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Ausgabe:

1908 Nr. 14

Spalte:

413-417

Autor/Hrsg.:

Barge, Hermann

Titel/Untertitel:

Andreas Bodenstein von Karlstadt. II: Teil: Karlstadt als Vorkämpfer des laienchristlichen Puritanismus 1908

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 14.

414

Kodices vorgelegt. Er hält ihn entgegen der Meinung
von Boretius, der den längeren Text in die Monumenta
Germaniae aufgenommen hatte, für den urfprünglichen
und hat diefe Annahme, wie mir fcheint, mit durchfchlagen-
den Gründen in den Studien und Mitteilungen aus dem
Benediktiner- und Zifterzienferorden 1907, S. 3—15 ausführlicher
begründet. So bietet diefer neue Band der
Consuctudincs, der alle Urkunden zur älteften Gefchichte
der Stiftung Benedikts von Nurfia in kritifch geficherten
Texten enthält, eine bequeme Zufammenftellung des
wertvollften Quellenmaterials Nur eins habe ich an der
Publikation auszufetzen, daß befonders in den Anmerkungen
der Druck nicht immer korrekt ift.

Heidelberg. Grützmacher.

Barge, Hermann, Andreas Bodenltein von Karlftadt. II. Teil:
Karlftadt als Vorkämpfer des laienchriftlichen Puri-
tanismus. Leipzig, F. Brandftetter 1905. (XI, 632 S.)
gr. 8° M. 12—; geb. M. 14 —

Wenn ich erft jetzt dazu komme, den II. Band des
Bargefchen Buches über Karlftadt anzuzeigen, fo findet
das feinen Grund nicht nur darin, daß ich bald, nachdem
das Buch in meine Hände gelangte, meinen Wohnort
und meine Stellung wechfeln und mein gegenwärtiges
Amt antreten mußte, das zu literarifcher Befchäftigung
nur wenig Zeit übrig läßt. Die Befprechung erforderte
auch ganz befondere Überlegung und Zurückhaltung.

Der Anfchauung, die man fich über Luther, fein
Werk und feine Perfönlichkeit, gebildet, wird durch Barge
gründlich widerfprochen; das hat ohnehin etwas Erregendes
, weil die Beurteilung Luthers nicht lediglich
hiftorifches Intereffe hat; es bekommt es aber in noch
höherem Grade, wenn das neue Urteil offenfichtliche
Ungerechtigkeiten enthält und nicht ohne tendenziöse
Färbung vorgetragen wird. Beide Abwege hat Barge
nicht vermieden. Ich bin feft überzeugt, daß er fie hat
vermeiden wollen, und daß ihn lediglich hiftorifcher
Forfcherdrang bei feinen Unterfuchungen und Darlegungen
geleitet hat, aber feine Anteilnahme an feinem Helden,
die unverkennbar zunimmt, je weiter feine Darfteilung
fortfchreitet, hat ihn unwillkürlich in eine Parteinahme
gegen Luther hineingetrieben, der er wiederholt recht
befremdenden Ausdruck verleiht. Die fchlimmfte Ent-
ftellung läßt er fich bei der Beurteilung von Luthers
Verhalten beim Bauernkriege zu Schulden kommen, das
er als religiöfe Adelung zynifchen Rachedienft.es charak-
terifiert, durch die Luther die von ihm vertretene Sache
der Reformation fchlimmer befleckt hätte, als es durch
einen Bund mit den Empörern hätte gefchehen können
(S. 357)- Die tendenziöfe Schreibweife aber verführt
Barge, über die gefamte lutherifche Geiftlichkeit gelegentlich
den Stab zu brechen. Was hat es in einem hifto-
rifchen Werke für Sinn, indem von den Verfuchen Pelts
und Timanns, Oflfriesland für die lutherifche Lehre zu
gewinnen, erzählt wird, zu bemerken, daß jene fo wenig
Bedenken getragen hätten die Staatsgewalt gegen ihre
Widerfacher mobil zu machen, ,als es die lutherifche
Geiftlichkeit in ähnlichen Situationen je getan hätte'?
(S. 409) — ganz abgefehen davon, daß der Beweis für
diefe umfaffende Verunglimpfung fich fchwerlich erbringen
laffen dürfte.

Wenn nun aber der Verfaffer derartig gewagte Behauptungen
aufftellt und an zentralen Punkten Luther
derartig verkennt, fo macht einen das gegen fein Buch
überhaupt mißtrauifch und, fo fehr man den Fleiß in der
Auffindung neuer Nachrichten über Karlftadt bewundert
und für die Erfchließung bisher unbekannter Ouellen
dankbar ift, man möchte überall gerne nachprüfen können,
um zu dem Urteil Barges fichere Stellung zu nehmen.
Da eine umfaffende Nachprüfung aber fchlechterdings
unmöglich ift und über die Aufgaben einer einfachen

Anzeige hinausführt, fo verfährt man mit feiner Kritik
äußert zurückhaltend und befinnt fich lange, ehe man ein
Urteil abzugeben wagt.

Inzwifchen ift mir die Arbeit durch das Buch Karl
Müllers: Luther und Karlftadt, Stücke aus ihren gegen-
feitigen Verhältnis unterfucht (Tübingen J. C. B. Mohr,
1907) bedeutend erleichtert worden. Hier wird der Weg
befchritten, auf dem allein man über die von Barge neu
angeregten Fragen ein ficheres Urteil gewinnen und
feftftellen kann, ob die evangelifche Kirchengefchichts-
Forfchung Karlftadt bisher wirklich bitteres Unrecht
getan hat, und ob es nur die Folge einfeitiger Lutherverehrung
gewefen ift, wenn Karlftadts Bedeutung verkannt
ift. Müller läßt alles Subjektive zunächft möglichft
bei Seite und fucht durch forgfältige Analyfe der Quellen
erft einmal,das Elementare der Tatfachen' feftzuftellen, um
damit einen ficheren Grund zu gewinnen. Auf Barge hat
fein Buch allerdings offenbar gar keinen Eindruck gemacht.
Er wirft ihm Janffenfche Methode vor und behauptet,
es ,wimmele von Entftellungen des Tatbeftandes und
Ungenauigkeiten' (Monatshefte der Comenius-Gefellfch.
1908 S. 85 Anm. 1). Dennoch kann ich nicht umhin, zu
bekennen, dass Müllers Ausführungen von der Einfeitig-
keit Barges in der Behandlung der Quellen mich überzeugt
haben. Selbft in dem in der eben zitierten Anmerkung
ausdrücklich benannten Punkte kann ich Barge
gegen Müller nicht Recht geben. Daß Karlftadt Hoftien
hat zu Boden fallen laffen und die Umftehenden aufgefordert
hat, fie nur liegen zu laffen, entfpricht doch durchaus
den Tatfachen (Barge, Karlftadt I S. 361). Und wenn
daraufhin Müller folgert, daß des Kurfürften Anordnung,
es folle mit dem Sakrament, d. h. mit den heiligen Stoffen
forthin aufs forgfältigfte umgegangen werden, durch jenen
Vorfall veranlaßt fei, fo trifft er damit meiner Anficht
nach unbedingt das Richtige. Daß Karlftadt die Hoftien
mutwillig hingeworfen hat, wird keiner behaupten, felbft
wenn die bezügliche Äußerung in feiner Schrift ,Von
beiden Geftalten' nicht vorläge. Das wäre ja ein direktes
Sakrileg gewefen. Aber fchon, daß Karlftadt zufällig
hinuntergefallene Hoftien wenig beachtete, ausdrücklich
aufforderte, fie liegen zu laffen und nur ermahnte nicht
darauf zu treten, mußte bei denen, die noch am Alten
fefthielten, Anftoß erregen, und folchem vorzubeugen
war doch gerade ein Zweck der kurfürftlichen Verordnung.
Müller hatte aber gewiß keine Veranlaffung, indem er
den Zufammenhang feftftellte, auf den allein es ihm hier
ankam, Karlftadts Verhalten gegen Mißverltändniffe zu
fichern, zumal er annehmen durfte, daß jeder Lefer feines
Buches Barges Buch vorher gelefen haben und dann von
daher über die näheren Umftände orientiert fein würde.

Wenn Müllers Ausführungen naturgemäß auch auf
den I. Band des Bargefchen Werkes noch zurückgreifen,
fo berückfichtigen fie doch vor allem die erfte Hälfte
des vorliegenden Bandes, indem fie bis zu Karlftadts
Flucht aus Sachfen (1528) reichen. Ich müßte ein Referat
über Müllers Buch liefern, wollte auch ich auf jene Jahre
in Karlftadts Leben noch näher eingehen. Ich wende
mich deshalb feinem fpäteren Leben, feinen fpäteren
Wanderjahren und feinem Lebensabend in der Schweiz,
zu. Barge hat gerade in diefe Zeit, deren Kenntnis bisher
auf wenige Notizen fich befchränkte, manches Licht gebracht
. Von den 58 wertvollen Aktenfiücken, die dem
II. Bande (S. 525—614) beigegeben find, gehören faft die
Hälfte —faft durchweg Wiedergaben originaler Urkunden
■— in diefe Zeit. Wir wiffen doch jetzt näheres über
Karlftadts kurzen Aufenthalt in Holftein und Oftfriesland
und können uns von feiner Tätigkeit in Zürich, Altftätten
und Bafel ein klareres Bild machen. Aber auch hier leidet
j die Darfteilung unter der unabläffig hervortretenden Abficht
einer Rettung Karlftadts; man würde für eine rein
fachlich gehaltene Darfteilung dankbarer fein. Und trotz
aller Anftrengungen gelingt es Barge nicht, den Eindruck
zu verwifchen, dem auch der gewiß nicht voreingenommen