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Ausgabe:

1908 Nr. 12

Spalte:

372

Autor/Hrsg.:

Classen, Walther F.

Titel/Untertitel:

Suchen wir einen neuen Gott? 1908

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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37i

Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 12.

372

wehren, die ja von der brennenden Frage ausgeht: ,Wie
gewinne ich einen folchen Sinn meines individuellen j
Lebens, der durch den Tod nicht aufgehoben wird?'
Dadurch entfleht ein Schwanken und eine Unbeftimmt-
heit der Ausdrucksweife, wobei übrigens meift die in- j
dividualiftifche Lebensauffaffung triumphiert. Denn fie hat j
Tolftoi als ureignen Erfahrungsbefitz in harten Kämpfen
fich errungen, während er jene pantheiftifche Weltan-
fchauung nur übernommen hat (S. 87 f.). Die kulturfeindliche
Richtung feines fchwärmerifchen Glaubens an eine
herrliche Zukunft der Menfchheit wird erklärt ,aus feinem
nationalen Milieu, in dem die Kulturflucht eine alte
Tradition ift, und das in feiner Erftarrung auch kaum j
Lichtblicke bietet, aus denen der Glaube an den Kultur-
fortfchritt erwachten könnte' (S. 118 f.). Ganz anders die j
,fchenkende Tugend', die Nietzfches Zarathuftra eigen |
fein foll, eine ,gefunde edle Selbftfucht', freilich in Wahr- I
heit kalt, hart und ftolz genug. ,Wül man wiffen, was
fchenkende Tugend ift, fo lefe man neben dem Kapitel !
Zarathuftras von der „fchenkenden Tugend" das drei- !
zehnte Kapitel im erften Korintherbriefe des Paulus!'
(S. 174b) Zur Beurteilung der letzten Gedanken Nietzfches J
ift es nach des Verf. Anficht (ehr wichtig, Nietzfches
prophetifche Konzeption des Übermenfchen von der
philofophifchen Darfteilung des Naturmenfchen deutlich [
zu unterfcheiden. Im Zarathuftra fah Nietzfche einft ein j
Übermenfchenideal, das noch niemals dagewefen ift; jetzt
begnügt er fich mit einem Menfchentypus, der oft genug
fchon dagewefen ift. Angefichts diefer Verwandlung des |
Übermenfchen in den Naturmenfchen erfcheint die Behauptung
eines Nietzfcheapoftels völlig unberechtigt, daß
er klare und fefte Grenzen gefleckt hätte gegen jeden |
Mißbrauch feiner neuen Ideen. Er hat ,die Inftinkte
heilig gefprochen. Schlimmeres kann er gar nicht tun,
denn damit hat er fie ja nur entfeffelt; nicht geheiligt, S
fondern ihre Heiligung für überflüffig erklärt' (S. 199).
So vollenden diefe ,modernen Propheten' die Selbftzer-
fetzung der modernen Kultur. Sie find ,Bußprediger in
der Wüfte, mit der Wurffchaufel in der Hand, aber das
erlöfende Evangelium haben fie nicht' (S. 228 f.).

Das Buch, von deffen Inhalt hier nur einzelne charak-
teriftifche Proben gegeben werden konnten, zeigt eingehende
Vertrautheit mit den betreffenden Denkern und
gibt eine anregende, zum Teil treffende Kritik derfelben. !
Daß der mit dem Gegenftand vertraute Lefer da und
dort ein Fragezeichen machen oder auch einen wichtigeren
Punkt vermiffen wird, liegt in der Natur des umfaffenden
Inhaltes. Daß z.B. Eduard von Hartmann die.Gefinnungs-
ethik' fo gut wie gar nicht kannte (S. 42), läßt fich angefichts
feiner die ethifchen Standpunkte fo vorzüglich
charakterifierenden Phänomenologie des fittlichen Be-
wußtfeins' doch kaum behaupten. In der Kritik der Hart-
mannfchen Luft- und Unluftbilanz wird man vielleicht
den deutlichen Hinweis auf die ein folches Rechenexempel
unmöglich machende qualitative Verfchiedenheit der
Gefühle vermiffen, bei Tolftoi eine etwas eingehendere
Berückfichtigung des doch recht fchwierigen Problems
des Krieges (vgl. befonders feine während des ruffifch-
japanifchen Krieges gefchriebene flammende Schrift
,Befinnet Euch'), bei Nietzfche die Betonung des darwini-
ftifchen Einfchlages, der im ,Recht des Stärkeren' zur
Geltung kommt. Alles in allem aber hat der Verf. diefen
erften Teil feines Programmes in anfprechender und fachkundiger
Weife durchgeführt.

Heidelberg. Th. Elfenhans.

Randlinger, Präf. Stephan, Die Feindesliebe nach dem
natürlichen und politiven Sittengefetz. Eine hiftorifch-
ethifche Studie. Preisgekrönte Schrift. Paderborn,
F. Schöningh 1905. (X, 168 S.) gr. 8° M. 3.40

Diefe Schrift ift urfprünglich eine Preisarbeit ge-
wefen, die von der theologifchen Fakultät zu München

1901 gekrönt wurde. Nur im Eingange merkt man etwas
davon, daß der Verf. ein ihm geftelltes, alfo auch ein
formal für ihn begrenztes Thema vor fich hatte. Sonft
ift die Schrift eine durchaus reif gewordene Studie. Sie
zerfällt in zwei Hauptteile: I. ,Die Feindesliebe nach
dem natürlichen Sittengefetz' mit zwei Abfchnitten,
I. einem, der die .natürliche Feindesliebe in ihrer ge-
fchichtlichen Entwicklung', und 2. einem, der die .Feindesliebe
nach dem natürlichen Sittengefetz in ihrer fpeku-
lativen Wertung' behandelt. In der Gefchichte greift
R. freilich nur in die Antike; von der Feindesliebe beim
Buddha handelt ein .Anhang'. Die .fpekulative Wertung'
leitet die Feindesliebe in beftimmter Begrenzung aus
dem Wefen der menfchlichen vernünftigen Selbfterfaffung
ab. Teil II ,Die Feindesliebe nach dem pofitiven Sittengefetz
' behandelt zuerft die .Offenbarung' bezüglich ihrer
in einer Unterfcheidung des alten und neuen Teftaments
nach dem Begriff von ,Stadien'. Der zweite Abfchnitt
trägt dann die Überfchrift: .Patriftifche Begründung der
chriftlichen Feindesliebe. Ihre fefte fyftematifche Formulierung
durch den hl. Thomas von Aquino'. Über
die Lehre des Aquinaten geht der Verf. nicht hinaus:
fie ift eben der Schlußpunkt, von dem ab fachlich alles
klar ift, wenigftens für das kirchliche Urteil. Verf. ift
im Sinne feiner Kirche nur korrekt und darüber nicht
zu fchelten. Nicht nur das hiftorifche Detail ift mannigfach
lehrreich, fondern auch das eigene theologifche Urteil
des Verfs wohltuend verftändig, vielmehr einfichtig.
Ein evangelifcher Theolog würde das Problem ja anders
anfaffen; ich felbft laffe fchon die Unterfcheidung eines
natürlichen' und ,pofitiven' Sittengefetzes, felbft wenn
letzteres in der Sache nur wie die innere Vollendung
und Vertiefung des erfteren durch Erfchließung der
reinften, geiftigften Motive und edelften, heroenhaften
Formen gefaßt wird, nicht gelten. Aber mir ift nicht
unwichtig zu konftatieren, daß ich inhaltlich gegen
R.s Faffung der Feindesliebe im Grunde nichts einzuwenden
habe. Sobald man die Idee und die konkrete
Situation der Anwendung des fittlichen Gedankens unter-
fcheidet, kann ich mich faft völlig mit ihm verftändigen.

Halle a. S. F. Kattenbufch.

(Mafien, Walther F., Suchen wir einen neuen Gott? (Lebensfragen
. 22.) Tübingen, J. C. B. Mohr 1907. (III, 51 S.)
gr. 8° M. — 80

Ein feines eigenartiges Büchlein. In der Geftalt eines
Briefwechfels zwifchen einem jungen fozialdemokratifchen
Schloffer und dem .ftudierten' Leiter eines Lehrlingsvereins
bringt es eine Auseinanderfetzung zwifchen moderner
Welt- und Lebensanfchauung und einem neu gefaßten
chriftlichen Glauben. Von der Höhenlage kann man fich
ungefähr einen Begriff bilden, wenn ich bloß herausgreife,
daß der materialiftifchen Sozialdemokratie gegenüber eine
ftärkere Betonung des Unfterblichkeitsglaubens gefordert
wird. Neben guten und klugen apologetifchen Gedanken
wirft das Schriftchen noch manchen Blick ab in den
Geifteszuftand geweckter großftädtifcher Arbeiterjugend
und in die große, dankbare Aufgabe, ihr mit ehrlichem
j treuem Bemühen nachzugehen und zu helfen. Daß hier
1 ein anfchauliches und intereffantes Zeugnis aus der fog.

Hamburger Jugendarbeit vorliegt, braucht ja nicht be-
I fonders gefagt zu werden.

Heidelberg. F. Niebergall.

Bibliographie

von Lic. theol. Paul Pape in Berlin.
iCcutfcbc Literatur.

Teich, C, Inlroduclio generalis in scripturam sacram. Regensburg, F.
Pultet 1908. (XVI, 462 S. m. 1 Bildnis.) gr. 8° M. 4.50; geb. M. 5.50

König, Das Teftament d. Königs David fLReg. 2, 1—9;. Progr. Meldorf
1908. (7 S.) 40