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Ausgabe:

1908 Nr. 15

Spalte:

432-434

Autor/Hrsg.:

Steinbeck, Johannes

Titel/Untertitel:

Das göttliche Selbstbewußtsein Jesu nach dem Zeugnis der Synoptiker 1908

Rezensent:

Thieme, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 15.

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fprechen gegenwärtig id, fo find die daran teilnehmenden
im heiligen Zudand. Die alte Sitte, vor dem Gebrauch
der heiligen Speife mit Rückficht auf die in Ausficht
flehende Gemeinfchaft mit der Gottheit zu faften, wird
auch geübt, wenn es fich nicht um den Genuß heiliger
Speife handelt, fondern wenn man in Gemeinfchaft mit
der Gottheit tritt und darum in den Zuftand der Heiligkeit
übergeht. In demfelben Maß, als der Gottesbegriff
tranfzendenter wurde, verlor das Fallen feine alte Bedeutung
, es lebte zwar als eine Gott wohlgefällige Handlung
fort, aber ohne rechten Inhalt, es wurde zu einer
rein mechanifchen Handlung, gegen die die Propheten
fich wandten. Eine höhere Bedeutung des Faltens wird
durch Jer. 14,12, Jef. 58, Zeh. 7,3 angebahnt. Denn
genau zugelehen wenden fich diele Propheten nicht gegen
das Faften überhaupt, fondern gegen den Geilt, in dem
es gefchah: durch ihn erhält das Faften, das Ausdruck
der Gefinnung ift, allein Wert und Beziehung zu Jahve:
Das ift die Bedeutung, die es in der zweiten jüdifchen
Periode hat. Diefe Verfchiebung in der Bedeutung kommt
auch in dem jetzt hervortretenden 1DÖ3 TitSS zum Ausdruck.
Die Kafteiung ift Mittel zur Erweckung der Gefinnung
und kann darum als Zeichen der Demütigung vor Gott
angefehen werden. Während man vor dem Exil faltete,
um das Unheil abzuwenden, diente es jetzt dazu, einem
Übel zuvorzukommen, es ift Kafteiung, die der Menfch
fich felbft auferlegt, um bei der Gottheit den Eindruck
hervorzurufen, daß man fich des Unrechts bewußt ift
und fich fchon geftraft hat, fo daß die Strafe durch die
Gottheit überflüffig ift. Allmählich gewinnt die Selbft-
kafteiung, die anfänglich lediglich abwehrenden Charakter
hat, auch pofitive Bedeutung. Diefe Bedeutung des
Fadens als Ausdruck der Gefinnung bleibt die gleiche
fowohl im gefetzlichen Judentum wie im alten Chriden-
tum. Zwei Gründe haben dazu beigetragen, daß das
Faden in der nachexilifchen Zeit därker geübt wurde
als in der vorexilifchen: 1) daß man jetzt das Faden in
pofitiver Abficht unternahm, um fich die Hilfe und den
Schutz der Gottheit zu fichern, 2) daß jetzt der Individualismus
herrfchend wurde: war einmal das Faften als
Ausdruck der Gefinnung und als Mittel die Gottheit zu
verföhnen gedacht, fo war es begreiflich, daß jetzt das
private Faden in ganz andrer Weife fich geltend machen
mußte als in der vorexilifchen Zeit, wo das Individuum
nur eine untergeordnete Rolle fpielte. Entfprechend der
doppelten Richtung im Judentum, der priefterlich-gefetz-
lichen und der prophetifchen entwickelt fich nun auch
das Faden nach zwei Seiten: jene legt den Nachdruck
auf die Handlung an fich, diefe auf die Gefinnung, deren
Ausdruck fie id. Während das Faden am Verföhnungs-
tag urfprünglich Ausdruck der Gefinnung id, wird ihm
im fpäteren Judentum fündentilgende Kraft zugefchrieben,
d. h. es id an und für fich ein verdiendliches Werk,
damit fällt das Judentum wieder auf den Standpunkt
der alten Zeit zurück. Es fühlte fich auch dabei völlig
befriedigt, im Unterfchied von der prophetifchen Richtung
, die eine höhere Auffaffung des Fadens anbahnte.
Diefe liegt in den verfchiedenen Motiven zum Faden,
die jetzt zur Geltung kommen: man fadet nicht mehr,
um Schutz und Segen der Gottheit zu gewinnen, fondern
zur Beförderung des inneren geidlichen Lebens und zur
Unterdützung des Gebets. Die prophetifche Richtung
findet ihre Fortfetzung in der Apokalyptik, die den Übergang
zum Chridentum bildet. Während das Judentum
das Faden zur Erreichung endlicher Ziele unternimmt,
und das Faden im Chridentum die Stärkung des inneren
Lebens zum Ziele hat, id es das Kennzeichen des Fadens
der Apokalyptiker, daß es die Ekdafe zur Folge hat:
man fadet, um Einficht und Kenntnis göttlicher Dinge
zu gewinnen. Unleugbar bedeht ein natürlicher Zufammen-
hang zwifchen langandauernden Faden und der Ekdafe,
und er id für die Gefchichte des Fadens von großer Bedeutung
. Der Verfaffer des Dan. id fich diefes Zu-

fammenhanges noch nicht bewußt, das id anders bei den
Verfaffern von IV Esra u. Baruch. Dazu kommt ein
Anderes. Je mehr fich die tranfzendente Gottheit dem
Bereich der nach Befriedigung verlangenden Juden entzog
, um fo mehr begann man die Stimme der Gottheit
im eigenen Innern zu vernehmen. Id die außerweltliche
Gottheit nicht imdande, das gottesdiendliche Bedürfnis
zu befriedigen, fo wird der Fromme erd durch die Erkenntnis
des Göttlichen im Menfchen dem Zweifel entrückt
, indem er einfehen lernt, daß der Lohn der Frömmigkeit
nicht in äußeren Gundbeweifen der Gottheit,
fondern im innerlichen Frieden zu fuchen id. Auch in
diefer Hinficht dehen die Apokalyptiker zwifchen den
Pfalmiden und dem Chridentum. Erd im Chridentum
wird die Erkenntnis des Göttlichen im Menfchlichen voll
gewürdigt, erd hier wird das Faden ein Unterdrücken
des Natürlichen im Menfchen zum Beden feines geidlichen
Lebens.

3) Id in der alten Zeit das Faden an fich eine wertvolle
Handlung, hat es im Judentum nur als Ausdruck
der Gefinnung Bedeutung, fo wird im Chridentum die
Gefinnung in den Vordergrund gedellt, fo daß der Fadenritus
im Prinzip feine Bedeutung verloren hat, deshalb
fieht man hier das Faden allmählich verfchwinden. Dadurch
, daß das Faden im Chridentum ausfchließlich der
Förderung des geidlichen Lebens dient, begreift es fich,
daß das Faden nicht mehr Enthaltung von aller Nahrung
id, fondern vielmehr Befchränkung in Gebrauch und
Enthaltung von bedimmten Speifen. So wird das Faden
allmählich zur Askefe, bezw. die Askefe tritt an die Stelle
des Fadens, id doch das alte Chridentum in feinem
Wefen asketifch. Jene eben herausgehobene Tatfache
ergibt fich einerfeits aus der Praxis der Chridenheit,
andrerfeits daraus, daß der Ausdruck für den Begriff
,Faden', um die Enthaltung anzudeuten, langfam ver-

1 fchwindet, fowie daraus, daß er einen viel weiteren, urfprünglich
ihm nicht zukommenden Inhalt gewinnt. Damit,
daß im Chridentum die Askefe zur Beförderung des
geidlichen Lebens an die Stelle des Fadens tritt, ift der
Fadenritus prinzipiell abgetan. Freilich erd im Protedan-

j tismus, in dem auch die Askefe ihre Bedeutung verloren
hat, verfchwindet das Faden als gottesdiendliche
Handlung.

Das id im wefentlichen das Refultat der Unter-
fuchungen Gr.s, die mit umfaffender Kenntnis der ein-
fchlagenden Literatur und mit Befonnenheit im Urteil
geführt find. Die klare Dardellung und die fachgemäße
Gruppierung des Stoffes verdienen befondere Anerkennung
. Sind die von ihm herausgedellten Refultate
auch keine völlig neuen, fo fehlte es uns doch bisher
an einer derartigen, das gefamte biblifche und fpätjüdifche
Material berückfichtigenden Dardellung, durch die das
Einzelne oft erd die richtige Beleuchtung empfängt.
Möchte Gr.s Arbeit auch in den Kreifen unferer deutfehen
Theologen viele Lefer finden.

Straßburg i/K. W. Nowack.

Steinbeck, Päd. Lic. th. Joh., Das göttliche Selbitbewußtlein

Jehl nach dem Zeugnis der Synoptiker. Eine Unter-
fuchung zur Chridologie. Leipzig, A. Deichert'fche
Verlagsbuchh. Nachf. 1908. (61 S.) gr. 8° M. 1.20

Wie neuedens befonders Kunze und Schäder verdacht
Verf., auch im fynoptifchen Bericht Jefu Bewußtfein
um feine wefentliche Gottheit nachzuweifen. In
feinen dort überlieferten Ausfagen foll folgende Chridologie
ihre Grundlage haben. Injefus, dem gott-menfeh-

I liehen Erlöfer, ward eine vom Vater ewig unterfchiedene,
aber mit ihm wefenseine geidige Perfönlichkeit Menfch.
Sie und den Vater darf man fich nicht fo getrennt und
unterfchieden voneinander denken wie menfehliche Per-

I fönen. Die Einheit Gottes foll durch die Unterfchieden-