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Ausgabe:

1908 Nr. 25

Spalte:

706-708

Autor/Hrsg.:

Caspari, Walter

Titel/Untertitel:

Die geschichtliche Grundlage des gegenwärtigen Evangelischen Gemeindelebens, aus den Quellen im Abriß dargestellt 1908

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 25.

706

daß die theoretifche Vernunft allein und an und für fich
der Aufgabe nicht gewachfen ift.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Pochhammer, Prof. Dr. L., Zum Problem der Willensfreiheit
. Eine Betrachtung aus dem Grenzgebiet von
Naturwiffenfchaft und Philofophie. Stuttgart, M. Kielmann
1908. (82 S.) gr. 8° M. 1.20

Die vorliegende Schrift ift durch mufterhafte Klarheit
und Einfachheit der Gedankenführung ausgezeichnet.
Hat der Verf. auch recht damit, daß er durch die von
ihm vertretene Hypothefe keine neue Kenntnis bringe
(S. 82), fo ift er doch in deren Begründung und Durchführung
, bei aller Berührung mit anderen, feine eignen
Wege gegangen. Er zeigt, wie die naturwiffenfchaft-
liche Auffaffung der Vorgänge zum Fatalismus führe,
der fich auch auf den Menfchen als einen Teil der
Natur erftrecke. In diefer Anwendung auf uns felbft
aber findet er die naturwiffenfchaftliche Theorie ein-
feitig. Indem er nun feftftellt, wie fich als feelifche
Vorgänge die Empfindungen, die er von den Gefühlen
nicht fondert, von den rein ftoff liehen Vorgängen unter-
fcheiden, beftimmt er den fo fich ergebenden Dualismus
zunächft im Sinne einer feften .Zuordnung des körperlichen
Vorgangs zum feelifchen, des feelifchen Vorgangs
zum körperlichen' (S. 32). Aber fchon die Naturvorgänge
im Menfchen find nicht ausfchließlich durch Naturkräfte
beftimmt. Denn diefe Annahme würde zu einer
fataliftifchen Lebensanfchauung führen, die indeffen unhaltbar
ift.

Deshalb geht der Verf. vielmehr von der grundfätz-
lichen Forderung aus, daß der Menfch einen gewiffen
Grad von Willensfreiheit befitzen müffe (S. 38), und bezeichnet
als den freiheitlichen Beftandteil des Willens .denjenigen
Einfluß, der bei den Handlungen des Menfchen
nicht von unabänderlichen Kräften herrührt' (S. 40f.).
Jene Forderung eines freiheitlichen Beftandteils des Willens
führt nun weiter zu der Annahme, daß aus dem Seelenleben
flammende Kräfte vorhanden find, ,die keine Naturkräfte
find und die doch eine Wirkung auf die Stoffteilchen
unferes Organismus ausüben' (S. 42). Solche
.fupermaterielle Kräfte' find aber nicht nur auf dem Gebiete
des Willens, fondern auch auf dem der Denktätigkeit
wirkfam. Da nämlich die Begriffe richtig und unrichtig
, um die es fich beim Schließen handelt, auf die
diefem zugeordneten Molekularbewegungen felbft nicht
anwendbar find, kann bei dem Denkprozeß dem körperlichen
Vorgange die entfeheidende Bedeutung nicht bei-
gemeffen werden; denn fonft müßten die unrichtigen
Schlüffe für ebenfo berechtigt gelten wie die richtigen
(S. 60 f.).

Indem der Verf. nun in einem ausführlichen Schlußkapitel
feine Hypothefe, wie er fie felbft immer nur
nennt, zur Begründung der Ethik fruchtbar zu machen
fucht, leitet er die Handlungen aus drei Faktoren ab,
den Impulfen, dem Charakter des Handelnden und dem
freiheitlichen Beftandteil feines Willens (S. 71). Diefer,
meint er, fei ein felbftändiger Faktor, ,der bei jeder
einzelnen Handlung mitwirkt und der zum Begriff der
Verantwortung führt' (S. 73). Die Verantwortlichkeit eines
Menfchen für feine Charaktereigenfchaften aber reiche fo-
weit, ,als der Gebrauch, den er vom freiheitlichen Beftandteil
feines Willens im Laufe der Jahre machte, dazu [
beigetragen hat, die Eigenfchaften auszubilden' (S. 74).
In diefem Gebrauch feiner Freiheit ift jedoch jeder ganz j
auf fich geftellt, ohne daß man ihm dabei irgendwie
helfen könnte. .Aber wir find imftande, die objektive
fittliche Qualität feiner Handlungen zu heben und dadurch
zu feinem Glücke beizutragen, das nur auf fittlicher
Grundlage ficher ruht' (S. 80). Infofern gilt dem Verf.
als Ziel des fittlichen Handelns und der Erziehung dazu I
die Wohlfahrt der Mitmenfchen.

Der Verf. vertritt alfo einen beftimmt begrenzten
indeterminiftifchen Standpunkt, und bemerkenswert ift die
Vorficht, mit der er ihn geltend macht. Indem er nun
feine Annahme von fupermateriellen Kräften als eine Ergänzung
des Kaufalitätsprinzips bezeichnet (S. 59), nimmt
er zwar ,eine kaufale Verknüpfung auch für den Denkprozeß
an', da das Ergebnis unferes Denkens nicht von
unferm Willen abhänge (S. 62). Dagegen fcheint er deffen
,freiheitlichen Beftandteil' keiner Kaufierung durch andere
Faktoren unterworfen zu denken. Demgegenüber aber
möchte ich einmal bemerken, daß der auch von dem
Verf. allein ins Auge gefaßte naturwiffenfchaftliche Kaufalbegriff
nicht die einzige mögliche und wirkliche Ausprägung
des Kaufalbegriffs überhaupt ift, wie ich das in
meiner Schrift über die Kaufalbetrachtung in den Geiftes-
wiffenfehaften (Bonn 1901) genauer begründet habe.
Ferner aber hat das, was der Verf. den freiheitlichen
Beftandteil des Willens nennt, und was einer Vordergrundsbetrachtung
allerdings auch nur als ein folcher
erfcheint, feine unumgängliche Vorausfetzung in der Individualität
eines jeden Menfchen, genauer in der Art und
Weife, in der ein jeder auf die außer ihm liegenden
Gründe feines Wollens individuell reagiert. In diefer
Individualität felbft aber ift man nicht auch mehr frei,
fondern fie ift etwas urfprünglich einem jeden fo oder
fo gegebenes. Dann aber fleht im Hintergrunde aller
Erfcheinungen, die eine indeterminiftifche Deutung herausfordern
oder herauszufordern fcheinen, doch zuletzt wieder
eine Determination, die allerdings nicht mehr mit wiffen-
fchaftlichen, fondern nur noch mit metaphyfifchen Denkoperationen
faßbar ift.

Bonn. O. Ritfchl.

Dreves, D. Guido Maria, Hymnologilche Studien zu Venantius
Fortunatus und Rabanus Maurus. (Veröffentlichungen aus
dem kirchenhiftorifchen Seminar München. III. Reihe
Nr. 3.) München, J.J.Lentner 1908. (III, 136S.) 8° M. 3—

Der verdienftvolle Hymnologe bietet uns in dem
Bändchen literargefchichtliche Unterfuchungen über zwei
dem Fortunatus zugefchriebene Hymnen, den Weihnachtshymnus
Agnoscat omne saeculum und das Marienlied Quem
terra, pontus, aethera, fowie über die von ihm in den
Analecta hymnol. L, 185 squ. veröffentlichten Hymnen
4—27 des Rabanus dar. Dreves ift von der Echtheit der
angeführten Hymnen des Fortunatus und Rabanus überzeugt
und fucht fie durch forgfältigfte philologilche und
metrifche Unterfuchungen und durch eingehende Vergleiche
mit den andern Hymnen der beiden Dichter und
ihren fonftigen Schriften zu erweifen. Die Gelehrfamkeit
und der unermüdliche Spürfinn des Verfaffers find bewundernswert
. Soweit ich mir ein Urteil zutrauen darf,
halte ich feine Beweife der Echtheit der genannten Hymnen
für gelungen. Den Spezialiften für mittelalterliche Hym-
nologie werden die Unterfuchungen Dreves' wertvoll fein.

Marburg. E. Chr. A che Iis.

Calpari, Prof. Dr. Walter, Die gefchichtliche Grundlage des
gegenwärtigen Evangelilchen Gemeindelebens, aus den

Quellen im Abriß dargeftellt. Zweite, umgearbeitete
Ausgabe. Leipzig, A. Deichert, Nachf. 1908. (V,
323 S.) gr. 8» M. 5.40

Die erfte Ausgabe diefes Buches erfchien 1894 in
einem Umfange von 146 Seiten. Mehr als doppelt fo
umfangreich ift die gegenwärtige zweite Ausgabe, und
der wiffenfehaftliche Wert der zweiten fleht in demfelben
Verhältnis zur erften Ausgabe. Die Abficht des Verfaffers
geht dahin, die Faktoren des heutigen evangeli-
fchen Gemeindelebens in den einzelnen Teilen des Ge-
meindegottesdienfles, der Taufe, des Abendmahls, der