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Ausgabe:

1908 Nr. 18

Spalte:

516-518

Autor/Hrsg.:

Friedrich, Julius

Titel/Untertitel:

Die Entstehung der Reformatio ecclesiarum Hassiae von 1526 1908

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 18.

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der drei Schutzfürflen der Reichstädt war, während die
beiden andern, der Kurfürst vonSachfen und der Landgraf
von Heffen, fein Vorgehen nie als berechtigt anerkannten.
Allerdings hatte Georg den faft ausnahmslos katholifchen
Rat, jene 96 oder nach anderer Zählung 120 ,freie' Männer,
(Patrizier) für fich, in deren Händen das Stadtregiment
ruhte. Sie faßen nach dem kläglichen Ausgang Münzers
mit Hilfe der drei Fürften wieder feft im Sattel. Diefe
Oligarchie fah in der katholifchen Kirche ihren feften Halt,
fie bot auch ihren Söhnen und Töchtern in kirchlifchen
Ämtern und Klöftern eine angenehme Verforgung. Die
beiderfeitigen Intereffen waren hier wie anderwärts aufs
innigfte mit einander verwachfen. Knieb nimmt auch an,
daß die totale Sinnesänderung Münzers angefichts des
Todes ficherlich manchen durch ihn verführten Bürger
auf andere Gedanken gebracht habe (S. II.) Noch deutlicher
ift die Reftauration die Wirkung des Schreckens
über die Niederlage und die Befetzung der Stadt, über
welche die Rache der Fürften und des Adels erging.

Aber hatte der reftaurierte Katholizismus an Lebensfähigkeit
gewonnen? War der Proteftantismus wirklich
ganz unterdrückt und durch andere Mittel als durch den
Druck der Regierungsgewalt befeitigt? Für die erfte
Frage ift zu beachten, wie Knieb betont, daß der Rat
,für wiffenfchaftlich gebildete, fromme, fittenreine Prediger
borgte' (S. 15). Aber feine Bemühungen waren vielfach
vergeblich. Immer wieder hören wir von Geiftlichen
minderer Qualität. Z. B. S. 17: Der Prior und etliche
Patres des Predigerordens führten ein fo unziemliches
und dazu unehrliches Leben, daß der Rat 1532 den
Provinzial bitten mußte, einen neuen Prior zu ernennen.
Die Pfarrgeiftlichkeit, Priefter des Deutfehordens, erregte
viel Anftoß. Man höite 1534 die ,Klage, daß fie ihren
Dienft fchlecht verfehen und fich um der Menfchen
Seelen und Seligkeit nicht kümmerten' (S. 17). Für den
tiefen Stand der Gefinnung innerhalb der streng katholifchen
Kreife, welche unter dem geistigen Einfluß des
von Knieb gekennzeichneten Klerus Banden, find die
Äußerungen des trunkenen Ratsherrn Wittich bei einem
Mahl im Haufe des lutherifchen Predigers Boetius fehr
bezeichnend (S. 47). Doch damit ift fchon dem Gang
der Ereigniffe vorgegriffen.

Der Proteftantismus war in Mühlhaufen trotz Georg
und Ratsherrn nicht ausgeftorben. Dafür fpricht die
Angft, die aus dem Schreiben des Rats an den Bifchof
vom Würzburg vom 22. Mai 1528 fpricht. Er fagt, wenn
ein Prediger kommen würde, der beim Volk nicht beliebt
fei, fo würde diefes noch fchlimmer wie zuvor. Das
heißt doch im Munde des Rats, man muß das Erftarken
des Proteftantismus in noch viel höherem Grad fürchten
als zuvor. Knieb fleht fich auch genötigt, zu geftehen,
daß fleh nach und nach wieder eine lutherifch geflnnte
Partei in der Stadt gebildet hatte (S. 35). Ja, wir erfahren
von ihm fogar, daß es nicht fowohl die Religion, als die
Politik war, was den Rat damals beherrfchte. Denn er
fchreibt S. 35 ,Am meiften wurde der Rat durch die
Rücksichtnahme auf den Kaifer und die katholifchen
Reichsftände in feiner Haltung beftärkl'.

Landgraf Philipp hatte ganz recht, wenn er dem Rat
vorwarf: Ihr macht es, wie es Herzog Georg gefällt
(S. 30). Von einer Rückficht auf die evangelifch geflnnte
Bürgerfchaft, von einer ihnen gewährten Freiheit war
keine Rede.

Es kann nicht überrafchen, daß die beiden andern
tvangelifchen Schutzfürflen nach Herzog Georgs Tod
den Stiel umdrehten und dem Proteftantismus zum Sieg
verhalfen. Ausdrücklich muß Knieb den Eifer der
evangelifchen Prediger unter der Führung des zeitweilig
geliehenen Julius Menius anerkennen (S. 46). Er flicht
ja auch gar zu fehr von dem von Knieb lelbft gekennzeichneten
Gebühren der katholifchen Geiftlichkeit ab.
Als Menius wieder heimkehrte, gab ihm der Rat das
Zeugnis mit, daß man ihn gerne die Zeit feines Lebens

im Dienft behalten hätte (S. 46). Diefes Zeugnis paßt
nicht ganz in den Rahmen der Gefchichtsauffaffung
Kniebs, der deswegen meint, diefes Zeugnis fei fchwerlich
aufrichtig gemeint gewefen. Aber nicht beftreiten kann
er, daß die Reformation neue sittliche Ideale fchuf (vgl.
S. 44). Noch einmal fiegte die Reaktion, die Schlacht
von Mühlberg und das Interim machte der evangelifchen
Kirche in Muhlhaufen für einige Jahre ein Ende. Aber
,ein exemplarifcher, wiffenfchaftlich gebildeter Klerus
war für die Stadt jetzt nötiger als je' (S. 58) und er war
nicht zu befchaffen. Die Stadt war, wie der Rat 26. Sept.
1552 fchrieb ,mit tauglichen Prädikanten etwas verfäumel'
(S. 57). ,Die Priefter gaben vielfach Ärgernis' (S. 63). Der
Rat fah fchließlich, wie Knieb gefleht, bei der Anstellung
der Priefter über die .Qualifikation' derfelben ganz hinweg
(S. 83). Wahrlich, ein folcher Katholizismus war
reif zum Untergang. Es ift hier nicht der Raum, das
letzte Ende noch zu verfolgen und zu zeigen, wie der
katholifchen Partei genau mit dem Maß gemeffen wurde,
mit dem fie den Evangelifchen gemeffen hatte.

Von unferem heutigen Standpunkt aus beurteilen wir
den Gang der Dinge und das Verhalten der Parteien
anders als jene Zeit, aber das ift kein Zweifel, die Beleuchtung
, in welche Knieb die katholifche Kirche in
Mühlhaufen 1525—1629 gerückt hat, ift für diefe viel
ungünstiger, als er geahnt hat. Man beachte nur die
sittlichen Schäden, welche nach der zweiten Reftauration
des Katholizismus von den Reformatoren zu bekämpfen
waren (S. 75). Zu Tileflus wäre das Bild feiner Wirk-
famkeit in Eger Jahrbuch f. Gefch. des Protest, in Öfterreich
X 1, 189. XXI 43 fr. zu vergleichen.

Stuttgart. G. Boffert.

Friedrich, Landrichr. Dr. jur. Julius, Die Entitehung der
Reformatio ecclesiarum Hassiae von 1526. Eine kirchenrechtliche
Studie. Gießen, A. Töpelmann 1905. (III,
128 S.) gr. 8° M. 2.80

Die Entitehung der Reformatio ecclesiarum Hassiae
hat namentlich wegen der in ihr enthaltenen Feftfetzungtn
über die Gemeinde- und Kirchenorganifation, die die
Herstellung einer fichtbaren Gemeinde der Gläubigen

1 bezwecken, fchon wiederholt die Forfchung befchäftigt.

i Mirbt, der 19CO in feinem Artikel ,Homberger Synode'

| (Real-Encykl. VHP, S. 288 ff.) die damals vorliegenden
Refultate der Unterfuchung zufammenfaßt, fleht die ent-
fcheidende Anregung gerade für jene befonderen Ab-

j fchnitte in Gedanken von Luthers ,Deutfcher Meffe und
Ordnung Gottesdienstes', die in der Reformatio felbft
zitiert wird — aber fo, daß er ,die in der Reformatio
vollzogene Behandlung eines von Luther als möglich
gefetzten Ausnahmefalls als Regel und ihre Erhebung
zu einer grundlegenden Institution der Kirche nicht als

j organifche Weiterführung Lutherfcher Gedanken, fondern

i als eine Art von Verwendung erkennt, die unter dem
konkurrierenden Einfluß anderer Faktoren fich vollzogen
habe'. Julius Friedrich, der fchon früher die Reformatio
zum Gegenstand einer Differtation gemacht und fpeziell
die Frage ihrer Abhängigkeit von Lutherfchen Verfaffungs-
gedanken behandelt hatte (Luther und die Kirchenver-
faffung der Ref. eccl. Hass., Darmftadt 1894), hat in
unferer Schrift nun den Verfuch unternommen, die beider
Entitehung der Reformatio in Rechnung zu fetzenden
anderen Faktoren näher festzustellen.

Dabei kam es hauptfächlich darauf an, den Anteil
des ehemaligen Franziskaners Lambert von Avignon ab-

I zugrenzen, der jedenfalls für den größten Teil der Reformatio
noch immer als abfchließender Verfaffer zu
gelten hat.

Friedrich hat, die Frage zu fördern, einen äußtrft
glücklichen und bedeutfamen Fund gemacht. Es ift ihm
I gelungen, im Haupt- und Staatsarchiv zu Darmftadt in