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Ausgabe:

1908 Nr. 3

Spalte:

89-90

Autor/Hrsg.:

Graue, Georg

Titel/Untertitel:

Zur Gestaltung eines einheitlichen Weltbildes 1908

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Seite 1

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89

Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 3.

90

deutung und die Gefamttätigkeit diefes Theologen be- I
urteilen. Um diefes Urteil zu gewinnen und zu begründen
, bedarf es des weiteren, von den Herausgebern
in dankenswerter Hingebung gefammelten und vorbereiteten
Materials. Wenn wir uns aber auch bis dahin
die endgültige Würdigung des Dogmatikers vorbehalten
, können wir nicht umhin, bereits heute für die von
dem gottinnigen Chriften, dem herzenskundigen Seel-
forger, dem unverdroffenen Diener des Evangeliums dargebotene
Gabe unferen aufrichtigen Dank auszufprechen.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Graue, D. Georg, ZurGeltaltung eines einheitlichen Weltbildes.

Anregungen und Fingerzeige. Leipzig, M. Heinfius
Nachf. 1906. (IX, 263 S.) 8« M. 4 - :

Gr.s Abficht ift darauf gerichtet, ein einheitliches j
Weltbild zu gewinnen, das die Natur- und Geifteswelt |
umfaßt und allen Einzelerkenntniffen einen feften Halt
gewährt; denn alle religiöfen, äfthetifchen und wiffen-
fchaftlichen Betätigungen des Menfchengeiftes weifen auf
ein folches hin. Dabei kämpft er gegen zwei Fronten.
Seine Gegner findet er nämlich zuerfb in Anhängern des
naturaliflifchen Monismus, die eine Verknüpfung ihrer j
moniftifchen Anfchauung mit einer religiös-fittlichen Auf-
faffung erflreben. Dann aber findet er fie auch in Leuten,
die auf eine einheitliche Überzeugung verzichten und die
Verbindung von Welterkennen mit praktifcher Weltan-
fchauung bloß in der Einheitlichkeit einer Perfönlichkeit I
herftellen wollen. Die erfte Klaffe von Gegnern wird
von Häckel und Genoffen, die zweite von Herrmann,
Kaftan, Chamberlain und andern Neukantianern gebildet, j
In dem Kampf gegen diefe letzteren, der nur eine
Epifode bildet, wird der Glaube an die Macht der Denk- |
gefetze aufgeboten, um ihre Scheidung von Wirklichkeitsund
Werterkenntniffen zu widerlegen. Jenen erflen weift
Gr. vor allem nach, daß fie überhaupt bloß Sitte, aber
keine Sittlichkeit im Auge haben.

Darauf greift Gr. die moniflifche Anficht felber an
in ausführlichen Darlegungen, die z. B. recht gute Bemerkungen
über Freiheit und Entwicklung enthalten.
Freilich begreift man nicht, wie er ohne tiefer greifende i
erkenntnistheoretifche Unterfuchungen über diefe Dinge I
entfcheiden kann. Derfelbe Mangel macht fich auch in
dem letzten Abfchnitt geltend, wo Gr. Winke und Weg-
weifer zu einer einheitlichen Weltanfchauung gibt. Es
ift doch etwas dürftig, wenn er in der Weife des kos- j
mologifchen Beweifes einfach auf einen Zentralgrund
der Welt fchließen will. Dabei läuft ein merkwürdiges
Verfehen unter: S. 185 fpricht er von dem Verfuch, aus
der gleichmäßigen Bewegung der vielen Weltkörper auf
einen intelligenten Urheber zu fchließen; dabei kommt
er auf den Einwand, daß damit die Verftandeskategorien
Kants auf ein jenfeit diefer Welt liegendes Ding angewendet
würden; diefen widerlegt er bloß, indem er fagt:
Kant hätte ja dasfelbe getan, indem er das Ding an fich
als Urfache der Erfcheinungswelt zugelaffen habe! Die
Weltkörper jenfeit der Erfcheinungswelt! — Um der ;
Einheitlichkeit diefes Weltgrundes willen muß man auch
das Gemütsleben desMenfchen in Gottes Liebe begründet
fein laffen; Einwände gegen fie werden in umfangreicher
Theodizee verteidigt. Der fo gewonnene Gottesbegriff
wird dann im Sinn der Einheitlichkeit fchärfer gefaßt:
Gott wirkt in den Naturgefetzen und auch auf den
Menfchen, ohne daß eine Gefahr beftehe, in den Dualismus
zurückzufallen. Erörterungen über das ewige Leben und
die Einheitlichkeit von religiöfer, fittlicher und äfthetifcher !
Lebensanfchauung machen den Schluß.

Der fpekulative Idealismus diefer ganzen Ausführungen
mutet recht alt oder recht neu an. Hier ift es
freilich die alte Weife, die fich gegen die Pofition Ritfchls
wiegegen Häckel wehrt. Die etwas breiten und nicht fehr
in die Tiefe gehenden Elrörterungen haben mir leider

nicht das gegeben, was ich gefucht habe, nämlich eine
gründliche Beleuchtung des Standpunktes, der fich mit
dem Werturteil begnügt. Aber es leidet keinen Zweifel,
daß das Buch fehr vielen Leuten gute Dienfte leillen
kann, die noch tief im Materialismus und Monismus
decken. Als feine Lefer kommen befonders folche in
Betracht, die fchon etwas von philofophifchen Dingen
verliehen und willens find, fich über die fchwerften Fragen
nicht nur leicht unterhalten zu laffen, fondern auch
fteilere Wege mit einem Führer zu gehen, der fie fich felber
gebahnt hat.

Heidelberg. F. Niebergall.

Wedde, Johannes, Die Freiheit und ihr Freier. Grundlinien
einer moniftifchen Religion der Zukunft. Aus dem
zweiten Band der Gefammelten Werke gefondert
herausgegeben von Walter Hübbe. Hamburg, A.
Janffen 1907. (140 S.) 8° M. 2—

Eigenartig wie fein Titel ift das ganze Buch. Im
einzelnen fein und gut gefchrieben, fetzt es doch als
ganzes dem Eindringen des Verftändniffes Schwierigkeiten
entgegen. Denn es hat nur wenige Punkte an
fich, wo unfer gewöhnliches Denken anknüpfen kann.
Um fo intereffanter und förderlicher ift dann freilich das
Studium. — Wir wollen zuerft möglichft einfach herausheben
, was der — auch als Dichter bekannte, aber fchon
verftorbene — Verfaffer will, um dann die Vorausfetzungen
und die Konfequenzen feiner Stellung zu beleuchten.

Es kommt ihm darauf an, das Reich des Guten und
Schönen als eine felbftändige freie Welt zu erweifen,
die von dem freien Menfchen als ihrem E'reier gewonnen
werden foll. Damit wendet er fich gegen eine doppelte
Front: einmal gegen jede Art von Deismus, der jene
Welt des Idealen der Leitung und Förderung einer per-
fönlichen Weltmacht anvertraut wiffen will, dann aber
auch gegen den vulgären Materialismus und Atheismus,
der des abgeblaßten deiftifchen Glaubens lebt, als ob
,durch einen verteufelt angenehmen Urzufall' der Verlauf
der Dinge mit Naturnotwendigkeit auf die Hervorbringung
jenes idealen ,Gefpenfterfpuks' angelegt fei. Demgegenüber
führt W. die Anficht durch, daß wir jener idealen
Welt als Freie gegenüber flehen, die fich den Sinn für
fie eröffnen und dann der Güte des konkreten Dafeins
nicht bedürfen, die einen in jenen beiden Fällen zu
Sklaven macht. Das Böfe und das Übel, ein unlösbares
Rätfei für den deiftifchen Aberglauben, geht dann in die
Fülle des Dafeins ein und wird überwindlich, wenn wir
über dem ganzen Getriebe den Willen der Gottheit ,Spiel-
freude' erfchauen, die, weit entfernt zu wünfehen, daß
wir ihren Willen wollen follen, fich freut, wenn wir gegen
ihren Willen ankämpfen und ,vor der Sphinx des Lebens
das Bedürfnis haben, Ödipus zu fein und nicht ihr Opfer
oder ihr Jagdhund'. — So erhebt fich in dem Buch
ein Fichtefcher Geift der Unabhängigkeit, der, weder
der Materie noch Gott Untertan, fich felbft das Ewige
erkämpfen will.

Wie immer eine Weltanfchauung vom Lebensideal
aus benimmt wird, fo denkt nun von diefem Ideal der
Freiheit aus W. auch in die Welt hinein. Freilich ift
feine Art, die Freiheit zu fichern, nicht fehr überzeugend.
Naiv ift der eine Gedanke, daß wir ja nicht ihre Vor-
ftellung ohne ihre Wahrnehmung hätten; etwas zu knapp
und dunkel der Verfuch, überall zwifchen Naturgefetzen
und Atomen das Neue, Schöpferifche und Übergefetzliche
emporquellen zu laffen. Klarer und intereffanter ift mir
was er über die individuelle Mythologie fagt. Ift die'
Mythologie im allgemeinen mit ihrer Bilderwelt die
einzige Weife, fich über ,das Wahrnehmen des Willens'
zu verftändigen, ift fie darum immer wahr, weil man
fich ja überhaupt nichts verkehrtes vorftellen kann, und
die Wirklichkeit unendlich reichhaltiger ift, als ,da's ge-