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Ausgabe:

1908

Spalte:

591-595

Autor/Hrsg.:

Dunkmann, Karl

Titel/Untertitel:

Geschichte des Christentums als Religion der Versöhnung und Erlösung. I. Band, 1. Teil: Prolegomena. 2. Teil: Die Entstehung des Altkatholizismus 1908

Rezensent:

Scheel, Otto

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 21.

592

Dun kmann,Lic. Karl, Gelchichte des Chriftentums als Religion
der VerFöhnung und ErlöFung. I. Band, 1. Teil: Prole-
gomena. 2. Teil: Die Entstehung des Altkatholizi?-
mus. Leipzig, Dieterichfche Verlagsbuchhandlung 1907.
(IX, 184 u. XII, 302 S.) gr. 8° M. 8.80

Dunkmann's Buch eröffnet weite Perfpektiven und
fleckt fich ein hohes Ziel. Gilt es doch, die gegenwärtige
dogmengefchichtliche Wiffenfchaft, wie fie infonderheit
durch Forfcher wie Harnack, Loofs und Seeberg vertreten
wird, von ihrer falfchen, zur Selbftauflöfung führenden
Bahn auf den richtigen Weg zurückzuleiten. Es Ift Dunkmann
's Überzeugung, daß die dogmengefchichtliche For-
fchung auf einen toten Punkt angekommen ift. Die
ganze von Ritfehl bis zur Gegenwart reichende Entwicklungslinie
der dogmengefchichtlichen Forfchung ift:
von Haus aus zur theologifchen Unfruchtbarkeit verurteilt.
Denn Ritfehl trug in feiner dogmengefchichtlichen Forfchung
den kulturgefchichtlichen und zeitgefchichtlichen
Abhängigkeiten übermäßig Rechnung, und die gefchicht-
liche Entwicklung konnte er nur als Degeneration begreifen.
Ihren Höhepunkt findet diefe Betrachtung in Harnack's
Dogmengefchichte, die fich zu ihrem Objekt, der Theologie,
rein negierend verhält und darum unfruchtbar bleibt. Die
Konfequenz diefer Methode hat die religiönsgefchichtliche
Forfchung gezogen, indem fie die Selbständigkeit der
christlichen Religion und Offenbarung aufhob und die
Einfpannung in die allgemeine Kulturgefchichte vollzog.
Dunkmann will zunächft zu Baur zurücklenken, der fich
pofitiv zu feinem Objekt verhielt. Freilich räumt er ein,
daß die von Hegel bestimmte Gefchichtsbetrachtung am
Verlauf der Gefchichte felbft fcheitere; aber das von
Baur erftrebte Ziel müffe wieder aufgenommen werden,
nämlich ,ein folches Verständnis der Gefchichte des
Chriftentums zu gewinnen, welches dasfelbe von einer
inneren religiöfen Einheit aus zu begreifen Sucht und
ein pofitives Verhältnis zu feiner Entwicklung erftrebt'
(I 16). Die Gefchichte des Chriftentums muß wefentlich
aus ihm felbft und feinem innerften Wefen allein begriffen
werden. Einer konstruktiven Vergewaltigung der
Gefchichte will Dunkmann allerdings nicht das Wort
reden. Die Gefchichte felbft foll den Nachweis erbringen,
daß ,ihr Umfchwung und wefentlicher Verlauf nur aus
Kräften erklärt werden kann, die im Schöße diefer Religion
felbft wurzeln' (I 17). Es gilt alfo zu einer neuen pofi-
tiven theologifchen Gefchichtsdarftellung des Chriftentums
zu kommen. Die Gefichtspunkte einer folchen Darstellung
entwickelt Dunkmann im erften Teil des erften Bandes,
den Prolegomena, die die vorläufige Deduktion bieten,
da die Vorausfetzung der grundlegenden Gefchichtsbetrachtung
die fyftematifchen Grundbegriffe find. So hofft
Dunkmann, die richtige Erkenntnis Baur's vertiefend,
aber feinen Irrtum vermeidend, eine gänzlich neue Betrachtung
geben zu können, die der bisherigen durch
ihre theologifche Fruchtbarkeit und ihren pofitiven Charakter
überlegen ift. Ift die fog. hiftorifche Methode -—
Dunkmann denkt hier an die verfchiedenen Richtungen
der modernen Gefchichtswiffenfchaft — nichts als ein
Chaos heterogenfter Tendenzen und nur einig in der
Ablehnung der kirchlich-dualiftifchen Gefchichtsauffaffung,
fo will Dunkmann eine voluntariftifche Methode befolgen,
d. h. eine folche, die zwifchen der deduktiven und induktiven
in der Mitte verläuft, die weder die Gefchichte
konstruiert, noch fich ausfchließlich von ihr leiten läßt,
fondern an der voluntariftifchen Größe der Religion den
Sicheren Ariadnefaden hat und fowohl die Übervernünftig-
keit der Religion wie die Vernünftigkeit in Erfcheinung
und Verlauf zu ihrem Recht kommen läßt. Als Gesichtspunkte
einer pofitiven Gefchichtsdarftellung dürfen aber
nur fpezififch christliche, oder wie Dunkmann es auch
nennt, dogmatifche in Betracht gezogen werden (II 7).
Sie werden gewonnen durch die Beobachtung, daß die
christliche Glaubenserfahrung in ein immanentes und

transzendentes Moment fich Spaltet. Das erftere, das an
der Sünde und Gnade orientiert ift, geht voran als Grundlage
, hat aber neben fich die jenfeitig gerichtete Hoffnung.
Die chriftliche Glaubenserfahrung enthält alfo ein Doppelerlebnis
, das Erlebnis der Verföhnung und Erlöfung;
und in der Spannung diefes Doppelerlebniffes ift das
Verständnis des Chriftentums gegeben, und zugleich die
Erklärung dafür, daß eigentlich nur das Christentum eine
Gefchichte hat. Die Aufgabe des Historikers ift es, diefe
| als grundlegend erkannten Begriffe in ihrer geschichtlichen
Beziehung zueinander darzustellen und in diefer Darftellung
den Nachweis der Selbständigkeit und Gefetzmäßigkeit der
christlichen Religion in der Gefchichte zu erbringen, zugleich
| bei aller Veränderung, die in der gefchichtlichen Entwicklung
und der Bildung der christlichen Konfeffionen
konftatiert werden kann, doch die Kontinuität der,Kirche',
die wenn auch modifizierte Wahrung des genuin christlichen
Befitzes nachzuweifen. Der von den richtigen Grundbegriffen
ausgehende Historiker zeigt hiftorifch, wo fich
die ,Kirche', die Fortfetzung der wahren Gemeinde Chrifti
findet. Die Selbständigkeit gegenüber der Profangefchichte,
die pofitive Anerkennung der Kirche gegenüber den
Sekten und Härenen und das Gefetz der konfeffionellen
Spaltung, die nicht zufälligen F'aktoren ihre Entstehung
verdankt, wird auf diefem Wege erwiefen. Die prote-
ftantifche Gefchichtfchreibung, die notwendig eine pofitive
im eigentlichen Sinn ift, konftatiert einen kontinuierlichen
i Zufammenhang von Paulus bis Luther unter Ausfchluß
1 der Härefien des Altertums.

Indem D. nach diefer ,voluntariftifchen' Methode und
1 in Ständiger Anlehnung an die vorangestellten fyftematifchen
Grundbegriffe der Verföhnung und Erlöfung eine
pofitive Gefchichte des Chriftentums als Religion, nicht
i eine Dogmengefchichte im eigentlichen Sinn zu bitten
i unternimmt, um eben dadurch die ohnehin auf ein totes
Gleis geratene Dogmengefchichte zu überwinden, meint
er eine gänzlich neue Betrachtung zu üben. Nun könnte
j man ihm freilich entgegenhalten, daß gerade Ritfehl,
j den D. für das Unheil der gegenwärtigen dogmenge-
I fchichtlichen Forfchung verantwortlich macht, das Christentum
als eine Größe sui generis verstanden wiffen wollte,
und daß auch Harnack nicht der Meinung ift, man müffe
! die Eigentümlichkeit und Selbständigkeit des Chriften-
! tums preisgeben, wenn man fich hiftorifch mit feiner
j Entwicklung befaßt. Wenn D. von der Vorausfetzung
! ausgeht, daß die chriftliche Religion als eine felbftändige
| Größe von beftimmter Eigentümlichkeit und fcharfer
j Unterfchiedenheit gegen andere Religionen in die Ge-
1 Schichte eingetreten ift, fo dürfte es ihm fchwer werden,
1 hier einen prinzipiellen Gegenlatz zwifchen feiner Betrachtung
und derjenigen feiner Gegner aufzuweifen. Anders
gestaltet fich allerdings die Lage, wenn die Folgerung,
die D. aus feiner Vorausfetzung zieht, ins Auge gefaßt
wird. Er hält es für felbftverftändlich, daß die vorausgefetzte
Eigenart des Chriftentums auch in feiner ganzen
Gefchichte fo zum Ausdruck kommen müffe, daß diefe
Gefchichte wefentlich aus feiner innerften Struktur begriffen
werden kann.

Aber wie hat D. feine ,voluntariftifche' Methode
durchgeführt? Er will die Gefchichte des Chriftentums
aus ihm felbft verliehen, vermag aber doch nicht jeden
Einfluß der Profangefchichte und der Kulturumgebung
auf das Christentum zu leugnen. ,Bis zu gewiffen Grenzen'
hat fich das Christentum der Welt akkomodiert. Damit
Stünde denn D. vor der Fragestellung, die er grade feinen
Gegnern zum Vorwurf macht. Aber die Energie der
Fragestellung wird fofort abgefchwächt durch die Erklärung
, daß diefe Einflüffe ,niemals' die Subftanz der
Religion angreifen werden, fondern .zunächst' nur die
Peripherie beeinfluffen werden. Aber eben die Gegenüberstellung
des auf die .Subftanz' bezogenen ,niemals'
und des auf die Peripherie bezogenen .zunächst' zeigt,
daß D. das letzte Wort noch nicht gesprochen haben