarer, methodifcher
Weife entwickelt. Seine Abhandlung bietet eine willkommene
Ausführung der kurzen Sätze, auf die er fich
in feinem ,Grundriß der theologifchen Ethik', 1906, bei
der Befprechung des bezeichneten wichtigen Problemes
befchränken mußte.

Jena. H. H. Wen dt.

Keyferling, Hermann Graf, Unfterblichkeit. Eine Kritik
der Beziehungen zwifchen Naturgefchehen und menfch-
licher Vorftellungswelt. München, J. F. Lehmanns
Verlag 1907. (V, 349 S.) gr. 8» M. 5 -

Dem Verfaffer handelt es fich nicht um Wertung,
fondern um Begreifung des Unfterblichkeitsglaubens. Er
will ihn als Naturerfcheinung aus kosmifcher Perfpektive

betrachten und behandeln. Er analyfiert ihn in feinen
gefchichtlichen Erfcheinungsweifen und begrifflichen Be-
j Ziehungen, um zu dem Refultat zu kommen, daß, wo
immer Unfterblichkeitsglaube fich finde, er hervorgehe
aus dem Bewußtfein, daß das im Menfchen wirkfame
Lebensprinzip fich in der räumlich-zeitlich begrenzten
Individualexiftenz nicht erfchöpft. Individuum aber und
Perfon find aus fubjektivem Blickpunkt ein und dasfelbe.
Das beharrende Ich, auf das das Ewigkeitsbewußtfein des
Menfchen und fein Selbfterhaltungstrieb gehen, fällt mit der
bewußten, fich wandelnden Perfon nicht zufammen. Es
ift etwas Unperfönliches, Überperfönliches, eine Idee,
eine zeitlofe ewige Macht, eine Kraft, die alle Grenzen
leugnet. Was der Philofoph denkt, das erlebt der My-
ftiker: daß der Menfch mehr ift, als feine begrenzte Perfon
, daß fein eigenftes Streben weit über ihn hinausführt,
daß in ihm ,die unendliche Entelechie' wirkt. Das reli-
giöfe Gefühl fpiegelt in der fchlechthin fubjektiven Sphäre
den fchlechthin objektiven Zufammenhang der Welt.

Der Verf. will ,möglichft viele und hochragende Ge-
fichtspunkte' aufzeigen. Das hat er unter Aufbietung von
Scharffinn gewiß getan. Doch hat er es m. E. zu um-
ftändlich ausgeführt. Die breite Darftellung wirkt fchließ-
lich ermüdend. In endlofen Wiederholungen präfentiert
fich der Grundgedanke des überindividuellen Selbft oder
überperfönlichen Ich, diefer Grundgedanke, der trotz der
eingehenden Begründungen doch anfechtbar bleibt. Sti-
liftifch wäre manches zu beffern. Wozu die vielen erkün-
ftelten, ganz überflüffigen Fremdwörter?

Trotzdem hat das Buch, in das doch tiefe und gute
I Gedanken hineingewoben find, das Verdienft, den Perfön-
j lichkeitsbegriff aufs neue energifch unterfucht und das
fo fchwierige wie intereffante Problem der Unfterblichkeit
aufs neue in den Vordergrund des Nachdenkens gerückt
zu haben.

Stettin. Lic. Dr. Lülmann.

| Külpe, Oswald, Immanuel Kant. Darftellung und Würdigung
. Mit einem Bildniffe Kants. (Aus Natur und
Geifteswelt. 146. Bändchen.) Leipzig, B. G. Teubner
1907. (VIII, 152 S.) 8° M. 1—; geb. M. 1.25

Es ift fehr zu begrüßen, daß in der gediegenen Sammlung
,Aus Natur- und Geifteswelt' nun auch ein Bändchen
über Kant erfchienen ift. Daß es gelungen ift, dafür
Külpe zu gewinnen, deffen Fähigkeit zu gemeinverftänd-
licher und doch gründlicher Darftellung fich fchon mehrfach
bewährt hat, ift von befonderem Wert.

Nach einer kurzen Skizze der Wertfehätzung und
des Zuftandes der Philofophie im 18. Jahrhundert und
der Aufnahme und Wirkung der kantifchen Philofophie
folgt eine Darfteilung der vorkritifchen Zeit, in welcher
mit dem Biographifchen die Einfuhrung in die Schriften
verbunden ift. Hierauf wird der Kritizismus felbft behandelt
, das kritifche Problem in feiner klaren Faffung:
Wie find fynthetifche Urteile a priori möglich?, Sinnlichkeit
und Verftand, Erfcheinung und Ding an fich, die
Einteilung der Philofophie, und der — nach des Verf.
Anficht mit der Einfchränkung der Erkenntnis auf fynthetifche
Urteile apriori zu eng begrenzte — Begriff der
Wiffenfchaft (S. 46J. Eine vorzügliche Bearbeitung findet
der Abfchnitt über Raum und Zeit, deffen kritifche Ausführungen
(S. 49ff.) auch dem Fachmann Intereffantes
bieten. Der übrige Stoff ift in folgender Weife gegliedert:
6. die Kategorien und Grundfätze. 7. Die Apriorität als
Subjektivität und der Phänomenalismus. 8. Die Befchrän-
kung der Erkenntnis auf mögliche Erfahrung 9. Die Ideen
und Prinzipien. 10. Das Sittengefetz und die Poftulate.
II. Das Reich der Zwecke. Die beiden letzten Abfchnitte
I geben den Reft des Biographifchen unter eingehenderer
i Berückfichtigung des Konflikts mit der Staatsregierung
I und eine anfprechendeSchilderungder Perfönlichkeit Kants.