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Ausgabe:

1908

Spalte:

529-531

Autor/Hrsg.:

Heyn, Immanuel

Titel/Untertitel:

Jesus im Lichte moderner Theologie 1908

Rezensent:

Wernle, Paul

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Theologische Literaturzeitung.

Herauso-eo-eben von D. Ad. Harnack, Prof in Berlin, und D. E. Schürer, Prof. in Göttingen.

Jährlich 26 Nrn. Verlag: J. C. HinrichsTche Buchhandlung, Leipzig. Jährlich 18 Mark..

Nr. 19. I2- September 1908. 33. Jahrgang.

Heyn, Jefus im Lichte moderner Theologie
(Wende).

Grigoire de Nysse, Discours catechetiqucs.
Text grec, traduction, introd. et index par L.
Meridier (Dräfeke).

Butler, Authorship of the Dialogus de Vita
Chrysostomi (Bonwetfch).

Diekamp, Doctrina patrum de incarnatione
verbi (Bonwetfch).

Jahrbuch des Vereins für die evangelifche Kir-
chengefchichte Weftfalens, 9. und 10. Jahrgang
(Cohrs).

Schiele, Die Reformation des Klofters Schlüchtern
(Köhler).

Bornhaufen, Die Ethik Pascals (Wernle).

Schaarfchmidt, Die Religion, Einführung in
ihre Entwickelungsgefchichte (E. W. Mayer).

Spinoza, Theologifch politifcher Traktat, übertragen
und eingeleitet von Gebhardt [Philo-
fophifche Bibliothek Bd. 93] (E. W. Mayer).

Cotlarciuc, Stifterrecht und Kirchenpatronat
im FüTftentum Moldau und in der Bukowina
(Frantz).

Heyn, Pfr. Immanuel, Jefus im Lichte moderner Theologie.

Greifswald, L. Bamberg 1907. (VII, 147 S.) gr. 8°

M. 2.20

Der durch feine Predigten und feine daran fich an-
fchließenden Kämpfe mit der Orthodoxie bekannte Greifs-
walder Pfarrer bietet hier eine Popularifierung der neuern
Leben-Jefuforfchung, welche die Vorzüge, aber für mein
Gefühl in hohem Grade auch die Mängel folcher Popularifierung
aufweift. Sehr unberechtigt erfcheint mir
gleich das Wort .modern' auf dem Titelblatt, denn der
hier uns vorgeführte Jefus ift einfach der alte liberale
Jefus, der wunderlofe, der Kämpfer gegen Menfchen-
fatzungen und Buchftabenreligion, dem freilich noch die
rechte deutfche Staatsbegeifterung und die Hochfehätzung
des Kapitals gefehlt hat, der aber auch fo die Waffen
zum Kampf der Liberalen gegen das orthodoxe Kirchen-

unterftützen, daß Jefus nicht leiblich auferftanden ift —
eine Ungeheuerlichkeit, die nur wieder beweift, wie die
Tendenz diefe Wiffenfchaft beherrfcht.

Nun aber zu den kritifchen Bedenken die religiöfen.
Diefem Jefusbild fehlt für mein Gefühl jeglicher Reiz eines
intimen perfönlichen Verhältniffes trotz aller Jefusbegeifte-
rung. Wir haben uns längft daran gewöhnt, daß jeder
Jefusdarfteller bei aller kritifchen Vorficht uns das gibt, was
er nach feiner befondern Gabe an Jefus heraushört und
fieht: diefes individuelle religiöfe Senforium vermag einer
nicht gelehrten Darfteilung einen höhern Wert zu verleihen
als mancher gelehrten. Wenn ich es nur hier zu
entdecken vermöchte! Statt deffen ein lautes, oft auch
falfches Pathos, die Phrafeologie des Liberalismus vulgaris
mit den Effekt hafchenden Bildern: Blitze fprühen aus
den Augen, Donner des Gerichts rollen, feine ganze
Seele fteht in Flammen, eine ,flammende gewittergroße

tum hergibt, fobald man ihn mit den richtigen Augen ; Gertalt' etc.; fein Evangelium , ein Jungbrunnen für alternde
lieft. Dann fehe ich gar nichts Modernes obrehon ich Kraft, der Felfenquell für müde Seelen, das Stahlbad

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begreife, daß, folange der alte Kampf befteht, Jefus wohl
auch immer wieder fo betrachtet werden wird.

Selbftverffändlich ruht diefe Arbeit auf dem Studium
der wiffenfehaftlichen Fachliteratur, und doch verraten
fich überall die handgreiflich praktifchen Tendenzen
unferes Kämpfers. Nachdem er S. 10 den fyrifchen

für gelähmte Willen'. Warum kann man von Jefus nicht
fchlicht, perfönlich reden, wenn man von ihm ergriffen
ift? Und immer wieder der Befreier vom Zwang menfeh-
licher Satzung und Buchftabenknechtfchaft, der Feind
,der Wölfe von Schriftgelehrten, die dem Volk das Herzblut
aus der Seele fogen". Man fieht bei jeder Zeile

Sinaiticus richtig ungefähr ins Jahr 400 gefetzt hat, braucht | diefe böfen Orthodoxen, die unferm Autor fein Leben

nur das Feuer des Kampfs gegen die Jungfrauengeburt
ihn zu erfaffen, flugs ilt fyr fin eine Handfchrift des
2. Jahrh., die ältefte, die wir kennen, 200 Jahre älter, als
die befien Codices (S. 70). Etwas Bedenklicheres als
feine Scheidung des Urmarkus von Markus habe ich
noch nie gelefen; Markus ift fo fehr der genaue Dol-
metfeh und Stenograph des Petrus, daß man nur zu
fragen hat: hat Petrus das erzählt? fo fcheiden fich
Markus und Bearbeiter, wobei natürlich alles uns Modernen
Unangenehme im Markus, das grob Legendarifche,
die Naturwunder, die Verftockungstheorie auch fchon von
Petrus . .. nicht geglaubt? nein aber nicht erzählt wurde.
Das praktifche Bedürfnis des Petrus wird S. 36 ganz
genau nach dem Bedürfnis des Verfaffers und im Gegen-
fatz zu dem uns erhaltenen, offenbar fehr unpraktifchen
Markus definiert. Das hier feftzulegen empfiehlt fich
darum, weil wir hier ein Mufterbeifpiel liberaler Jefus-
forfchung haben, und die Popularifierung einfach offenbart
, was fo viele Forfcher, ihnen felbft kaum bewußt,
bewegt, ich denke an faßt alle neuern Leben-Jcfu. Bei
der Gottesreichshoffnung Jefu wird die moderne efchato-
logifche Auffaffung friedlich durch die altliberale Ver-
geiltigung ergänzt, ohne einen Ausgleichsverfuch, ja ohne
das rechte Gefühl diefer Disharmonie. Und dann Jefus
als der ,Sittenlehrer von Nazareth' im Stil der alten Aufklärung
; kann man Jefu Beruf ungefchichtlicher bezeichnen ?
Zuletzt muß der Apoftel Paulus die Thefe des Verfaffers

verbittern wollen, und die er — das ift mein fefter Glaube
— mit diefem Jefus doch nicht aus dem Feld fchlagen
kann. Begeifterung für Jefus den Sittenlehrer — nun, die
alten Humaniften und Aufklärer hatten fie reichlich, aber
je länger ich fie ftudiere, defto mehr fcheint mir, weniger
Begeifterung wäre das erfte Anzeichen eines tiefern Ver-
ftändniffes gewefen. Man bekommt aus diefem Buch gar
nicht den Eindruck, daß die Vertiefung in Jefus für uns
etwas Richtendes und Vernichtendes hat, nicht nur für die
orthodoxen Gegner, fondern für jeden von uns perfönlich.
Und felbft von diefem Perfönlichen abgefehen — wie
rafch wird der Verfaffer fertig mit den heute wie bei
ihrem Erfcheinen revolutionären ethifchen Forderungen
Jefu: dem Verbot des Schwurs, der Ehefcheidung und
der Vergeltung, der Ablehnung des Gewaltftaats und des
Mammons für die Jünger! Es ift die alte liberale Pofition,
die mit Vergnügen das Dogma und die Wunder abwirft
und gar nicht merkt, daß hernach auf dem Boden der
Ethik erft die fchwerrten Sorgen gerade für fie beginnen.
,Der Knabe, der von einem andern ehrenrührig befchimpft
wird, er gehe auch heute dem Dreiften mit der Fauft
unter die Augen .. der Mann, der unterwegs angefallen
wird, wehre fich feines Lebens mit fo wuchtigen Streichen
er kann'. Nun, das ift deutlich und wahrhaftig gefprochen,
aber radikal weltlich, heidnifch und berechtigt zu etwas
weniger Jefusbegeifterung. Noch feltfamer nimmt fich
in unferer Zeit, die allmählich wieder einzufehen beginnt,

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