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Ausgabe:

1908 Nr. 26

Spalte:

723-727

Autor/Hrsg.:

Natorp, Paul

Titel/Untertitel:

Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik. 2., durchges. u. um e. Nachwort verm. Aufl 1908

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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723 Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 26. 724

mit Erfolg um Aufhellung des bisher wenig gekannten
Lebens, verliert fich aber gegen den Schluß des Heftes
mehr und mehr ins Panegyrifche und gelangt zuletzt
nicht zu einem befriedigenden und lebensgetreuen Bilde;
der Plauptwert der Schrift beruht daher auf den Beiträgen,
die fie für die Kenntnis der Strömungen an den Höfen
von Wien und München und an der Univerfität Ingolfladt
liefert. Am Schluß find eine Zufammenftellung von Eifen-
greins Schriften fowie Briefe und Regelten beigegeben,
die letzteren meift in ganz kurzer Faffung, ,weil alle wichtigen
Angaben in der Darfteilung hinreichend verwertet
wurden'. Bei diefem Verfahren verfehlen die Regelten
ihren eigentlichen Zweck, für das im Text Gefagte zum
Belege zu dienen und dem kritifchen Lefer eine Nachprüfung
zu ermöglichen; wie nötig aber eine folche in
einzelnen Punkten wäre, zeigt ein Vergleich des Briefes
Nr. 113, worin fich Eifengrein als Superintendent der
Univerfität Ingolftadt dem herzoglichen Sekretär Fend
gegenüber mit aller nur denkbaren Schärfe und Erbitterung
über das Treiben der Jefuiten in Ingolftadt aus-
fpricht, und der Darftellung auf S. 95f., wo ihm in eben
diefem Streit zwifchen dem Orden und der Univerfität
eine durchaus neutrale und farblofe Haltung zugefchrie-
ben wird.

Stuttgart. Viktor Ernft.

Natorp, Paul, Religion innerhalb der Grenzen der Humanität.

Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik.
Zweite, durchgefehene und um ein Nachwort vermehrte
Auflage. Tübingen, J. C. B. Mohr 1908.
(VIII, 126 S.) gr. 8° M. 3 —

Das Buch Natorp's, das in der befcheidenen Form
eines Kapitels zur Grundlegung der Sozialpädagogik ein
förmliches Syftem der Religionsphilofophie darbietet,
erfcheint nach Verlauf von vierzehn Jahren in zweiter
Auflage. In der äußeren Ausftattung ftark umgeftaltet,
ift es in bezug auf feinen Inhalt und deffen Formulierung
fich wefentlich gleich geblieben. Doch hat der Autor
die Gelegenheit benutzt, die Stellung, die er einnimmt,
durch ein Nachtragskapitel zu verflärken, indem er fich
mit feinen Kritikern und einem ihm verwandten Denker
auseinanderfetzt.

Die Hauptgedanken der Schrift mögen hier in Kürze
rekapituliert werden. Sie geht davon aus, daß zur
wahren Humanität nicht bloß phyfifche fondern zugleich
intellektuelle, fittliche, äfthetifche Bildung eines jeden
gehört, der Menfch heißt. 1(1 das aber alles? Gibt es
nicht noch ein Weiteres? Muß nicht auch religiöfe Bildung
in Betracht gezogen und hinzugerechnet werden?
Eine bejahende Antwort fcheint unausweichlich, wenn man
fich vergegenwärtigt, daß die Religion nicht nur eine,
allenfalls entbehrliche, Dublette zur Sittlichkeit ift, fofern
fie, wie fpeziell der Prophetismus, das Urchriftentum, die
Frömmigkeit Luther's beweifen, einen fittlichen Kern
enthält, fondern noch etwas über die eigentliche Sittlichkeit
Hinausgehendes, wenngleich mit ihr Zufammen-
hängendes, bedeuten will, nämlich das auf unmittelbarer
Erfahrung beruhende perfönliche Vertrauen auf die fieg-
hafte und weltüberwindende Kraft des Guten. Eine endgültige
, zuverläffige Erledigung der aufgeworfenen Frage
ift jedoch nicht möglich ohne eine forgfältige Analyfe
des pfychologifchen Wefens der Religion und eine genauere
Prüfung ihres Fundaments.

Dabei ergibt fich, daß die Religion tatfächlich und
in jeder Beziehung etwas anderes ift als Wiffenfchaft,
Sittlichkeit und Kunft. Sie beruht auf dem Gefühl,
oder fie befteht in diefem, im ,unendlichen, geftaltlofen
Gefühl', das an fich kein Objekt hat und kein Objekt
haben kann, das vielmehr lediglich die dem Subjekt zugeordnete
, die Subjektivität repräfentierende Bewußtfeins-
art ift, der ,unerfchöpfliche, lebendige Quell' der wiffen-

I fchaftlichen, der fittlichen, der äfthetifchen Bewußtfeins-
formen, aber mit diefen nicht identifch. Deshalb kann
auch die Religion kein Objekt haben, kein bedingtes wie
die wiffenfehaftliche Erkenntnis, kein unbedingtes wie die
Sittlichkeit und ebenfowenig ein bedingtes und ein unbedingtes
zugleich wie die Kunft. Sie ift eigentlich und
konfequenterweife objektlos, nichts mehr als die ,fubjektive
Gegenfeite' zu dem objektfetzenden Bewußtfein. Aber
freilich, wie das Gefühl die Keimzelle ift, aus der fich
allmählich die Wiffenfchaft, die Sittlichkeit, die Kunft
herausdifferenziert haben, wie es die betreffenden objek-

I tivierenden Bewußtfeinsformen fortwährend begleitet und
,umrankt', fo zeigt es erfahrungsmäßig vielfach die Neigung
, in diefe objektivierenden Bewußtfeinsformen überzugreifen
, fie zu .überwuchern', gleichfam ihre objektivierenden
Funktionen an fich zu reißen; und da es nun
als Gefühl unendlich ift, objektiviert es dann einfach das

J Unendliche: weshalb eben die Religion fchon früh, ja,
von Anfang an, aufgetreten ift mit dem Anfpruch ein
Verhältnis zu fein zu einem unendlichen, transzendenten
Objekt. Eine folche Prätention ift indeffen mit der Ein-

! ficht in das Wefen des Gefühls nicht vereinbar, vollends
nicht vereinbar mit der Einficht in das Wefen und die
Eigenart des wiffenfehaftlichen, fittlichen, äfthetifchen
Bewußtfeins. Und wäre der ,Transzendenzanfpruch' der
Religion unaufgebbar, ftünde und fiele damit ihr Wert,
fo wäre Religion innerhalb der Grenzen der Humanität
unmöglich.

Glücklicherweife ift dem nicht fo. Selbft wenn die
Religion ihre Prätention auf ein transzendentes Objekt
fallen läßt, felbft wenn fie weiter nichts fein will als
das dem Subjekt zugeordnete und das Subjekt repräfentierende
Gefühl, das fich zwar in mancherlei Bildern
und Symbolen ausfpricht, das aber auf Dogmen, auf
objektivierende und in das Bereich der objektivierenden
Bewußtfeinsformen übergreifende Thefen, auf wiffenfehaftlichen
Wahrheitswert beanfpruchende Lehrfätze verzichtet,

I vermag fie doch das zu leiften, was fie angeblich leiften
foll und verdient fie einen Platz, im geiftigen Haushalt
der Menfchheit. Denn weil das Gefühl der urfprüngliche
Quell der objektivierenden Bewußtfeinsformen ift, gleichfam
die Einheit, in der fie von Haus aus undifferenziert
beifammen liegen, kann es eine Garantie dafür gewähren,
daß die Welt, die wir erkennen, die Natur, und die Welt,
die wir wollen, die fittliche Welt, nicht radikal indifferent
und unheilbar fremd einander gegenüberftehen: find fie
doch beide unfere Welten, wurzeln fie doch beide in
einem gemeinfamen unmittelbar erlebten Grunde! Und

! fo vermag das Gefühl den Glauben an den Sieg des

! Guten in der Welt zu ftärken, den das Sittengefetz zwar
fordert, aber nicht notwendig gibt. Anderseits ift das
Gefühl, wenngleich es fubjektiv und individuell ift, doch
auch gemeinfehaftftiftend; und fo vermag es weiterhin

I dem fittlichen Ideal, der Idee der Menfchheitsgemein-
fchaft, eine eigentümliche Wärme und Wirklichkeitsfärbung
zu verleihen. In der einen und der andern
Leiftung aber, in der Stärkung des Glaubens an den
Sieg des Guten und in der gefühlsmäßigen Belebung und
Erwärmnng der fittlichen Idee befteht die unvergängliche
Bedeutung und der wahre Wert der Frömmigkeit. Darum
kann getroft und ohne Bedenken gefordert werden,
daß die empirifch gegebene, gefchichtliche Religion in
der angedeuteten Richtung reformiert und reduziert werde,
in der fich übrigens die bisherige Entwicklung bereits
bewegt hat.

Zum Schluß des Abfchnittes faßt der Autor feine
| Defiderien in einer kurz.en Überfichtsformel zufammen,
die der Reproduktion infofern wert ift, als fie deutlich
zeigt, wie der Religion innerhalb der Grenzen der Hu-
I manität genau foweit Berechtigung zuerkannt werden
foll, als fie fich den von den objektivierenden Bewußtfeinsformen
ausgehenden Korrekturen fügt. Es wird
! verlangt: Reinigung der Religion in der Weife, daß das