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Ausgabe:

1908 Nr. 24

Spalte:

676-678

Autor/Hrsg.:

Gregory, Caspar René

Titel/Untertitel:

Canon and Text of the New Testament 1908

Rezensent:

Bousset, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 24.

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zeigt m. E. im Lukanifchen Bericht vom Abendmahl ;
die altfyrifche Überfetzung ihre Abhängigkeit von D
vet. lat. Hier fehlen bekanntlich in D vet. lat. die Verfe
19b. 20. (Letzte Worte beim Brot und Ein fetzung des
Kelches). Die Hdfchrn. b e haben infolgedeffen die übrig
bleibenden Verfe in der Reihenfolge 19a 17. 18 (Brod
vor dem erften ftehen gebliebenen Kelch), syrc fügt 19b
wieder ein und bietet 19. 17. 18. syrs fügt in diefen Zu-
fammenhang auch den V. 20 wieder ein und bietet 19
20a 17 20b 18. Ich meine, die Entwicklung der ver- j
fchiedenen Texte aus einander i(t hier abfolut durchfichtig
. v. S. fucht allerdings den merkwürdigen fyrifchen j
Text aus Tatian abzuleiten. Aber Tatians Text ift hier 1
eine Sehr unfichere Größe, und nach dem wenigen, was
wir von ihm wiffen, fehe ich nicht ein, wie man diefe
Vermutung erweifen will. Es wird dabei bleiben müffen,
daß die altfyrifche Überfetzung hier bereits von einer
fekundären AusgeSaltung des #-Textes abhängig ift. —
Endlich hat Burkitt (II 262ff.) die fehr plaufible Vermutung
aufgeftellt, daß die berühmte Lesart in syrs zu
Mt. 1, 16 (Jofeph, dem die Jungfrau Maria verlobt war,
erzeugte den Jefus) aus einem Mißverftändnis der durch J
vet. lat. und Ferrargruppe vertretenen ebenfalls bereits
fekundären Lesart hervorgegangen fei ['[coorjrp] <p fivrj-
Otevdelöa stagO-evoq Magidu, syevvnöev rbv 'frjaovv. —
Diefe wenigen Fälle wiegen mir noch immer fchwerer
als die vielen Dutzenden von Möglichkeiten, die v. S. bei
feiner Beweisführung — meiftens handelt es fich dort um
Quisquilien des Textes — aufgehäuft hat. Und fo möchte
ich bei der Behauptung ftehen bleiben, daß zwifchen vet.
lat. und altfyiifcher Überfetzung nicht durch Tatian vermittelte
und erklärte enge Beziehungen obwalten, daß
alfo die Annahme eines weit verbreiteten Western Text
berechtigt war.

4) Auch die Aufstellungen über Beeinfluffung der
Kirchenväter wie Clemens, Irenäus, Hippolyt durch Tatian
fcheint mir durch v. S. nicht zweifellos bewiefen zu fein.
Ich greife die Ausführungen v. S. über Clemens heraus.
Nach v. S.s eigner Angabe (S. 1600) flehen den 39 Lesarten
, in denen eine Berührung zwifchen Clemens und
Tatian nachgewiefen werden kann, 193 gegenüber, bei
denen das nicht der Fall ift. Von diefen 193 fcheidet S.
allerdings noch 53 aus, bei denen wegen der hier vorliegenden
Übereinstimmung mit 65 vet. lat. syrcs die
urfprüngliche Herkunft aus Tatian wahrfcheinlich und nur
bei der gegenwärtigen Überlieferung feines Textes nicht
erweisbar fei. Allein, was es mit der Herkunft der Lesarten
von 65 vet. lat. aus Tatian für eine Bewandtnis
habe, haben wir bereits gefehen. Unficheres wird hier
wieder und wieder durch Unficheres geSützt. Es bleibt
alfo ein nicht fehr beträchtlicher Prozentfatz tatfächhch
geineinfamer Lesarten. Und unter diefen find die meiden
Geringfügigkeiten im Text, bei andern handelt es fich
um Harmonifierungen der Evangelien, bei denen die Berührung
zufällig fein kann, andere Lesarten find wieder
in weiterem Umkreife bezeugt (S. 1598). Wir Soßen hier
überhaupt auf einen Mangel der von itoden'fchen Beweis-
fuhrungen, v. S. Seilt eben alle Berührungen, wichtige und
unwichtige, fragliche und Schere einfach neben einander.
Die Varianten werden gezählt und nicht gewogen. Oft
haben wir eine Addition von lauter Nullen, und das
eigentlich Beweifende verfchwindet in der Maffe.

Dennoch fcheint mir v. S. mit dem Schluß feiner
Forfchungen nicht auf ganz verkehrtem Wege zu lein.
Daß Tatian von entfcheidendem Einfluß auf die Geftaltung
der altfyrifchen Überfetzung war, fcheint auch mir wahrfcheinlich
zu fein. v. S.s Aufteilungen verdienen hier eine
ernSliche Erwägung auch für den, dem die einfache Formel
für diefe Überfetzung: ,Tatian + J-H-K' nicht genügt.
Daß die antiochenifche (Lucian-) Rezenfion auch noch
teilweife unter dem Einfluß der Evangelienharmonie ge-
Sanden, fcheint mir nicht ganz unmöglich zu fein. Und
auch das wird richtig fein, daß wir in der Tat bei dem

Verfuch, das Rätfei des Western Text zu löfen, Schließlich
auf die Geflalt Tatians Soßen. Allerdings in erSer
Linie auf ihn felbS, nicht auf feine Evangelienharmonie.
Es fcheint in der Tat wahrfcheinlich zu fein (vgl. Th. Zahn,
Gefch. d. Kanons I 383ff.), daß Tatian dem fyrifchen
Orient von Rom her den Text des neuen TeSaments
vermittelt hat, daß die feltfame Erfcheinung der vielfachen
Übereir.ftimmung des Textes des neuen Ttftarnents im
fyrifchen OSen und lateinifchen WeSen auf die Wirkfam-
keit diefes einen Mannes und ihre Nachwirkung zurückzuführen
iff. Das gilt dann nicht nur für die Evangelien,
fondern auch für die Apgfch. und die Paulinen. Und
nicht nur die Evangelienharmonie des Tatian hat weitergewirkt
, fondern auch die griechifchen Evangelienhand-
fchriften, auf die Tatian den Text feiner Harmonie gebaut
hat. IS aber Tatian fo nur der Mittelsmann zwifchen
Rom und dem OSen gewefen, fo bleibt noch immer die
Frage zu löfen: was haben wir von der Art derEntSehung
und dem Wert des römifchen Textes zu halten. Diefe
Frage hat auch v. Soden noch nicht gelöS. Es Seht
aber zu hoffen, daß fein Werk dem Forfchungseifer auf
diefem Gebiet erneuten AnSoß geben wird.

Göttingen. Bouffet.

Gregory, Caspar Rene, Canon and Text of the New Testament.

(International Theological Library.) Edinburgh, T. &
T. Clark 1907. (V, 539 p.) gr. 8° s. 12 —

Die Darftellung der Gefchichte des Kanons und des
Textes, die Gregory in diefem Werk bietet, iff von ihm
als eine mehr populäre gedacht. Das zeigt fich vor allem
darin, daß fämtliche Zitate englifch geboten werden,
daß die DarSellung einfach thetifch ohne Auseinander-
fetzung mit entgegensehenden Meinungen verläuft, daß
endlich Anmerkungen ganz oder faS ganz fehlen. Man
iff aber andererfeits bei der Fülle des von Gregory beigebrachten
Materials — namenllich auf dem Gebiet der
Kanonsgefchichte —■ geneigt, zu vergeffen, daß der Ver-
faffer ein populäres Buch Schreiben will. We nn das Buch
Gregorys wirklich zahlreiche Lefer in feiner Heimat findet,
welche die Geduld haben, fich durch diefe Fülle von
Zitaten und Einzelheiten hindurchzufinden, fo würde das
beweifen, daß das theologifche Intereffe dort bei weitem
noch größer iS, als bei uns. Und es wäre auch ein Ver-
dienS Gregorys. Denn feine DarSellung iS trotz der vielen
gehäuften Einzelheiten gewandt und feffelnd.

Freilich — in Deutfchland würde man gerade eine
folche populäre DarSellung fich doch etwas anders
wünfehen, als Gregory fie geliefert hat. Wir würden
namentlich bei der Kanonsgefchichte etwas weniger Stoff
und ein deutlicheres Markieren und Heraustreten-Laffen
der Grundlinien wünfehen. Der Verfaffer hat eine ganz
richtige VorSellung von den Fragen und Problemen einer
Kanonsgefchichte (vgl. den Abfchnitt Wliat we seek p.
36—42). Aber leider werden die hier entworfenen Grundlinien
der DarSellung nicht durchgeführt. Was wir bei
Gregory wirklich finden, das iS eine TeSimonienfammlung
in dem Stil, in welchem namentlich eine nun veraltete
englifche Gelehrfamkeit fo großes geleiSet hat. Kirchenvater
für Kirchenvater wird der Zeit nach durchgenommen
und alles zufammengetragen, was wir an Zeugniffen für
das neue TeSament bei ihm finden. Aber was wir fuchen:
eine Entwicklungsgefchichte des neuen TeSaments, finden
wir nicht. Man beachte nur, um einen Punkt herauszugreifen
, wie vollSändig der Verfaffer an dem fo oft behandelten
Problem der pofitiven Bedeutung Marcions für
den Kanon des neuen TeSaments vorübergeht. SelbS
wenn er die weitverbreiteten Anfchauungen deutfeher
Gelehrter an diefem Punkt nicht teilt, fo hätten fie doch
erwähnt werden müffen. Auch der Laie will doch nicht
bloß Stoff, fondern Einführung in die wirklichen Probleme
der Wiffenfchaft.